Hintergrund (Anzeigen)1. Das Versprechen
"Ich komme wieder. Ich habe es dir versprochen, Will." sprach sein Vater und strich ihm durch das Haar. "Hör mal." Roderik Draecorik ging vor seinem Sohn tief in die Knie und umarmte ihn.
"Stell dir vor, dein alter Vater fliegt auf einem eigenen Aerostaten! So wie Mr. Shanty! Mit einer Mannschaft aus tollkühnen Wolkenmaaten!" Er küsste Willbur auf die Stirn. "Aber Pap, die Jungs sagen es sei furchtbar gefährlich jenseits der Frontlinie! Sie sollen sogar die Purple Hollow abgeschoßen haben!" schluchzte der Junge. "Hast du denn gar keine Angst, Pap?"
"Ach Will... Es ist mein Job, keine Angst zu haben." zwinkerte sein Vater. Eine Träne lief ihm über die Wange. So stand er auf, drückte Willbur ein letztes Mal und stapfte schweren Herzens davon. Am Horizont wartete bereits die pferdelose Kutsche, welche ihn zum Lufthafen bringen sollte. Hinter dem Jungen näherte sich die gutmütige Damson Briggs, um ihn nach Hause zu bringen.
Die Anspielung kannte Will nur zu gut. Immerhin war es der Leitspruch des Helden AETHER SHANTY aus dem Groschenroman "Aether Shanty gegen die Männer aus Stahl", aus dem sein Vater ihn schon so oft vorgelesen hatte. Egal wie groß die Übermacht, wie aussichtslos die Lage auch immer war, Captain Shanty und die Crew der Sparrowed Ophelia hatten niemals Angst, denn das war ihr Job. Und sie überstanden dadurch jedwedes Abenteuer zwischen den Wolken. Jedes.
Roderik Draecorik fiel in der Schlacht um Hawkenbrook.
Die Männer der K.A.M. versuchten Willbur zu beruhigen. Sie erzählten, er hätte über die Hälfte seiner Crew gerettet und sei allein am Steuer gegen die Feinde angetreten, um seiner Mannschaft die Flucht zu ermöglichen. Doch die Tränen und die Trauer konnte selbst der Verdienstorden des obersten Hüters nicht stillen, den man dem Jungen in die Hand drückte während einer beklemmenden, erzwungenen Rede am Tag seiner Beerdigung.
2. Das Leben ist kein Groschenroman
Jahre vergingen.
Damson Briggs, welche sich all die Zeit liebevoll um den Jungen Waisen Willbur Draecorik kümmerte, obwohl sie noch einen eigenen Sohn und drei Töchter zu versorgen hatte, erkrankte am Wasserleiden. Das Haus seines Vaters, laut Erbspruch dem jungen Will übertragen, musste verkauft werden. Die vier Kinder und ihre Mutter zogen darauf in eine kleine Wohnung in Pinchfield. Doch bald schon waren die letzten Münzen aufgebraucht, sodass der mittlerweile fast erwachsene Willbur seinen Traum, einmal selbst den Wolkenmaaten beizutreten aufgeben musste und sich bald mit seinem quasi Bruder Ben Briggs als Tagelöhner in der Kautschukfabrik "Pikedia&Fumbles" wiederfand.
Harte Jahre kamen auf sie zu. Tagelang schufteten sie und luden Kohle und schwere Grimgassäcke in die Kessel. Des Nachts kümmerten sie sich um ihre drei kleineren, minderjährigen Schwestern, Amelie, Maria und der schwächlichen Jennefer, sowie um die gebrechliche Damson. Hunger, Leid und die Härte der Peitsche des Oberaufsehers waren fortan Willburs Alltag. Oft verzichtete er auf sein mageres Abendbrot, damit die Kleineren nicht verhungerten. Wenn die Hoffnung schwand und die kleine Jenn erneut unter Fieber litt, erzählte Willbur den Mädchen und seinem Bruder Ben oft die Geschichten, die ihm einst sein Vater lehrte. Er nahm den mittlerweile völlig vergilbten Groschenroman zur Hand und las immer wieder daraus vor.
Eines Nachts weckte ihn Amelie. Jenn schlief wieder unruhig und so lief Will schnell an ihr Bett. "Du weißt doch, du musst ihre Hände festhalten Ami!" flüsterte er. "Will... sie hat nur heute nachmittag ihre Medizin nicht mehr genommen!" schluchzte das Mädchen. Willbur hielt seine im Delierium versunkene Schwester fest, sodass sie sich nicht verletzen konnte. "Wieso denn das?"
