"Ja", antwortete Dana äußerst knapp und gepresst, als Ichabod sie fragte, ob sie nun den Stadtrat anzusteuern gedachte. Dass er dabei sehr vorsichtig und kleinlaut vorging, bemerkte sie natürlich. Offensichtlich hatte er gemerkt, wie aufgebracht sie war, und wollte es nicht noch schlimmer machen. Er tat gut daran, denn sie war vermutlich in der Stimmung dazu, nun tatsächlich die Krallen auszufahren, sollte sie einen Grund dafür finden.
Doch dass Ichabod versuchte, die Atmosphäre etwas aufzuhellen, indem er sie mithilfe eines, zugegebenermaßen, schlechten Scherzes etwas aufzuheitern gedachte, versetzte ihrem Herz eher einen Stich als den gewünschten Effekt hervorzurufen. Da zeigte er sich, der liebevolle Ehemann, der dafür sorgen wollte, dass es ihr besser ging. So wütend sie auch war und so sehr sie Ichabod auf gewisse Weise hasste, so sehr vermisste sie auch ihre gemeinsame Zeit und seine Nähe - und dafür hasste sie sich selbst. Es... war kompliziert. Sie war sich über ihre Gefühle teils nicht im Klaren, teils verleugnete sie sie aus Stolz und Sturheit. Sie vermochte nicht zu definieren, was sie für Ichabod empfand. Seit ihrer Trennung hatte sie ein breites Spektrum an Emotionen durchlebt. Auch dies machte der sonst so selbstsicheren jungen Frau zu schaffen.
Hatte sie die Trennung tatsächlich gut verdaut, so wie Ichabods Eindruck war?
"Gut verdaut? Interessant, dass du das so siehst", erwiderte Dana immer noch hörbar gereizt, nachdem er versucht hatte, mit einem Themenwechsel zum Wetter hin schnell abzulenken - sie selbst ging nicht im Mindesten darauf ein, als hätte Ichabod ebenfalls kein Wort dazu gesagt. Sie konnte, im Gegensatz zu ihm, nicht behaupten, dass sie den Regen vermisste. In Ustalav war es nicht von Vorteil, Regen nicht zu mögen, da dieser den Bewohnern dieses Landes fast überall ein Begleiter war, aber sie mochte ihn tatsächlich nicht. Hauptsächlich aus dem Grund, weil er sie an ihren Exmann erinnerte. Beruhigend auf ihre Seele würde Niederschlag nun wirklich nicht wirken.
"Glaube nicht, dass ich herzlos bin. Unsere Trennung und die letzten Monate sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen, aber das Leben muss irgendwie weitergehen, nicht wahr? Ich habe versucht, darin trotz all dem etwas Gutes darin zu sehen."
Auch wenn Dana es nicht zugab, konnte Ichabod also davon ausgehen, dass sein Seitenhieb durchaus gesessen hatte und dass in Dana mehr vorging als sie preisgeben wollte. Vielleicht verbarg sich hinter ihrer Fassade, die Ichabod bisher Abweisung, Wut und Gereiztheit gezeigt hatte, ja etwas ganz anderes... Immerhin war sie schon immer gut darin gewesen, ihre wahren Gefühle zu verbergen.
"Mein Vater war übrigens anderer Meinung als du, als ich ohne dich bei ihm auftauchte - du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er mir in den Ohren gelegen hat, dich zu vergessen, aber natürlich konnte ich das nicht. Doch du hast ihn ja kennengelernt - er war schon immer sehr überfürsorglich, was mich betrifft", fuhr sie fort.
Dies hatte Ichabod wirklich zu spüren bekommen, denn auch wenn der alte, gewiefte Händler aus Caliphas ihrer Hochzeit nicht im Weg gestanden hatte, hatte er seinen Ex-Schwiegersohn scheinbar nie vollkommen in Herz geschlossen - bei Leuten aus Aashügel konnte man immerhin nie wissen, woran genau man war. Doch wahrscheinlich durchschaute Danas Vater sie mehr als ihr lieb war - und auch Ichabod wusste, dass es, neben ihm selbst, keinen Menschen gab, der Dana besser kannte als ihr Vater es tat.
Sie überlegte kurz, das Gesagte so stehenzulassen, und entschied sich dafür. Das Wiedersehen mit ihrem Exmann tat ihr sicherlich nicht gut. Sie wollte sich wirklich nicht darüber unterhalten, hatte sich doch eigentlich beim Antritt der Reise vorgenommen, sich komplett von Ichabod fernzuhalten, denn das Thema ihrere Trennung drohte stets, sie zu sehr aufzuwühlen. Tatsächlich war kein ein Tag, ja kaum eine Stunde, seit ihrer Trennung vergangen, in der sie nicht an ihren Exmann gedacht hatte, auch wenn sie versucht hatte, das zu verbergen und sich anderweitig - vor allem mit Wut und ihrer Arbeit als Ärztin - abzulenken. Unter "verdaut" würde wohl jeder etwas anderes sehen.
