In ihren Gedanken war Dana nicht an Zeit und Alter gebunden. Das, was sie sah und hörte, war teilweise sogar zwei Jahrzehnte alt, anderes war jünger – Dana vermochte es nicht auseinanderzuhalten, denn für sie war es so als würde sie die Erlebnisse in diesem Moment erneut erfahren. Dennoch waren diese, meist sonst in ihrem Unterbewusstsein schlummernden Dinge flüchtig und vielleicht nicht mehr als kurzen Emotionen, die so schnell und leise gingen wie sie gekommen waren. So hatte Dana die traumatische Erinnerung an den Tod ihrer Mutter in ihrer Kindheit wahrscheinlich im gleichen Moment auch schon wieder hinter sich gelassen, in dem diese verblasst war.
Auch wenn Dana nicht mitbekam, was um sie herum geschah, und sie sich weiterhin in der Leere befand, die ihr Verstand mit Erinnerungen und Einbildungen füllte, spürte sie unbewusst die zärtliche Berührung Ichabods auf ihrer Stirn.
Wahrscheinlich schuf Danas Unterbewusstsein so einige Assoziationen, wie es dies auch zu der Kälte des Kryptabodens, da dieser ihre Körperwärme schluckte, und zu den Gerüchen von Schlamm und Blut, die sie einatmete, getan hatte.
Eine der Erinnerungen, die nun zwischen all den anderen auftauchte, bezog sich auf einen Tag viele Jahre nachdem ihr Vater sie in seinen Armen von den Ruinen ihrer beider Vergangenheit weggetragen hatte – übrigens war dieser seit diesem Ereignis nicht mehr umhergereist, sondern hatte sich zusammen mit Dana und seinen Geschäften in Caliphas niedergelassen. Doch hatten dieser bestimmte Tag auch diese mit dem Tod ihrer Mutter zu tun, den sie nicht hatte verhindern können, denn hätte Dana als kleines Mädchen dieses traumatische Erlebnis nicht gehabt, hätte sie sich als junge Frau nicht in den Kopf gesetzt, dass ihr so etwas nicht noch einmal zulassen würde.
„Er ist auf dem Weg der Besserung“, dachte Dana erleichtert, als sie dem Jungen, der vor ihr tief und fest schlafend in seinem Krankenbett lag, sanft das Haar aus der Stirn strich und seine Temperatur fühlte. Er war noch fiebrig, denn sein Körper hatte den Kampf gegen die Krankheit noch nicht gewonnen, doch auch dank Danas fürsorglicher Pflege in den vergangenen Tagen sah alles danach aus, dass er wohl schon bald wieder auf den Beinen sein würde. Den Umständen entsprechend ging es ihm gut, bestätigte sich Danas erster Eindruck auch nach weiteren Untersuchungen, die sie aus Routine durchführte. Es tat ihr leid, das Kind aus seinem Schlummer, aus dem es trotz ihrer Berührungen bisher nicht erwacht war, wecken zu müssen, aber so würde es erheblich einfacher sein, es zu waschen.
Dieser Junge war nur einer von vielen Patienten, die Dana als Pflegerin auf einer Krankenstation der Pharasmakirche in Caliphas versorgte. Für sie war es zum Alltag geworden, nach den Kranken und Verletzten, die hier untergebracht waren, zu sehen, Bettzeug und Verbände zu wechseln, Bettpfannen zu leeren, aber auch bei Eingriffen zu assistieren oder selbst Erste Hilfe zu leisten. Es kam nicht selten vor, dass Dana darüber hinaus auch kleinere Behandlungen eigenhändig durchführte, denn Erfahrung hatte sie inzwischen genug und die Ärzte und Priester waren dankbar für jede zusätzliche helfende Hand – denn viel zu tun gab es immer.
Später an diesem Tag kam es deswegen dazu, dass Dana sich um einen jungen Mann kümmerte, der die Gefahren, die auf den Straßen der Hauptstadt Ustalavs lauerten, wohl unterschätzt und sich hatte ausrauben lassen. Schwer lädiert hatte die Bande, die ihn überfallen hatte, nicht, dennoch bedurften einige Wunden Versorgung.
Dana kam mit dem Mann ins Gespräch, während sie ihn verarztete. Er stellte ihr unter anderem Fragen zu ihrer Rolle hier auf der Krankenstation, brachte sie zum Lachen und machte ihr Komplimente. So wie er sie ansah, war jedoch offensichtlich, dass er eher von ihr angetan war als dass er sich für ihre Arbeit interessierte.
Ungeachtet dessen tat es gut, Anerkennung für das zu bekommen, was sie hier leistete.
Sie zerschlug die Hoffnungen, die sich der Mann vielleicht machte, nicht im Wind. Stattdessen schenkte ihm ein bewusst bezauberndes Lächeln – so wie sie es oft tat, wenn sie merkte, die Zügel in der Hand zu haben, denn dieses Spiel gefiel ihr. Dann widmete sie sich jedoch konzentriert dem Säubern und Vernähen einer länglichen Schnittwunde am Unterarm des Patienten. Bei den gekonnten Stichen, die sie setzte, würde vermutlich nur eine feinlinige Narbe zurückbleiben.
Auch wenn sie sich währenddessen weiter mit dem Mann unterhielt, schweiften ihre Gedanken in etwas andere Richtung ab. Es war langsam an der Zeit, eine Idee, die ihr bereits zuvor schon in den Sinn gekommen war, wieder aufzugreifen und einen etwas anderen Weg einzuschlagen als den, dem sie aktuell folgte. Sie arbeitete hier, weil sie das Bedürfnis hatte, zu helfen und etwas zu verändern. Das erfüllte sie gewiss, jedoch vertrugen sich ihr Charakter, ihr Wissensdurst und ihr Ehrgeiz nicht damit, dass sie mit ihren Aufgaben als Pflegerin auf der Stelle trat. Es gab einfach noch zu viel, was sie lernen und tun könnte, als dass sie mit dem Stand der Dinge zufrieden sein könnte.
An diesem Tag hatte Dana sich fest vorgenommen, Ärztin zu werden. Und wenn sie sich etwas fest vornahm, ließ sie in der Regel nicht locker, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie war sich sicher gewesen, einen Weg finden, und der Weg, der ihr in den Sinn gekommen war und den sie umgesetzt hatte, hatte ihr zusätzlich auch Spaß gemacht – machte ihr noch immer Spaß.
Täuschung und Manipulation waren ihre Steckenpferde und nicht einmal (na schön, das war nicht ganz richtig) hatte jemand ernsthaften Verdacht geschöpft, dass sie nicht mehr als eine Scharlatanin war, die es ausgezeichnet wusste, ihre Rolle als Ärztin zu spielen – unter anderem, weil sie zu verkaufen wusste und das nötige Wissen besaß… was ihr allerdings in ihrem aktuellen Zustand nichts nützte.
Immerhin war Ichabod an ihrer Seite, wovon sie nichts wusste, und kümmerte sich so gut um sie wie er konnte – was auf diese Art und Weise aus fachlicher, medizinischer Sicht vielleicht noch nicht ganz optimal war, denn dass Dana in ihrer dem Tode noch immer gefährlich nahen Bewusstlosigkeit auskühlte, musste um jeden Preis verhindert werden, wenn sie nun nicht doch noch in Pharasmas Reich übertreten sollte.
Aber die Umstände waren von Optimalität ohnehin denkbar weit entfernt.