Seit fast einer Woche kampiert Anastasia schon in dieser schaurig-verlassenen Anlage. Jeden einzelnen Stein hat sie hier schon umgedreht, im Tempel ebenso wie im Pilgerhaus und am Steinkreis.
[1]Da ist zunächst das Pilgerhaus mit zehn Zimmern zu je fünf Betten, alle bezogen und ordentlich, als warteten sie auf den nächsten Gast. Zwar ist alles ein wenig verstaubt, auch Spinnweben gibt es, aber erweckt es den Anschein von nur wenigen Monaten der Verlassenheit, nicht von zweihundert Jahren. So alt ist aber der "jüngste" Bericht von "Überlebenden", soweit Tasha weiß. Wie ein verwunschenes Märchenschloss kommt es ihr hier vor.
Überhaupt das Wort 'Überlebende'. Das hat so gefährlich geklungen—auch ihre Ordensobersten sprachen von höchster Gefahr, als sie Anastasia den Auftrag erteilten—dass Tasha in den ersten Nächten sitzend und in Vollplatte geschlafen hatte, oder vielmehr war sie auf ihrer einsamen Wache ab und zu eingenickt, sodass sie am nächsten Tag völlig erschöpft und gerädert aufwachte. Nur mit Nijuns Hilfe und Gnade hatte sie wieder zu Kräften kommen können.
Doch es war nichts passiert. Hier ist einfach niemand und nichts. Keine Orakelschwestern, keine Inschriften, keine sonstigen Schriften, nicht einmal ein säuselnder Windhauch, der nachts um das Gebäude strich und einem Menschen, der zuviel Phantasie besitzt, eingeben könne, es seien Geister und überirdische Stimmen unterwegs. Tempel und Steinkreis sind ebenso verlassen wie das Pilgerhaus.
Inzwischen neigt sich ihr Proviant, trotz strenger Rationierung, dem Ende zu. Was tut sie hier? Wie lange soll sie hier noch herumsitzen und warten und hoffen, während Rowain in Gefahr ist! Denn darum kreisen ihre Gedanken unentwegt, seit sie sich hier "eingelebt" hat und sich nicht mehr darum sorgt, jeden Augenblick mit einer übernatürlichen Gefahr konfrontiert zu werden.
Er sei nicht mehr auf dieser Welt, haben ihre ehemaligen Lehrmeister behauptet. Wie kann das sein? hat sie gefragt, wo ist er denn? Wo habt Ihr ihn nur hingeschickt?
Und die Lehrmeister antworteten: "Wir haben ihn nirgendwo hingeschickt. Hat er das behauptet? Nun, dann hat er dich belogen. Das haben wir ihm ja leider nicht beibringen können, dass nur die Wahrheit ehrenvoll ist, die Lüge und die Täuschung aber Schande bringen und mit dem Laster Hand in Hand gehen."
Bei dem Wort 'Laster' verdunkelte sich der Blick des Lehrmeisters, welcher auf Anastasia ruhte, und wurde noch strenger, als er zu ihrem wieder flachen Bauch wanderte. Doch erwähnte der Meister ihr Laster heute ausnahmsweise einmal nicht, sondern fuhr ruhig fort:
"Nun, trotz seines Hangs zur Unwahrheit—oder vielleicht gerade deshalb—brauchen wir Rowain jetzt. Du musst ihn finden. Und deshalb wirst du dich auf den Weg zum Orakel von Battice machen, im Wald von Barradur, bei den Tafelbergen. Dort sollst du beten und meditieren und warten, ob die Orakelschwestern dir den Willen der Götter offenbaren. Denn wisse: das Weltengefüge wurde erschüttert. Was Rowain damit zu tun hat? Wir wissen es nicht genau. Die Götter haben uns nur eine Ahnung gegeben. Sein Verschwinden von dieser Welt... und die Erschütterung des Weltengefüges... es hängt zusammen. Wie, fragst du? Kind, woher sollen wir das wissen! Deshalb schicken wir dich ja zum Orakel. Seit zweihundert Jahren war niemand mehr dort. Es heißt, das Orakel schweigt seitdem. Es heißt, das Orakel spricht nur in Zeiten höchster Not, höchsten Aufruhrs. Also geh dorthin und bete. Bete für uns alle."
Und so ist Anastasia nun hier, verwirrt und halb wahnsinnig vor Angst um den geliebten Freund. Nicht mehr auf dieser Welt! Geschworen hat sie, ihn zu suchen und wenn sie dafür bis ans Ende der Welt reisen müsste, aber... nicht mehr auf dieser Welt! Wie kann das sein? Wie passiert so etwas? Heißt das nicht, dass er tot ist? Grundgütige Nijun, lass ihn nicht tot sein!
Immer mutloser wird sie, bis sie eines nachmittags
[2] aus ihrem angstvollen Grübeln aufgeschreckt wird. Fünf Gestalten nähern sich dem Tempel und dem Steinkreis. Erst teilen sie sich auf, dann versammeln sie sich alle im Tempel. Und gleich darauf scheint sich dort etwas zu tun. Anastasia kann von ihrem Fenster aus den Torbogen sehen. Licht scheint daraus hervor, als wären im Inneren sämtliche Fackeln an den Wänden und Kerzen in ihren Haltern entzündet worden.
Anastasia schnappt sich ihr Schwert, gürtet es ihm, hastet durch die Gänge des Pilgerhaus ins Freie und dann im Laufschritt auf den Tempel zu.