15:45
Gehetzt schaute sich Leofe um. Die mit Kisten- und Sackstapeln vom Rest des Lagerraumes abgetrennte Verkaufshalle befand sich in der Nord-Ost Ecke des Gebäudes. Jeweils an der Nordwand und der Ostwand war genug Platz, um sich zwischen Wand und Warenstapeln durch zu quetschen.
Wohin sollte sie nur fliehen? Die Stadtwache kam durch den Hintereingang herein gestürmt, doch der Vordereingang war bestimmt nicht unbewacht.
Die Elfe entschloß sich nach Osten zu rennen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Haupteingang zu bringen.
Dabei wurde sie von einer der Wachen ins Visier genommen. Aus dem Augenwinkel sah sie dass Jared nach Norden floh, doch nun war es zu spät die Richtung zu wechseln. Das "Stehenbleiben oder ich schieße" der Stadtwachen ignorierte sie. Mit dem Rücken zur Wand quetschte sie sich durch den engen Spalt. Schon wollte sie aufatmen, als ein Dolch ihr mit voller Wucht seitlich zwischen die Rippen fuhr. Ein magischer Dolch, denn er zog sich von allein wieder heraus, um in die Hand seines Besitzers zu fliegen.
Dann war Leofe hindurch. Eine Hand auf die Wunde gepresst – für mehr war keine Zeit – folgte sie panisch einigen der anderen Flüchtenden, die eine Leiter empor kletterten.
"Hoffentlich führt die Leiter aufs Dach und damit ins Freie!" dachte die Elfe bei sich, als sie – einhändig – die Sprossen hochhetzte.
Es war erstaunlich, wieviele Gedanken Jared in dem kurzen Schreckensmoment durch den Kopf gingen.
In der Falle. Umzingelt. Es gibt kein Entrinnen. Man wird mich verhaften. In den Kerker schmeißen. Ich bin noch nie verhaften worden. Ich war immer zu schlau. Zu vorsichtig. Zu schnell. Ein Schatten unter Schatten. Da kann doch nicht sein, dass es mich ausgerechnet jetzt erwischt, wo ich gänzlich unschuldig zwischen die Fronten geraten bin, wo ich selbst überhaupt nichts unrechtes getan habe – nicht einmal etwas eingekauft habe ich hier, trotz aller Versuchung! Hätte Leofe sich nur schneller entschieden! Wie lange konnte es denn dauern, sich für ein neues Paar Stiefel zu entscheiden?! Aber natürlich würde sie ihm die Schuld geben, das war klar wie Kloßbrühe...Dann endlich setzte das Denken aus und der Fluchtreflex ein. Das Trampeln vieler Paar Stiefel näherte sich aus dem kurzen Flur im Nordosten. Jared drückte sich an die Nordwand, die ihm – obwohl näher der Gefahr – sicherer schien, da sie vom Flur aus nicht einsehbar war. Leofe hinter sich wähnend, quetschte er sich durch den Spalt zwischen der Wand und einigen Mehlsäcken hindurch.
Jared befand sich nun im eigentlichen Lagerhaus, das aussah, wie man sich Lagerhäuser so vorstellte: bis unter die Deckenbalken vollgestellt mit Kisten, Regalen, Säcken und Fässern. Was er nicht bedacht hatte: sein Fluchtweg hatte ihn in die Nähe des Vordereingangs geführt, aus dessen Richtung Schritte und Rufe ertönten. Panisch wandte er sich zu Leofe um – doch Leofe war nicht da.
Wenn sie schlau ist, ist sie in die andere Richtung geflohen. Hoffentlich passiert ihr nichts. Nein, sie ist schlau. Schlauer als ich, wie mir scheint. Um mich selbst sollte ich mir die Sorgen machen...Von diesen Gedanken beflügelt, rannte Jared an der "Wand" der Verkaufshalle entlang Richtung Südosten. Noch hatte ihn niemand gesehen. Noch hatte er eine Chance. Deckung gab es ja genug. Doch die Schritte kamen näher. Von drei Seiten.
