Tatsächlich kam Dana in diesem Moment wieder zu Bewusstsein, oder vielmehr schreckte sie aus einem furchtbaren Albtraum auf, in dem sie gefangen gewesen war, und rief dabei mit „Ichabod!“ voller Sorge und Panik den Namen ihres Exmannes aus – denn vor ihrem inneren Auge hat sie gerade noch gesehen, wie eine Horde von Wiedergängern ihn umzingelt und sich, um sich schlagend und gierig nach ihm beißend, auf ihn gestürzt hatten. Weder hatte er ihre Warnungen gehört, noch hatte sie ihm zur Hilfe eilen können.
Doch nun fand Dana sich plötzlich in einer anderen, ihr völlig fremden Umgebung wieder, sodass sie völlig desorientiert erneut der Schreck überfiel, bevor sie überhaupt richtig realisierte, dass sich die vorhergegangene Situation nur in ihrem Kopf abgespielt hatte.
Mit einem Mal saß sie kerzengerade in dem nur sehr spärlich vom einfallenden Tageslicht beleuchteten Raum, in dem sie im ersten Moment nichts als Stein, alten Staub und Spinnenweben hatte entdecken können. Dass etwas, womit sie zugedeckt worden war, hinabruschte, nahm sie nur am Rande war, denn da wurde sie sich auch schon eines stechenden Schmerzes an ihrer Schulter bewusst, der sie aufkeuchen und ihre Hand wie aus Reflex heraus an die betroffene Stelle fahren ließ. Sie spürte den ihr so vertrauten Verbandsstoff unter ihren Fingern.
Danas Herz schlug wild vor Aufregung, ihr war schwindelig und ganz und gar überrumpelt von ihrer Lage erkannte sie nun, bevor sie ihrer anscheinenden Verletzung nähere Betrachtung widmen konnte, dass sie zudem nicht allein war.
„Viktor?“, fragte sie verwundert, den jungen Pharasmiten bei sich knien zu sehen. Ihre Stimme klang belegt und rau – und, wie sie selbst merkte, ungewollt schwächlich. Irritiert huschte ihr Blick umher und sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sich in einer Krypta befinden musste. Etwa in der Krypta, die der Professor erwähnt hatte?
Dana schluckte, um gewohnte Beherrschung über ihre Stimme wiederzuerlangen, allerdings nur mit mäßigem Erfolg, wie sich daraufhin herausstellte.
„Was…?“, setzte sie an, doch unterbrach sich, bevor sie Frage, was denn passiert sei, ausformulierte.
Ihre Schulter pochte unangenehm, es roch muffig, aber auch nach Schlamm und metallisch. Blut, kein Zweifel. Ihre Kleidung klebte nass und kalt an ihrem Körper und auch ihr langes, dunkles Haar fühlte sich teils zu schwer und verklebt an.
Sie erinnerte sich. Ichabod und sie hatten den Friedhof betreten und waren von zwei Untoten in Empfang genommen worden. Nein, das war kein Traum gewesen. Sie musste das Bewusstsein verloren haben und zu Boden gestürzt sein.
Doch was war mit Ichabod? Suchend löste sie ihren Blick von Viktor, doch bei dem Priester war ihr Exmann nicht. Die noch nicht verebbte Sorge um ihn flammte wieder auf, und als ihr Blick eigentlich eher flüchtig an ihrem blut- und schlammbesudelten Körper hinabhuschte, entdeckte sie erst Ichabods Mantel auf ihrem Schoß und dann seine daliegende Gestalt neben sich in der Dunkelheit.
„Nein“, hauchte Dana, denn trotzdem Ichabod blass wie eh und je war, waren es zudem seine Regungslosigkeit und sein blutgetränktes Hemd, die sie zutiefst erschütterten. Ihre eigenen körperlichen Schmerzen rückten schlagartig in den Hintergrund, denn Angst und Trauer nahmen so viel mehr Raum ein. Auch Viktor war vergessen.
„Nein, nein, nein, nein!“, wiederholte Dana, immer verzweifelter klingend, während ihr Tränen in die Augen stiegen und sie hastig von ihrer Sitzposition auf ihre Knie berappelte, um sich über ihren Exmann beugen zu können.
Danas Hände zitterten, als sie sie sanft an Ichabods Wangen legte. Da sie in Panik damit gerechnet hatte, Abschied von ihm nehmen zu müssen, zuckte sie fast zurück, als er sich warm anfühlte, ziemlich warm sogar. Schnell fand ihre Rechte den Weg zu Ichabods Halsschlagader und ertastete einen Puls. Nun sah sie auch, dass sein Brustkorb sich hob und senkte. Er lebte – eine Erkenntnis, die Dana unglaublich erleichterte. Dennoch ließ sie das nur kurz verharren, bevor sie, ebenso eilig und die Umwelt immer noch nicht wahrnehmend, das Hemd des adligen Detektivs ein wenig aufknöpfte, um zu überprüfen, was es mit dem vielen Blut an ihm auf sich hatte. Sie fand keine offene Wunden, sondern verheilte Narben, die ihr unbekannt waren. Bedauernd zog sie die blassen Linien mit ihren Fingern nach. Mit Sicherheit stammten sie von den Klauen der Untoten, die ihnen auf dem Friedhof begegnet waren.
