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Autor Thema: Die Geschichte wiederholt sich  (Gelesen 64593 mal)

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Aether Shanty

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Die Geschichte wiederholt sich
« Antwort #405 am: 03.10.2014, 10:56:55 »
Will... Oh du tollpatschiger Narr! Was hattest du dir bei all' dem überhaupt nur gedacht?

Nein, ich meine nicht deinen kurzen Ausflug in die Hölle Ljongelis. Nicht nur. Ich spreche von dieser anderen, ach so verwegenen Identität, welche du dir selbst auf die Schultern gelegt hattest! Aether Shanty, Schrecken der Ruchlosen - Beschützer der vom Leben unschuldig Bestraften!

Was würden deine Freunde, deine Familie dazu sagen... Wenn sie noch am Leben wären?

Was wolltest du wirklich mit diesem Wandel erreichen? Die Menschen Middlesteels eines Besseren belehren? Den habgierigen Konzernen zeigen, wo die Grenze ist? Und was hast du tatsächlich am Ende damit geschafft?

Dass du dich verstecken musstest. Weit ab von der Zivilisation, innerhalb einer losen, verräterischen Gemeinschaft aus Haudegen, Räubern, Irrneblern und Banditen. Genau den Leuten, denen du eigentlich des Nachts, im Schutze der Dunkelheit den Kampf angesagt hattest! Und wo hat dich die Welle dieser unaufhaltsamen Abwärtsspirale schließlich hingebracht? Zwischen die Fronten einer, seit hunderten von Jahren andauernder Schlacht zwischen zwei Völkern, die bei der Suche nach ewigem Leben zu weit ab gedriftet waren... Bis von ihren Seelen schließlich nicht viel mehr übrig blieb, als Schrott, Leid und ewig währender Groll. Oder das jämmerliche Dasein im Zwielicht des Erdenflusses, grotesk bis auf die letzte Zelle zur Pflanze mutiert.

Und nun blickst du auf den Gambleflower und dein Herz erfreut sich an den Uferpalisaden Middlesteels, die links und rechts an deiner Gestalt vorbeiziehen. Was hast du nun erreicht? Wer sagt, dass die miesen Kerle, denen du das Handwerk wieder und wieder gelegt hattest, nicht direkt hinter der nächsten Straßenecke nur darauf warten, dir endlich die Kehle durchzuschneiden?

Oh Will... Wann hat dies alles endlich ein Ende? Wann wird deine jämmerliche Existenz endlich den Ort erreichen, an welchem du den Frieden finden kannst, den dein Vater dir von Anbeginn deines Lebens bereits wünschte?

Glaubst du wirklich, es endet mit McKinkai?




In Gedanken versunken verabschiedete sich Willbur 'Aether Shanty' Draecorik von der Mannschaft der Meersäufer und wünschte ihnen und Krok'la alles Gute. Er war unendlich froh darüber, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich nicht bewahrheitet hatten und ihrer Rückkehr nach Middlesteel am Ende Nichts im Wege stand.

So erklomm er schließlich an der Seite seiner Gefährten die Stufen den Pier hinauf und blickte ein letztes Mal zurück auf das stolze Panzerschiff, schloss die Augen und hielt einen Moment inne; dem Schützen Samual und Wolfhard die letzte Ehre zu gebieten.

Ljongeli lag nun hinter ihnen und die Stadt hatte ihre wohligen, verräterischen Arme über ihre Körper ausgebreitet. Der Dunst des Hafens erfüllte die Luft und das kühle, von Wehmut geschwängerte Klima ließ den Schurken, nach Wochen in der Hitze des Dschungels, bis aufs Mark erzittern.
Langsam wandte er sich um und fixierte dabei seine verbliebenen Kameraden. Den Sondergardisten Simon. Shiver, der tiefgründige Glatzkopf. Der verrückte Carl... Und schließlich die schöne Marguerite.

Seine Lippen zu einem ehrlichen Lächeln verformt, drängte er die Zweifel zurück; legte all seine wenige, verbliebene Hoffnung in ihren nächsten Schritt und sprach:

"Was nun? Riskieren wir eine Konfrontation mit McKinkai... Oder greifen wir tief in unsere ruchlosen Seelen, packen unsere letzte, ehrliche Rechtschaffenheit am Schopf und wenden uns an Simons Auftraggeber, den Löwen von Jackals höchstpersönlich?

Mir ist es gleich. So oder so, diese Geschichte muss ein Ende haben."

Marguerite Moulin

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« Antwort #406 am: 08.10.2014, 19:26:47 »
Irgendwie sah die Stadt anders aus, stellte Maguerite fest als das Dampfschiff den Hafen ansteuerte. Wahrscheinlich sah die Stadt nicht anders aus, sondern die Augen die sie wahrnahmen hatten sich verändert. Es kam Maguerite vor als wäre sie Jahre weggewesen. Ihre Klamotten fühlten sich widerlich an: verdreckt und verschwitzt und sie konnte sich noch nicht einmal an ihr letztes Bad erinnern. Sie hoffte eigentlich nur so schnell es ging in ihrem kleinem Zimmer zu verschwinden und ersteinmal Zeit zu haben sich in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzten.

Doch Aether holte sie unsanft in die Realität zurück: Sie stand am Dock auf einem schwankenden Pier und sie war noch nicht vom Haken. Sie wollte verdammt nochmal nicht diesem verrückten Tüftler helfen, doch genauso wollte sie ihre Belohnung. Sie würde ihr ein ruhiges Leben weit weg von hier ermöglichen.

