Bilder flackerten auf und verschwanden – Erinnerungen, die kamen und daraufhin wieder im Schleier der Leere untergingen, in der Dana körperlos schwebte. Manche beschränkten sich lediglich auf einzelne Worte oder Sätze, die von irgendwoher zu ihr gelangten, oder auf unscharfe Ausschnitte wie ein wohlbekanntes, geliebtes Lächeln. Andere waren weniger vage, sondern sogar ziemlich konkret.
Sie spürte Kälte, es roch nach nasser Erde und Blut…
„Dana!“
Ihr Vater suchte sie. Seine Stimme brüllte verzweifelt gegen den Lärm an, der in dieser Nacht hier herrschte. Strömender Regen rauschte, aber er überdeckte nicht das aufgeregte Wiehern der Pferde, und auch nicht die Pfeile und Bolzen, die erst durch die Luft zischten und dann, je nachdem, was oder wen sie trafen, die unterschiedlichsten Töne hervorriefen. Doch zumindest dieses schreckliche Konzert hatte an Intensität verloren, nun kämpfte man hauptsächlich von Angesicht zu Angesicht.
„Dana!“
Schreie der Wut, der Anstrengung und des Schmerzes drangen von allen Seiten auf sie ein. Die Banditen hatten aus dem Hinterhalt zugeschlagen und angegriffen, als die meisten von ihnen, müde von der Reise, bereits geschlafen hatten. Es waren viele, mindestens so viele wie die Söldner, die ihre Handelskarawane begleiteten, das konnte Dana anhand der Anzahl der Stiefelpaare beurteilen, die ihr Sichtfeld kreuzten, während sie sich panisch und auf allen Vieren kriechend einen Weg zwischen den Kämpfenden und Flüchtenden hindurchbahnte.
„Dana!“
Der Boden war schlammig und aufgewühlt, sie konnte in der Dunkelheit nur schwer etwas sehen. Ihre Mutter hatte sie angewiesen, sich unter ihrem Wagen zu verstecken und dort zu bleiben, egal, was sie hören oder sehen würde, doch sie hatte es aus Angst dort nicht ausgehalten. Sie versuchte, auszumachen, woher die Stimme ihres Vaters kam, doch das war nicht leicht. Ihre Mutter hatte ihn ihrerseits suchen wollen, war in dem Chaos verschwunden und hatte Dana allein gelassen. Ziellos und verloren bewegte das Mädchen sich einfach vorwärts, denn verharren konnte sie nicht. Weinen konnte sie nicht – obwohl sie jeden Grund dafür gehabt hätte. Doch andere weinten. Männer, Frauen und Kinder.
Sie hörte sich selbst erschrocken und entsetzt aufschreien, als direkt vor ihr jemand zu Boden fiel. Tote, leere Augen eines schwer gerüsteten, unrasierten Mannes starrten sie an. Aus einem tiefen Schnitt, der sich quer über seinen Hals zog, drang Blut. Viel Blut. Panisch fand sie sich auf ihrem Hinterteil wieder und kroch nun ein Stück rückwärts durch den blutgetränkten Schlamm.
Hadvar, das war der Name des Getöteten. Dana hatte den Söldner gemocht, er hatte sie während dieser Reise schon oft zu Lachen gebracht. Derjenige, der Hadvar gefällt hatte, kümmerte sich nicht um das Mädchen zu seinen Füßen, vermutlich hatte er es auch gar nicht bemerkt.
Dann entdeckte Dana sie, ihre Mutter. Nun weinte sie doch, schließlich. Tränen, die aufstiegen, verschleierten sofort ihre Sicht. Hastig kam Dana auf ihre Beine, stolperte auf die dreck- und blutbesudelte Frau zu, die beinahe regungslos dalag, und fiel bei ihr auf die Knie.
„Dana…“ Nun war ihre Mutter es, die ihren Namen flüsterte, ohne sie dabei richtig anzusehen. Dana musste mit Schrecken mit ansehen, wie ihre Mutter schwach hustete und dabei Blut spuckte. Viel furchtbarer war jedoch der Anblick des Pfeils, der ihn der Brust der Varisianerin steckte. Der Atem ihrer Mutter ging schnell und unregelmäßig, doch Dana war sich in ihrer Verzweiflung sicher, sie retten zu können.
Ihre kindlichen Finger wollten schon nach dem Schaft des Pfeils greifen, um diesen herauszuziehen, doch eine fremde, viel größere Hand hielt sie auf. Gleichzeitig umfasste sie ein Arm, der wohl zum gleichen Besitzer der anderen Hand gehörte, und zog sie mit Bestimmtheit auf die Beine. Dana hörte sich erneut schreien und versuchte sich zu wehren, auch wenn sie der Kraft, mit der man sie zwang, mitzukommen, nichts entgegenzusetzen hatte.
„Ich bin’s“, vernahm sie die Stimme ihres Vaters dicht an ihrem Ohr. „Schnell jetzt.“
Schlagartig hörte Dana auf, um sich zu schlagen, auch wenn sie sich weiterhin sträubte, ihre Mutter zurückzulassen.
„Nein!“, schluchzte sie und versuchte, ihren Vater zur Vernunft zu bringen. Sie taumelte dem Schurken und Händler, der nun ihr Handgelenk unnachgiebig festhielt, in der anderen Hand ein Langmesser haltend, und seine Tochter mit bedachten Schritten durch das Kampfgetümmel dirigierte – und dabei immer wieder mit ihr Deckung suchte, um Gegnern möglichst auszuweichen.