* * *
Die Leiter welche Leofe erklomm führte zum Dachboden des Gebäudes. Einige der voraus Fliehenden hatten bereits an einer Stelle die Schindeln aus dem Dach gestoßen. Vor Leofe kletterte gerade ein hagerer Mann mit sonnengegerbter Haut aus dem entstandenen Loch.
Die Elfe hechtete auf das Loch zu, so schnell es ihre verletzte Seite zuließ, und kletterte aufs Dach des Hauses.
Immer Deckung suchend rannte Leofe leichtfüßig über das Dach. Auf den umliegenden Häusern waren Armbrustschützen postiert, doch die Bogenschützin erkannte, wo sich ein toter WInkel befinden musste, und eilte geduckt weiter.
Am Rand des Dachs angekommen sprang Leofe beherzt auf die Gasse hinab. Die Landung war unsanfter als erwartet. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre verletzte Seite, so dass sie zu Boden fiel und sich mit verzerrtem Gesicht die Wunde hielt, die nun wieder blutete.
Leise wimmernd presste sich die Elfe an die Wand hinter ihr, welches die Ostwand des Lagerhauses war.
"Nun nicht verzagen! Du bist draußen und keiner hat dich gesehen - nun nur noch weg hier und die Unbeteiligte geben", dachte Leofe, als sie sich die Gasse entlang zwang.
Durch das Lagerhaus hallten Schreie, Schritte, Waffengeklirr und die wiederholten Aufforderung, sich zu ergeben, wider. Ein Blick über die Schulter zeigte Jared, dass einige sich tatsächlich ergaben. Er rannte weiter.
Da fiel plötzlich ein Schatten vor ihm auf den Boden: ein Schatten mit erhobenem Arm, der niedersauste. Jared duckte sich im Reflex und spürte noch den Lufthauch des Hiebs auf seiner Kopfhaut. Ein zweiter Stadtgardist, dieser gar mit Zweihänder, verfehlte ihn meilenweit, und nahm fluchend die Verfolgung aufnahm. Ein dritter sprang ihn von der Seite an, wo er hinter einem großen Fass gelauert hatte, und umklammerte ihn mit beiden Armen.
"Ergib dich!" befahl er Jared, wobei er ihm einen gar fürchterlichen Zwiebelodem ins Gesicht blies.
"Wenn dir dein Leben lieb ist."Doch war er kaum mit seiner Drohung am Ende, da hatte Jared sich schon seinem Griff entwunden – nicht einen Moment zu früh, denn da war auch schon der Kollege mit dem Zweihänder heran. Abermals zischte die Waffe über seinen Kopf hinweg.
Er wird besser, dachte Jared, und nahm die Beine wieder in die Hand.
Ramar stemmte die Arme in die Hüfte. Aber er musste wohl einsehen das er hier nicht weiterkam.
"Ich werde hierbleiben!"Ramar ging etwas zur Seite oder zurück um dem Armbrustschützen nicht die freie Schussbahn zu verstellen.
"Du da oben, wie lange ist diese Aktion schon geplant?" rief er dem Armbrustschützen zu.
[..]
Ramars Blick fiel auf das Lagerhaus. Das Lagerhaus war gut gefüllt mit Kisten, Säcken und Fässern. Teils in Regalen, teils frei gestapelt. Die Stadtwache waren dabei vorzustürmen und zahlreiche Leute flohen vor ihnen.
Nanu, was macht denn Jared da drin? Ramar hatte Jared erblickt, der auch auf der Flucht war.
Du hast doch Deine Griffel hoffentlich nicht in irgendwelchen schmutzigen Dinge verstrickt? Jared floh am Rand einer Regalwand vorbei. Einige Stadtwachen, die Jared übersehen hatte, schlugen nach ihm, doch verfehlten sie ihn deutlich. Doch plötzlich wurde Jared von einer dritten Wache festgehalten. Nur mit Mühe konnte er die Wache abschütteln und rannte weiter tiefer ins Lagerhaus. Doch die Wache mit dem Zweihänder ließ nicht ab und verfolgte ihn weiter.