"Sie haben uns keine Tabletten mehr gegeben, Will. Sie haben das Geld genommen und sind einfach gegangen. Ohne uns die Schachtel zu geben." wimmerte Ami. "Ich habs versucht! Wirklich!
Marie hat ihn angespuckt, aber er hat sie geohrfeigt, dass ihr eine Stunde später noch ganz schwummrig war! Da hat uns die Angst gepackt und wir sind davon gelaufen."
"Diese verdammten Bastarde." sprach Ben, welcher herantrat um Willbur zu helfen. "Die knüpfen wir uns vor, was Will?" "Nein, gar nichts werden wir tun. Wir müssen Jenni beruhigen. Verdammt. Hörst du mich Kleine? Ruhig bleiben, versuch ruhig zu atmen!" Willbur strich über Jennefers verschwitzte Stirn. Tränen liefen Amelie über die Wange. "Wann wird er kommen und uns retten, Will?" weinte das Mädchen verzweifelt. "Wann kommt Captain Shanty und holt uns hier raus?"
3. Verzweiflung ist der Erste Schritt des Tanzes vor Bonegate
Eines Abends, Willbur Draecorik war gerade dabei einen Wagen voll Gassäcken von Halle 9-1 über das hintere Feld zur Fertigungshalle zu ziehen, eilte Ben Briggs herbei. "Hey Will, warte!" rief er.
"Du bist verrückt Ben! Wenn der alte Fumbles uns erwischt, schickt er einen seiner verfluchten Bluthunde und lässt uns beide auspeitschen oder noch schlimmer, kürzt uns den Lohn und lässt uns ne doppelte Schicht schieben!" fluchte Will. "Hör mal her! Die dummen Fingermänner haben den Weg zur Fertigungshalle überhaupt nicht im Blick, vor allem nicht um die Uhrzeit." versuchte Ben ihn zu beschwichtigen. "Nein im Ernst, ich kann nicht mehr Willb. Ich will nicht mehr. Jenn hat nun ne Woche lang kein Perlkum geschluckt. Ich werd nicht mit ansehen, wie meine kleine, arme, Jenni stirbt, Will. Ich weiß nicht was wir falsch gemacht haben, wieso die alten Götter uns so strafen. Ist mir auch egal. Wir beide sind unseres eigenen Schicksals Schmied Willb! Ich hab nämlich einen Plan." "Hey Ben. Ich weiß es ist hart aber-" "Warte doch mal alter Presser! Ich meins Ernst. Pass auf."
Willbur musste zugeben, der Plan war wasserdicht. Obwohl jede Sehne seines Körpers dem Gedanken widerstrebte, gab er Ben recht. Es konnte so nicht mehr weiter gehen. Damson Briggs lag im Sterben. Jenni brauchte Medizin, sonst würde eines Tages der Morgen kommen, an dem sie nicht mehr aufwacht. Will hatte seinen Vater verloren. Er konnte nichts dagegen tun... ihn nicht zum Bleiben überreden. So soll er zumindest alles versucht haben, um seine neue Familie zu beschützen. Selbst wenn es für ihn bedeutete, über seine Grenzen zu gehen. Selbst wenn es hieß, er würde kriminell werden. Soll er doch den Bonegate tanzen. Er hatte es zumindest versucht.
So schlichen Willbur Draecorik und sein "Bruder" Ben Briggs eines Nachts hinaus auf die Straße und im Schutze der Dunkelheit durch die Nacht in Pinchfield. Ben hatte einen Tipp bekommen, dass die Fingermänner von Fumbles am 20. diesen Monats zu Ehren des verstorbenen Mitbegründers Pikedia einem Fahnengang beiwohnten, was so viel bedeutete, dass sie nach den Formalitäten die Nacht lang am Werkgelände völlig betrunken in der Mannschaftskabine am Fertigungsfeld sangen und feierten. Auch der Oberaufseher selbst soll anwesend sein. Also waren die Büroräume in Halle 9-3 nicht besetzt.... Der Tresor mit den Lieferzahlungen, sowie den Schmiergeldern für die Konstables der örtlichen Presser warteten dort ganz alleine. Fumbles, der Eigentümer der Kautschukfabrik war ein Schwein. Er quälte seine Angestellten, zwang sie zu unmenschlicher Arbeit und ließ öfter die Peitsche als seinen Geldbeutel sprechen, wenn der 15. des Monats anbrach. Vor Bestechung und Mord schrak er nicht zurück. Es war allgemein bekannt, dass Pikedia ihn ausschliessen wollte, doch Fumbles gehörten die Fingermänner. Also fand man Jeremiah Fenix Pikedia eines Tages erschlagen am Straßenrand. Jeder wusste es. Keiner war mutig genug, seinen Finger zu erheben und Anklage zu sprechen. Dafür hatte Fumbles zu viel Einfluss in ganz Pinchfield. Aber rechtfertigte es das, dass man ihn bestahl ? Willbur hasste John Fumbles. Und Jenn brauchte die Tabletten so sehr...