„Sie lebt!... Sie lebt!...“, wiederholte Dana immer wieder, „wir müssen zurück!“, doch ihren Vater schien das Schicksal ihrer Mutter und seiner Ehefrau nicht zu interessieren.
Einige Wagen der Karawane brannten und tauchten die Szene in ein schauerliches, flackerndes Licht. Der unaufhörliche Regen ließ die Flammen zusätzlich tanzen, anstatt sie zu löschen. Auf der einen Seite brannte die unglaubliche Hitze, die die Feuer ausstrahlten, heiß auf Danas Haut, andererseits war sie durchnässt und fror – aber nicht nur deswegen zitterte sie.
Bald spürte sie Gras statt aufgewühlten Schlamm unter ihren Füßen und sie verließen die Deckung, die die Karawane ihnen bot. Ihr Vater führte sie zügig und heimlich weg, in die Dunkelheit der Nacht hinein, bis er, nachdem sie etwas Abstand gewonnen hatten, sich umschauend anhielt und seine Waffe wegsteckte.
„Shhh, ruhig jetzt“, wandte er sich in väterlich-fürsorglichem Ton an sein aufgewühltes Kind und ging in die Knie – schließlich reichte sie ihm kaum bis zur Brust –, um sie zu umarmen.
„Wir müssen ganz leise sein.“ Dana gehorchte, auch wenn sie die Zuwendung nicht zu trösten vermochte. Ihre Tränen wollten nicht versiegen, aber zumindest spürte sie sie nun ihre Wangen herunterlaufen, während sie die Umarmung noch immer schluchzend, aber das nur noch sehr gedämpft, erwiderte. Sie hatte ihren Vater noch nie so beunruhigt erlebt, wie er scheinbar in diesem Augenblick war.
Er stand auf, ohne seine Umarmung zu lösen, also hielt sie sich an ihm fest, damit er sie tragen konnte, so wie er es schon oft gemacht hatte. Nun weinte sie an seiner Schulter. Davon und davon, dass sie weiterhin versuchte, ihn flüsternd zur Umkehr zu bewegen, ließ er sich jedoch nicht von dem Weg abbringen, den er mit ihr auf dem Arm wieder eingeschlagen hatte: Fort von der verlorenen Karawane, von der der Wind noch immer schreckliche Geräusche des Kampfes und des Leids zu ihnen herüberwehte, und hinein in den angrenzenden Wald.
„Wir können Ma nicht helfen“, murmelte ihr Vater, nun hörbar außer Fassung. „Sie würde wollen, dass wir in Sicherheit sind.“ Das löste nur noch größere Verzweiflung in Dana aus.
Sie verschwanden zwischen den Bäumen. Nasses Laub und kleine Zweige kratzten an Dana, während sie über die Schulter ihres Vater hinweg beobachtete, wie die Baumstämme und Büsche mehr und mehr die sich entfernenden Feuer verdeckten.
Sie waren jedoch nicht weit gekommen, als Dana ein Knacken im Gebüsch in ihrer Nähe vernahm.
Ihr Vater hatte es offensichtlich auch gehört, denn reflexartig war eine seiner Hände schützend an Danas Kopf und er duckte sich sofort – mit Glück, denn so verfehlte eine Wurfaxt seinen eigenen Schädel und blieb mit einem stumpfen Geräusch in einem Baum stecken. Noch bevor Dana reagieren konnte, hatte ihr Vater sie hastig abgesetzt und etwas unsanft zu Boden gestoßen, um sich mit gezogenem Langmesser zwischen sie und den Angreifer zu stellen – der nun keinen Wert mehr darauf legte, unentdeckt zu bleiben, sondern sich mit einem Kampfschrei, und eine weitere Axt schwingend, auf ihren Vater stürzte.
Dana erkannte, dass es einer der Banditen war, er hatte sich so im Gesicht angemalt wie diejenigen, die sie gegen die Söldner bei der Karawane hat kämpfen sehen. Voller Angst kauerte sie sich zusammen und schloss die Augen und betete in Gedanken, während jedes Geräusch sie Zusammenzucken ließ und sie noch mehr Tränen vergoss. Als es dann still war und sie nur noch den Regen hören konnte, wagte sie es nicht, sich zu rühren.
„Dana“, hörte sie erneut ihren Namen. Da es die Stimme ihres Vaters war, gewohnt tief und liebevoll, riskierte sie einen Blick.
Er hockte sich zu ihr und strich ihr sanft über das Haar. Dana spürte, dass ihr Vater zitterte, beinahe so sehr wie sie selbst. Blut klebte an ihm, doch der strömende Regen, der spärlich einen Weg durch das Blätterdach fand, wusch zumindest die Spuren in seinem bärtigen Gesicht langsam fort.
„Es wird alles gut“, versprach er ihr mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Diese sprachen von Trauer, Angst und Sorge. Dann schob er seine Hände unter sie und hob sie wieder auf. Diesmal trug er sie wie einen Säugling in seinen Armen.
Sie schloss erneut die Augen und schmiegte sich schluchzend an seine Brust. Das Trommeln des Regens, sein Atem und das Geräusch seiner vom Waldboden gedämpften, langen Schritte begleitete sie, bis sie vor Erschöpfung einschlief.
Damit verblassten diese Bilder und Dana sank zurück in die Leere.