* * *
Doch der Armbrustschütze hatte keine Zeit zu antworten, selbst wenn er gewollt hätte: zusammen mit seinen Kollegen musste er eine kleine Gruppe aufhalten, die aus dem Lagerhaus zu fliehen versuchte. Die vier verschreckt wirkenden Gestalten ergaben sich ohne Gegenwehr. Drei Dolche, eine Schleuder und ein Kurzschwert landeten auf dem Boden, als sie der Aufforderung, ihre Waffen niederzustrecken, nachkamen.
Danach dauerte es nicht mehr lange, bis die Aktion beendet war. Gut zwanzig Leute, mit Ausnahme eines Halblings alles Menschen, waren verhaftet. Die meisten davon standen stumm und verstört da; vier oder fünf schauten trotzig; zwei versuchten ein letztes Mal zu entkommen, wurden aber gefasst. Ein Toter und drei Verwundete wurden herbeigetragen; zwei Wachen waren ebenfalls verletzt, konnten aber noch gehen.
Der ältere Stadtgardist, mit dem Ramar vorhin schon gesprochen hatte, wandte sich wieder an ihn.
"Dann zeigt mal, was Ihr könnt." Er nickte in Richtung eines der Verhafteten. Ramar sah sofort, dass dieser die schwerste Verletzung davongetragen hatte: eine Schwertwunde im Unterleib.
Ramar nickte.
"Wie kam es denn zu dieser Wunde?"Er trat vor den schwerverletzten Gefangenen.
"So, dann schauen wir mal, dass Du an dieser Wunde nicht stirbst. Kord, schau auf diesen Gefangenen herab, er ist heute ein Verlierer, jedoch ist sein Kampf noch nicht zuende, und er soll auch morgen noch kraftvoll kämpfen können. Darum bitte ich Dich um die Gnade der Genesung."Roter feiner Nebel erhob sich aus dem Boden und umhüllte den Gefangenen, unzählige rote Nebelfetzen hängten sich an die Schwertwunde und schon bald konnte man erkennen, wie sich aus dem Nebel neues Fleisch bildete. Ramar atmete auf. Die Wunde war noch nicht geschlossen, aber der Patient war schon überm Berg und würde nicht an dieser Bauchwunde sterben.
Ramar hob sein Heiliges Symbol über die Wunde und murmelte ein Gebet an Kord. Erneute füllte sich die Wunde mit rotem Nebel und nur einen Augenblick später löste sich der Nebel auf und die Wunde war mit frischer Haut überzogen.
Zart strich Ramar über die frisch entstandene Haut. Er war zufrieden.
"Danke, Kord. Die Rabenkönigin muss wohl noch ein bisschen warten." Ramar blickte sich um: Die Menschenmege hatte ihn atemlos beobachtet. Ramar richtete sich auf und ein Jubelsturm brandete ihm eintgegen. Ramar lächelte und ging zu den leicht Verwundeten hinüber. Auch hier konnte er mit wenigen Gebeten eine Menge erreichen und einen Augenblick später waren alle Wunden unter dem roten Nebel verschwunden.
"Ihr könnt also tatsächlich heilen", unterbrach der Stadtgardist Ramars Fantasievorstellung. (Die wenigen anwesenden Menschen jubelten nicht etwa, sondern standen mit hängenden Köpfen und verschlossenen Mienen herum -- so es sich um Festgenommene handelte -- oder waren eifrig damit beschäftigt, diese zusammenzutreiben, nach versteckten Waffen abzusuchen, und zu beaufsichtigen. Der Jubel, den Ramar in seinem Kopf hörte, musste entweder himmlischer Jubel oder sein eigener sein.)
Ramar wandte sich an den älteren der Gardisten, dessen Bemerkung ignorierend.