So schlichen sie sich über das Zugfeld, durch die hinteren Räumlichkeiten schliesslich über den Notausstieg direkt unter das Dach der Fertigungshalle. Ein langer Steg führte unter den Stahlbalken entlang. Darunter erstreckten sich gigantische Kessel zur Destillation und hunderte Förderbänder in ausgeklügelten, verwinkelten Bahnen. Am Ende des Hochstegs führte eine kleine Treppe zu den Büroräumen, welche gläsern in der südöstlichen Ecke an der Decke thronte.
Kein Wachposten, kein Fingermann kreuzte ihren Weg. Sie waren wirklich alleine. Scheinbar war das Fest also noch in vollem Gange. Das Adrenalin stieg Will fast bis zum Kopf, als sie schliesslich vor der Glastür standen, mit der Aufschrift "Oberaufseher A. P. Fumbles". Mit schweißnassen Händen griff er an den Türgriff und drehte ihn langsam. Entsetzt kniff er die Augen zusammen und flüsterte :"Verdammt, abgeschlossen!" Doch Ben ließ sich davon keineswegs beirren. Laut und deutlich sprach er :"Ruhig Blut mein Bruder. Hier ist meilenweit keine einzige Menschenseele." Er zog einen behelfsmässigen Knüppel aus dem Gürtel, holte aus und zertrümmerte das Glas in Höhe des Griffs. Mit einem lauten Klirren fielen die einzelnen Scherben gen Fußboden. Das Geräusch hallte durch den hohen Raum, als würde ein Aerostat durch die Decke bersten. "Bist du völlig übergeschnappt? Was wenn das jemand gehört hat ?" Stieß Willbur hervor. Er schob Ben, welcher nur achselzuckend lachte, zur Seite und stieg eine Stufe hinauf in das weitläufige, imposant eingerichtete Büro des Besitzers. Da waren sie also. Was nun auch immer geschieht... Kein Weg führte mehr zurück, egal wie sehr sie sich nun auch bemühten. Das Glas war gebrochen, die Tat war unwiderlegbar vollbracht. Will strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dort vor ihm stand er also. Ein recht unscheinbar wirkender, grauer und vor allem völlig verschlossener Tresor.
4. Der Wasserdichte Plan
"Mach dir nicht immer so viele Sorgen, Willb. Glaubst du im Ernst, ich zettel einen Einbruch bei Pick'n'Fumbles an, wenn ich nicht auch wüsste, wie die Kombination für den Tresor lautet ? Mensch, wir wollen doch hier lebend und mit so viel Gold wie nur möglich raus, oder? Lass mich mal hin, ich mach das schon." Verwirrt ließ Willbur seinen quasi Bruder Ben vorbei, welcher sich direkt vor den Tresor kniete. Er angelte nach einem Stück Pergament in seiner Hosentasche, legte es auf den grauen Kasten und begann an dem Gewinde rythmisch zu drehen. Nach einigen Umdrehungen klickte es mehrmals und die dicke, stählerne Tür schwang langsam auf. "Wie hast du nur....?" entfuhr es dem sichtlich erleichterten Willbur, als sein Blick auf mehrere Bündel Scheine sowie einigen Scheckschreibungen fiel. "Ich habs dir doch gesagt, der Plan ist wasserdicht!" zwinkerte Ben ihm zu und begann, seinen Rucksack zu füllen. "Willst du da nun weiter so rumstehen oder mir vielleicht auch zur Hand gehen?" scherzte er.