Dana blickte zu Viktor auf, denn dies konnte nur sein Werk sein. Sicher hatte er Pharasma um ihren heilenden Segen gebeten.
„Ich danke Euch, von ganzem Herzen“, wandte Dana sich, nun lächelnd, denn es hatte ihr wahrlich Angst gemacht, Ichabod neben sich liegen zu sehen. Sie wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht.
Wenn ihr Exmann unverletzt war, wie es schien, hatte sie sofort eine andere Erklärung für seinen derzeitigen Zustand. Dana war ein wenig säuerlich, weil sie das nicht sofort erkannt hatte, das hätte ihr einiges an Kummer erspart – aber wer würde schon bei Ichabods Anblick sofort daran denken, dass er ihn Ohnmacht gefallen sein könnte?
Schlafen, so wusste Dana, würde er hier mit Sicherheit nicht und es war nicht das erste Mal, dass sie miterlebte, dass ihm das passierte. Wahrscheinlich hatte der werte Herr Meisterdetektiv sich zu sehr aufgeregt. Da Dana Ichabod sehr gut kannte, waren seine Ohnmachtsanfälle nichts Neues für sie.
Dennoch ging sie bei ihrer Diagnose auf Nummer sicher. Auch wenn das Licht hier in der Krypta nicht sehr günstig war, sah sich Dana seine Augen an, deren Lider sie jeweils mit zwei Fingern öffnete, doch – Pharasma sei Dank – konnte sie keine Anzeichen auf Hirnschäden erkennen.
„Ihm scheint es soweit gut zu gehen“, teilte Dana Viktor mit. „Was habt Ihr mit ihm angestellt?“ Es war kein streng ausgesprochener Vorwurf. Dana war einfach daran interessiert, was geschehen war.
Fast wäre sie in Stimmung gewesen, darüber kopfschüttelnd zu lachen, doch etwas ärgerte sie sich darüber, kein Riechsalz bei sich zu haben. So müssten sie warten, bis Ichabod wieder aufwachen würde. Unter Umständen könnte das eine ganze Weile dauern, mit etwas Glück ließ sich das jedoch etwas beschleunigen.
Sie schonte ihre verletzte Schulter, denn der Schmerz war langsam wieder deutlich präsent geworden, doch sie ging nun routiniert und mit kühlem Kopf vor, während sie sich um Ichabod kümmerte. Sie winkelte seine Beine an und stellte sie auf, damit sein Kopf besser durchblutet wurde. Fürsorglich fischte Dana ihrem arachnophobischen Exmann eine Spinne aus den Haaren, bevor sie sein Hemd wieder zuknöpfte und seinen Mantel als Decke auf ihm platzierte.
Nun erst ließ sie ihren Blick wieder durch den Raum schweifen, der, wie sie noch immer vermutete, das Innere der Krypta war, in denen der Professor seine Utensilien untergebracht hatte. Dann fixierte sie wieder Viktor für einen kurzen Moment.
„Ihr könnt nicht zufällig für mehr Licht sorgen?“, fiel ihr ein. Wenn sie schon einmal hier waren, konnten sie sich auch umsehen, fand Dana - auch wenn sie das gegenüber dem jungen Priester nicht laut aussprach. Zu viel hatte es sie die Konfrontation mit dem Flüsternden Pfad beinahe nun gekostet und sie mochte sich nicht ausdenken, was passieren würde, wenn es ihnen nicht gelänge, die Pläne der Nekromanten zu vereiteln. Grabschänderei lag ihr noch immer fern, ihre Meinung hatte sie nicht geändert, doch da man sie scheinbar hierhergebracht hatte, war sie sich bisher auf keine Schuld bewusst.
„Ich bin froh, dass Ihr hier seid. Sagt, wo sind die anderen? Sind sie in Sicherheit?“
Dana versuchte sich daran, Ichabod durch beharrliches Tätscheln seiner Wange zu wecken. Die ein oder andere Träne strömte ihr noch über das Gesicht. Normalerweise war sie nicht nah am Wasser gebaut, aber gerade war sie einfach aufgewühlt. Sie wischte jede einzelne sofort mit ihrem Handrücken fort. Auch wenn sie wach war, waren ihre Verletzungen nicht zu unterschätzen. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch die Schmerzen machten ihr zu schaffen und sie fühlte sich nach ihrer Bewusstlosigkeit noch immer etwas desorientiert und außerdem auch müde. Eigentlich war sie froh darüber, sich etwas davon ablenken zu können, indem sie ihrer Arbeit nachging.