"Ich denke die Jungs sind alle soweit geheilt, dass die Wunden nicht mehr ihre größte Sorge sind. Sollten sich aber aber noch Komplikationen ergeben, sendet eine Nachricht an die Wirtin des Silbernen Einhorns.""Ihr scheint tatsächlich noch nichts von mir gehört zu haben? Ich bin der Heiler einer Gruppe, die die Koboldgefahr rund um Winterhafen beseitigen konnte. Die in der Festung Shadowfell einen Orcus-Kult davon abgehalten hat durch ein magisches Portal eine Untoteninvasionsarmee zu beschwören. Wir haben zahlreiche Bauern aus der Umgebung befreit und sie vor dem grausigen Schicksal bewahrt, als Sklaven in die Unterwelt verkauft zu werden.
Dass ihr noch nichts davon gehört habt, wie wir eine Sphynx den Klauen des Bösen entrissen haben und das kleine Städtchen Crockport, keine 2 Wochen Fußreise von hier, vor der Herrschaft von Teufeln bewahrt haben, ist mir schon klar, ich denke diese Nachrichten müssen sich hierher noch verbreiten. Aktuell sind wir auf der Suche nach dem Ioun-Kleriker Jeremia Clearwater."Der Gardist zuckte mit den Achseln.
"Gerüchte, dass in Winterhafen Seltsames vorgefallen ist, gab's hier schon. Der Fürst-Kommandant wird mehr darüber wissen. Ich bin nur für das Wohl der Bürger in Fallcrest zuständig. Hauptmann Larsson der Name. Verzeiht, dass ich Euch vorhin so unfreundlich behandelt habe, aber bei diesem Schurkengesindel hier muss man mit allem rechnen. Sie würden nicht davor zurückschrecken, sich als Priester auszugeben, gar mit gestohlenem heiligen Symbol.
Wo wir gerade von gestohlen sprechen und Ihr nach einem Jeremia Clearwater fragt: der kam vor anderthalb Monaten auf die Wache und wollte einen Diebstahl anzeigen. Er verlangte, dass ich das Haus eines angesehenen Bürgers dieser Stadt von oben bis unten durchsuchen lasse. Da er jedoch keinerlei Beweise hatte, konnte ich ihm nicht helfen. Klingt das nach dem Mann, den Ihr sucht?"Ramar zuckte mit den Schultern.
"Hochwürden Dirina Mornbrow, Hohepriesterin des Erathis, hat uns diesen Priester empfohlen. Ich kenne ihn nicht persönlich. Er ist wohl ein Wanderpriester, der ständig unterwegs ist. Ich glaube nicht, dass es soviele Jeremia Clearwater gibt, die Ioun-Priester sind und vor anderthalb Monaten in der Stadt waren, also wird er wohl derjenige sein, der bei Euch die Anzeige aufgeben wollte. Was vermisst denn der Herr und was tat er, nachdem ihr seine Anzeige abgelehnt habt? Könnt ihr mir den Namen des angesehenen Bürger geben?"Hauptmann Larsson führte Ramar ein wenig von den anderen Gardisten und den Verhafteten fort, und sagte dann leise, damit niemand mithören konnte:
"Er vermisste irgendso ein gelehrtes Buch und verdächtigte ausgerechnet den alten Nimozaran des Diebstahls. Der alte Mann mag ein wenig wirr im Kopf sein, aber er ist ein grundehrlicher Mensch. Da glaub ich eher, dass der Priester auf der Straße bestohlen wurde oder sein Buch irgendwo hat liegenlassen. Was er danach tat? Beleidigt abziehen."Ramar kratzte sich am Bart.
"Nimozaran ist mir ein Begriff. Wir benutzen sein Portal. Meine Gefährtin Lexi kennt ihn sogar näher. Magier eben. Zwei meiner Gefährten sind heute wohl schon bei ihm gewesen und nach Winterhafen gegangen. Vielleicht kommen sie ja heute abend zurück.
Hauptmann Larsson, ich bin mir sicher, dass Ihr hier noch eine Menge zu tun habt. Ich würde mich dann ins Silberne Einhorn zurückziehen. Wenn Ihr noch Fragen habt, könnt Ihr mich dort fürs erste erreichen.""Gut, und danke für Eure Hilfe." Mit einem Nicken verabschiedete sich der Hauptmann und kehrte zu seinen Leuten zurück.