Danas Gemütslage war zurzeit eine tickende Zeitbombe, auch deswegen war sie dankbar dafür, dass Viktor Mortis zu ihr aufschloss und ihren Fokus auf ihn und das aktuelle Geschehen lenkte. Danas Blick wanderte von dem Anhänger mit dem Symbol Pharasmas, das er ihr entgegenhielt, wieder zum Gesicht des jungen Priesters zurück, bevor sie antwortete.
"Danke, dass Ihr Euch entschuldigt, doch Ihr müsst Euch nicht die die Ausübung Eures Amts rechtfertigen", antwortete Dana Viktor mit einem versöhnlichen Lächeln, zu dem sie sich wieder bereitfühlte. Auch wenn sie ihm seinen Tadel wirklich etwas übel genommen hatte und sie statt Wut nun haupsächlich trübe Stimmung ergriffen hatte, sah sie keinen Grund, dem jungen Priester gegenüber nachtragend zu sein.
"Jeder von uns verdankt dem Professor auf seine eigene Art und Weise viel und Ihr tut gut daran, sein Andenken in Ehren zu halten. Lasst Euch von diesem Weg nicht abbringen. Den Flüsternden Weg zur Strecke zu bringen, ist nicht im Sinne der Herrin, sondern auch eine äußerst persönliche Angelegenheit."
Sie pausierte kurz, um die Gedanken zu sammeln, die sie im Kopf durchgegangen war und die ihr nun auf der Zunge lagen. Am besten war es, sie auszusprechen, bevor sie dem Stadtrat gegenüberstanden.
Ihre äußerst schlechte Laune schien aber nun fast schon schlagartig von ihr abgefallen zu sein und sich durch eine gefasste Stimmung auszutausch zu haben, als sie sich, wortreich und flüssig redend, in die Angelegenheit vertiefte. Es konnte einerseits wirklich sein, dass sie das Thema derart ablenkte, dass sie das vorherige schon fast vergessen hatte - dem war aber nicht so. Besonders Ichabod fiel auf, dass sie hinter ihrer Fassade äußerst angespannt war.
"Dennoch sollten wir wirklich in Betracht ziehen", fuhr Dana fort, "dass die Möglichkeit bestehen könnte, dass Vater Grimburrow die Gerätschaften, die der Professor beschrieb, nicht findet. Was machen wir dann? Ich fürchte, dass sie ein wichtiger Schlüssel sind, um den Mord am Professor aufzuklären. Immerhin schienen die Symbole an den Mauern Schreckenfels' auch für unseren geliebten Freund und Mentor von großer Bedeutung gewesen zu sein."
Es könnte sich wahrlich als Problem erweisen, wenn gerade diese Symbole die Lösung waren und sie nicht die Möglichkeit hatten, sie zu entziffern. Doch dies war nicht die einzige Schwierigkeit, die sich entwickeln könnte. Allein, sich Schreckenfels anzusehen, könnte sehr gefährlich werden. Auch wenn Dana selbstverständlich neugierig und aufgrund der Aussicht auf Antworten ehrgeizig war, graute sie es vor dem Gedanken, sich dem alten Gefängnis zu nähern.
"Ich bin mir übrigens sicher, dass Vater Grimburrow seine Augen vor der Gefahr verschließt. Die Geschichte von den Jugendlichen, die uns der Vater erzählte", erinnerte sie sich selbst und auch Ichabod und Viktor daran, "scheint nur zu bestätigen, dass etwas in Schreckenfels nicht mit rechten Dingen zugeht. Der Professor erwähnte Geister und Nekromanten - in Verbindung mit zwei verschwundenen oder toten Burschen und einem, der nach den scheinbar traumatischen Erlebnissen, die er dort durchlitten hat, an Apathie leidet, kann das kein Zufall sein."
Damit war es aber immer noch nicht genug.
"Zwar sind hier laut dem Vater lange keine Fremden mehr gewesen, diese wären wirklich sofort aufgefallen, aber umso mehr verhärtet sich mein bereits geäußerter Verdacht, dass Bewohner dieses Ortes, ja, vielleicht sogar sehr angesehene, mit in die Sache verwickelt sein könnten."
Sie hielt wenig von den Beteurungen des alten Mannes, dass es in Ravengro so etwas wie Nekromanten nicht gäbe, sah sie darin nur das Ausweichen des Priesters vor höchst unangenehmen Gedankengängen.
"Ich bin immer noch dafür, vorsichtig vorzugehen. Den Dienern des Tempels würde ich einen Verrat an Pharasma nicht zutrauen, alle anderen Dorfbewohner sind in meinen Augen jedoch potenzielle Mitglieder des Flüsternen Wegs. Dies mag etwas paranoid klingen, doch wir wissen wirklich nicht, ob sich die Totenbeschwörer nicht doch hier in Ravengro aufhalten, auch auch nicht, wem wir trauen können."
Dies galt in Danas Augen auch für den Stadtrat, zu dem sie gerade unterwegs waren.