Das Adrenalin packte Willbur, dessen Zweifel langsam aber sicher dem milden Gefühl der Vorfreude wichen. Konzentriert ging er seinem Bruder zur Hand, verstaute so viele Geldbündel wie nur möglich in dem geräumigen Sack und begann lächelnd nahezu jegliche Angst zu vergessen. Erneut dachte er an die alte Damson mit ihren Töchtern und wie sie endlich aus diesem Elend verschwinden könnten. Vielleicht würden sie in Havenbrook ein neues Leben beginnen ? Oder in Thousand Pines? Die Damson wird Fragen stellen... Es nicht verstehen. Aber dafür hatte er gesorgt. Bevor sie aufbrachen hatte er sich bereits eine Geschichte parat gelegt, wie sie an das ganze Geld gekommen wären. Sie wird es verstehen. Es war die einzige Möglichkeit. Dem Oberaufseher wird dadurch kaum Verlust zugleich, den er nicht innerhalb eines Monats wieder eingenommen hätte.
Glas zerbricht knirschend unter schweren Stiefeln. Wie gelähmt drehen sich Ben und Will um. Gerade als sich Ben den Rucksack umschwang kam Fumbles mit erhobener Duellpistole durch die jenseitige Tür. "Gentlemen, ist das also der Dank dafür, dass ich euren lausigen Seelen hier eine Chance gegeben habe?" sprach er sichtlich angetrunken, in Rage. "Sir, sie verstehen nicht-" flehte Willbur, wurde jedoch mit einer Berührung an der Schulter durch Ben unterbrochen. "Nein, sie kapieren es einfach nicht. Sie glauben sie kommen mit ihrer Sklaventreiberei durch? Wir verhungern! Wir benötigen dringend Medizin!"
Mit glitzernden Augen begann Fumbles zu grinsen. "Medizin?" fragte er sichtlich schelmisch.
Niemals wird Willbur Draecorik diesen Moment vergessen. Wie glühendes Eisen brannte er sich tief in seine Seele ein. Die Verzweiflung, die Trauer. Der Augenblick schien still zu stehen, als der Oberaufseher Alexander Peter Fumbles diabolisch grinsend den Lauf der Pistole direkt auf Bens Brust richtete und emotionslos den Abzug betätigte. Knallend vermischten sich die beiden Flüssigkeiten der Patrone innerhalb weniger Nanosekunden und rissen seinem Bruder zu Boden. Atemlos schreiend ging kurz darauf auch Willbur in die Knie, um unter Tränen den bereits kalt werdenen Körper seines Gefährten zu stützen. Bens Kopf fiel zurück und lag sanft auf Wills Schulter. Die Augen blickten in die Leere. Doch seltsamer Weise legte sich keine Maske des Schmerzes auf sein Gesicht... Vielmehr wirkte er aufrichtig zufrieden. Er hatte es versucht. Alles, was er konnte gab er für die eine Chance. Die Möglichkeit, seine Familie und obgleich niemals durch Blut verbunden, seinen Bruder Willbur zu retten.
"Sie haben ihn ermordet." flüsterte Willbur Draecorik, und starrte direkt in die grauen Augen des Oberaufsehers. "Notwehr, Jungspund. Notwehr." lachte Fumbles. Lässig verlagerte der Mörder sein Gewicht auf den linken Fuß, während er eine weitere Patrone aus dem Gürtel zog und an den Lauf der Pistole führte. "Weisst du, ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde nicht merken, wenn jemand in MEIN ZUHAUSE einbricht?" schrie Fumbles. Ein leises, schürfendes Geräusch erklang, als die Glaskugel seinen Platz vor dem Kolben des Abzugs suchte.
Doch Willbur war ein Draecorik. In seinem Herzen pulsierte das Blut seines Vaters. Denn selbst in jener, aussichtslosen Situation... In der die Trauer und der Schock ihn in die Knie zwangen... Als er sein Leben bereits aufgegeben hatte... verspürte er plötzlich keinerlei Angst mehr.
Nur noch schärfer werdende Sinne.
