Das ist nicht Tlacatls Kampf und jede Sekunde macht es deutlicher, dass es immer schwerer wird, an seinem Prinzip, dass seinen Gefährten nichts zustoßen soll, festzuhalten. Er hält die Wachen noch ohne körperliche Gewalt ab, doch Mirrasshi scheint von dem Kampf Tlacatls nichts mitzubekommen oder es nicht mitbekommen zu wollen. Sie hat seine Worte, die er immer wieder zu den Opferungen äußert, gehört, aber beschlossen ihren Sinn und ihren Inhalt bewusst zu überhören. Der einst grimmige Krieger, der zu einem Tlacatl geworden ist, ist nicht blind und nicht taub für die Ereignisse in seinem Rücken und so steckt er in einem Zwiespalt, der es ihm sehr schwer macht, eine Entscheidung zu treffen.
Des kupferhäutigen Mannes Gedanken sind marternd, denn er wird zu einer Entscheidung gezwungen. Zu einer Entscheidung zwischen seinen Prinzipien. Gibt es sowas wie eine Hierarchie von Prinzipien? Tlacatl hat selbst gelernt mit Stein zu bauen, und so beginnt er, sich sein Problem wie eine Pyramide, wie jene, auf der sie stehen, vorzustellen. Je höher die Priorität eines Prinzips ist, desto enger ist die Stufe gefasst. Je weniger Diskussion, desto weniger Zweifel will das Prinzip zulassen. Was ist die Pyramidenspitze in Tlacatls Denken? Seine Loyalität seinen Gefährten gegenüber, welche noch frisch und verwundbar ist, oder doch die als so wichtig empfundene Erkenntnis, dass man niemanden seines Volkes oder im Ganzen denkende und fühlende Wesen, und sein sie fehlgeleitet und sein sie nur eine Erinnerung an ihre Wirklichkeit, opfern darf? Wenn er sich jetzt umdreht, gibt er den Jaguarkriegern die Möglichkeit aufzuschließen und sie zu bedrohen, wenn er sich nicht umdreht und Mirrasshi nicht aufhält, macht Tlacatl sich jener Tat schuldig, die er so tief verabscheut, die er so tief fürchtet. Wie vielen Opferungen ist er nun entflohen, nur um jetzt selbst ein ausführender Teil einer zu sein? Nein, das darf nicht sein. Seine Wege müssen zu verbinden sein.
Seine Gedanken rasen. Wie soll er Loyalität seinen Gefährten gegenüber zeigen, wenn sie seinen Gefühlen und seinen Worten gegenüber nicht auch Loyalität gegenüber zeigen? Pflicht und Loyalität dürfen niemals einseitig sein und doch spürt Tlacatl seine Pflicht. Er wird seine Gefährten vor den Jaguarkriegern beschützen, auch wenn er dafür sein Leben opfern muss...
...doch er wird nicht zulassen, dass Mirrasshi den Stadtherrn rituell opfert. Wortlos dreht Tlacatl sich um. Mirrasshi hat einen furchtbaren Blutzoll für ihre Verblendung gefordert, und vielleicht wird Tlacatls Entscheidung, die Jaguarkrieger nicht mehr aufzuhalten, auch unter ihnen einen hohen Blutzoll fordern. Aber er erträgt es nicht, genau das zu dulden, was er so lebhaft zu verhindern versucht, nur weil er einer Person versprochen hat, sie zu schützen. Ja, Tlacatl hat nur den Schutz versprochen, keine blinde Gefolgschaft. Er hört Xiuhcoatls Worte, während er sie entschlossen dem Altar nähert. Tlacatl bekommt eine Gänsehaut. Der vom Wahn Gepackte ist ihm in diesem Moment näher als je zuvor. Tlacatls Entschlossenheit steigt. Mit dem Satz eines Pumas springt er auf den Altar und steigt auf der anderen Seite wieder mit einem Satz herunter, stellt sich direkt vor Mirrasshis ausgestreckten Arm. Wieder muss er verhindern, dass Mirrasshi Blut vergießt. Er weiß, dass er diesmal nur schwer verhindern kann. Wenn er sich noch näher bewegt, wird sie ihm wohl einfach das Messer ins Herz rammen. Wie kann er es verhindern? Er muss zumindest verhindern, dass sie ihn auf dem Altar ihrem falschen Götzen, ihrem eigenen Zorn, den sie verblendet Tezca nennt, opfert. Vielleicht kann er sie ablenken oder entwaffnen. Er muss es versuchen. Er muss irgendwie schneller als die kleine Wildhalblingin sein. Es gibt kein zurück, er muss die Opferung verhindern.
Entschlossen versucht Tlacatl den Arm Mirrasshis zu greifen und sie an sich ranzuziehen. Ein kurzes Ziehen, dann greift Tlacatl über und versucht ihr das Handgelenk mit kurzem, harten Griff zu verdrehen und ihr so den Dolch zu entreißen. Zwar hat der Stadtherr versucht, auch zu opfern, aber Tlacatl will Opfer jeder Art verhindern. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben. Entschlossen und wortlos greift er zu
[1].