So atmete er tief ein und stemmte sich mit aller Kraft unter dem Leichnam seines toten Freundes hervor. Er lies dem fetten Fumbles keinerlei Zeit, den Ladevorgang zu Ende zu bringen. Blitzschnell sprang er hervor und rammte dem schreienden Oberaufseher mit voller Wucht den Ellbogen in den Hals. Glucksend sackte jener nach Luft schnappend zusammen als Willbur seinen Waffenarm packte und mit purer Gewalt und durch einen Aufwärtshaken mit dem Knie den Unterarm brach. Wimmernd, jauchzend und heulend wand sich der eben noch so selbstsichere Fumbles vor ihm am Boden. Langsam hob Will die Duellpistole vom Boden auf zog den Kolben zurück und entsicherte so die Abschußvorrichtung. "Du bist es nicht wert, eines Tages wirst du für deine Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Es wäre ein Gefallen, dich jetzt zu erschießen. Und den werde ich dir nicht gewähren." biss er zwischen seinen Zähnen hervor und spuckte den Oberaufseher ins Gesicht. Erneut fiel Will vor seinem Bruder auf die Knie. Zärtlich strich er ihm durch das Haar. "Ach Ben. Was haben wir nur getan?" weinte er. "Was ist nur passiert..." Willbur hob den Kopf. Draußen waren plötzlich Stimmen zu hören. Laut öffneten sich die großen Hallentore und aufgebrachte Schritte schallten durch die Nacht. Sein durch Tränen vernebelter Blick glitt zu dem blutigen, bis an den Rand mit Geld gefüllten Rucksack. "Verdammt-" stammelte Will, als er danach griff. "Es wird nicht umsonst gewesen sein, mein Freund. Wir werden uns wieder sehen... Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Leben." Ein letztes Mal küsste er seinen Bruder auf die Stirn. Er begann, wie verrückt zu laufen.
Als er unterm Dach der Halle 9-2 entlang lief sah er sie. Überall in der Halle verteilten sich Fingermänner zusammen mit örtlichen Pressern. "Oberaufseher!" schrie einer. Willbur blieb auf dem Hochsteg stehen. Klappernd stiegen einige der Bluthunde Fumbles die Leitern hoch, welche jeweils zu parallelen Stegen unter den Balken führten. "Da ist jemand! Erschießt den Strolch!" erklang es hinter ihm. Sekunden darauf duckte Will sich und fiel auf dem vor Schüssen und Einschlägen wackelndem Planken.
5. Aether Shanty
Er musste hier raus!
Wie durch ein Wunder zwang er sich geduckt zu kriechen. Sonderlich gut schützten ihn die hängenden Schindeln, aus denen die Stege bestanden nicht vor dem Beschuß. Doch wenn er es nicht schaffte, war alles umsonst. Er musste weiter- für Ben! Explosionen neben seinen Beinen rissen tiefe Furchen in Wills linken Schenkel. Er konnte den Schrei nicht mehr unterdrücken. Es war erneut aussichtslos. Kein Weg führte für den Jungen Draecorik mehr aus diesem Höllenloch. Schon bald würden sie das Büro erreicht haben und somit hatten sie auch freies Schußfeld auf ihn. Er musste etwas unternehmen. Denk nach... Will. Was würde Captain Shanty jetzt tun? erklang die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Erinnerungen schoßen ihm vor Augen. War es das also? Zogen Momente seines Lebens nun an ihm vorbei? Der letzte Atemzug vor dem Fall?
Er sah seinen Vater dort stehen. Er umarmte ihn. "Hast du denn gar keine Angst, Pap?" fragte sein jüngeres Ich. "Ach Will..." scherzte sein Vater und strich ihm durch sein Haar. "Es ist mein Job, keine Angst zu haben." "So wie Mr. Shanty?" grinste Willbur. "Genau so wie der verwegene Aether Shanty, mein Sohn." lachte Roderik.
Blut strömte Will in die Augen und nahm ihm halb die Sicht. Die Tür jenseits des Hochstegs öffnete sich und einer der Wachmänner kam mit gezogener Waffe heraus. Willbur zwang sich auf die Knie, hob zitternd die Duellpistole mit der einen Kugel, welche für ihn bestimmt war und lächelte unter Tränen. "So wie Mr. Shanty." flüsterte er, zielte auf einen hohen Stapel Grimgassäcke unter ihm und drückte ab.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall ging die gesamte Fertigungshalle 9-2 der Kautschukfabrik "Pikedia&Fumbles" in Flammen auf.
Willbur Draecorik starb in jener Nacht.
Wochenlang brannte die Fabrik vor sich hin. Die halbe Stadt war in Aufruhr. Hunderte Freiwillige unter der Anführung einiger Sondergardisten sowie ein halbes Regiment Dampfmänner waren von Nöten, die Flammen im Zaum zu halten. Glücklicherweise konnten die angrenzenden Wohnhäuser weitestgehend gerettet werden. Ein Unfall soll es gewesen sein. Ein unglücklicher Zufall mit den Gaswerken der 9-2er, hieß es in der Middlesteel Illustrated. Ein entsetzliches Unglück bei der jährlichen Fahnenfeier, welches niemand der noch anwesenden Sicherheitskräfte überlebte.
Die Tränen und die Trauer konnte keiner von den drei armen Mädchen und ihrer kranken Mutter nehmen. Scheinbar waren die beiden älteren Brüder ebenso bei den Feierlichkeiten gewesen, denn sie hatten sich des Nachts hinaus geschlichen.... Man fand Bens Leichnam neben Fumbles verkohltem Körper in den Trümmern. Das Elend hatte seinen Höhepunkt erreicht.
Eines frühen Morgens, die schwächliche Jenn lag in ihrem Bett, während Amelie sie mit den letzten Resten ihrer Brotsuppe fütterte... Klopfte es an ihrem Fenster. Verwundert schlich Ami langsam heran... Erinnerte sie sich doch an die Geschichten ihres verstorbenen quasi Bruders Willbur, über Elfenjungen, die des Morgens kamen um ihre Prinzessinnen zu holen. So fasste die Kleine all ihren Mut zusammen und schob das vergilbte Glasfenster nach innen auf. Sichtlich entäuscht, war dort allerdings kein strahlender Elfenheld. Doch was machte dort vor dem Sims diese braune, große Tasche? Die Neugier packte Amelie, als sie hinaus kletterte, sich nach allen Seiten umsah und verstohlen die Verschlüsse löste.
Sie traute ihren Augen nicht. Das müssen ja Tausende sein! Die Tasche war Rand voll mit Geldscheinen! Trotz der Trauer, der bedrückenden Zeit und des schweren, herben Verlustes begann Amelie in ihrem jugendlichen Leichtsinn zu lächeln. "Jenni! Ruf Marie! Schnell!" schrie sie.
Argwöhnisch erneut vergewissernd, dass sie niemand beobachtete half ihr Maria die Tasche ins Kinderzimmer zu heben. "Es ist ein Geschenk des Himmels..." flüsterte Jenn mit freudigen, tränenden Blick. Sie würden überleben. Vielleicht, wenn sie aufpassten – und niemand wird ihnen jemals wieder das Geld einfach aus der Hand reißen, dafür waren sie gemeinsam viel zu schlau – könnten sie dadurch endlich von hier weg, in eine bessere Gegend. Jenn behandeln lassen... Die Möglichkeiten brachen über die Mädchen herein wie ein lang erwarteter Regenschauer während der Trockenheit. "Sie mal, Ami!" lachte Jenn. "Da ist ein Brief!" Tatsächlich steckte an der Seite ein sorgfältig gefalteter Umschlag. Die kleine Jenn holte ihn hervor, öffnete ihn und las ihren Schwestern – so laut sie konnte – vor.
"Amelie, Maria, Jenn!
Natürlich habe ich euch drei Hübschen keinesfalls vergessen.
Leider wurde meine Crew und ich in Ländern fern des Anblicks Middlesteels durch gemeine Schergen aufgehalten, jedoch konnten wir so eben den Luftraum über Pinchfield ansteuern. Lange konnten wir nicht bleiben, denn die Hüter selbst schickten uns sogleich weiter auf die nächste Mission! Das verstehen Abenteurerinnen wie ihr doch sicherlich!
Doch hier sei ein kleines Geschenk, eine Ausbeute von jenseits der Meere. Ich hoffe – bis ich euch einmal persönlich kennenlerne – ihr könnt damit eine Weile auskommen!
Bis dahin kümmert euch umeinander, haltet zusammen und sorgt für die alte Damson!
Ich stehe hier am Deck der Sparrowed Ophelia und denke an euch,
selbst wenn euer Verlust noch tief sitzt, ihr werdet – solange ihr zusammenhaltet - alles schaffen können.
Denkt immer daran, die Nacht ist am dunkelsten, kurz bevor der Tag anbricht!
Auf, und davon.... Denn ihr wisst ja, das Abenteuer wartet!
Gezeichnet
Captain Aether Shanty."[/td][/tr][/table]