"Vielleicht sollte unser lieber Simon seinen 'Freunden' zuerst bescheid geben, danach gehen wir zu McKinkai und holen uns unsere Belohnung ab. Sollen sich die Weltensänger um das Problem kümmern.", schlug sie vor.
„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Simon Hook

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« Antwort #407 am: 17.10.2014, 23:26:14 »
Middlesteel. Da war sie wieder, die vertraute Heimat. Ein riesiges Gefängnis für jeden Irrnebler, der hier registriert war, aber dennoch sehr viel angenehmer als schwüle Hitze und allgegenwärtiger tödlicher Gefahr zwischen undurchsichtigem Buschwerk. Simon war froh, wieder hier zu sein. Nun war es fast geschafft. Sein erster Auftrag, für den er – und nur er – verantwortlich gewesen war, wartete darauf, beendet zu werden. Und nicht einmal Black lauerte am Hafen, um die Gruppe abzufangen und für den jungen Sondergardisten noch ein letztes Hindernis darzustellen.

Für Simon stand fest, dass er den irren McKinkai nicht aufsuchen würde, bevor er bei Hauptmann Flare vorstellig geworden war… unabhängig davon, was der Rest der Expeditionsteilnehmer vorhatte. Der Auftrag war in erster Linie gewesen, die Kugel zu bergen (da schließlich davon ausgegangen worden war, dass nur eine existierte) und darüber so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Simon hatte alles Nötige bei sich, um seinem Hauptmann ausführlich Bericht zu erstatten und Ergebnisse zu liefern. Was die anderen – Maguerite, Aether, Shiver und Carl – nun vorhatten, konnte er nur noch wenig beeinflussen. Wahrscheinlich hatte jeder von ihnen bereits ausführlich darüber nachgedacht. Die Heimreise war lang genug gewesen, um in sich zu gehen.

„Weise Worte, Mr. Shanty, Miss Maguerite“, pflichtete Simon den beiden bei, als nun das nächste Ziel der Gruppe zum Thema wurde. Ein Ende, ja, danach sehnte auch Simon sich, und sich zuerst zur Kaserne zu begeben, wäre aus seiner Sicht die beste Option. Mit dem Gesetz im Rücken wäre eine Konfrontation mit McKinkai eine saubere Sache. Ganz nach Simons Geschmack.
„Ich werde meinem Hauptmann sofort Bericht erstatten. Ihr dürft mich gern begleiten, wenn euch danach ist. Zu eurem Schaden wird es gewiss nicht sein. Der Sondergarde ist bekannt, dass ihr vor dieser Unternehmung keinen Kontakt zu McKinkai hattet und nichts über die Natur der Kugeln wusstet, als ihr der Sache zugestimmt habt. Wie erwähnt, ist Hauptmann Flare ein guter Mensch. Ihr werdet es sehen. Ich verdanke ihm viel – und so geht es auch dem Rest meiner Nebelbrüder und -schwestern.“
Mit gut gelaunter Aufforderung im Blick wartete Simon darauf, dass die anderen im Idealfall zustimmten, ihm zu folgen. Er hatte vor, den direkten Weg zur Kaserne zu nehmen, ohne sich zuvor noch zurechtzumachen und in seine Uniform zu schlüpfen. Allein seinen Bänderring legte er nun in der Stadt wieder frei. Kein Weltensänger sollte denken, Simon habe etwas zu verstecken. Er ging Ärger mit diesen Burschen, wenn möglich, aus dem Weg. Es war nicht ratsam, rebellisch zu sein, und das wollte er auch gar nicht. Trotz der Überwachung hier, freute Simon sich, wieder daheim zu sein.

Shiver

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« Antwort #408 am: 21.10.2014, 23:37:02 »
Der Glatzkopf steckte sich eine Zigarette an, als er in Middlesteel wieder an Land ging. Rücktausch abgeschlossen, den grünen Dschungel wieder durch den backsteinroten mit Schloten und Ruß versehenen Dschungel aus menschlicher Tristesse und Pisse ersetzt. Welch ein Tag zur unglaublichen Freunde. Shiver spuckte Tabakreste aus, die sich in seinen Mund gestohlen hatten. Er spuckte noch immer auf diese Stadt. Er tat den Mist eigentlich nur für Maguerite und sie, sie war durch die Ereignisse im Dschungel entrückt. Eine Perle war eben etwas für schützende Austern, für die Schönheit des Meeres, auf dem Flussdampfer glänzte sie, aber im Dschungel hatte sie nichts verloren. Es war eine dumme Idee gewesen. Seine Befürchtungen hatten sich nämlich nur bestätigt, sie war in Wirklichkeit nicht nur eine Perle, sondern eine verdammte Irrneblersirene und mehr als einmal hatte Shiver sich gefragt, ob er ihrem Rock nur hinterherjagte, weil sie ihn irgendwie mit dieser Irrneblerei eben die Sinne vernebelt hatte.

Was macht's? Was macht's denn? Es war, wie es war. Er würde ihr noch länger hinterherlaufen. Er würde sie weiter beschützen. Wen interessierte schon den Grund dafür, dass es so war? Sie gefiel ihm, Magie hin oder her. Und die Reise, sie würden sie verdrängen. Nie gänzlich vergessen und wahrscheinlich würde sie irgendwann die Konsequenzen dessen spüren. Die Spuren dessen, was sie mit aus dem Dschungel gebracht hatten. Simons Freunde, die mehr über die Reise und Labor wissen wollen würden, ebenso McKinkais Lakaien. Sollten sie doch kommen. Shiver hatte sich auf der Schiffsfahrt entschieden. Nichts würde sich ändern. Sie würden ihn saufend und hurend in irgendwelchen Spelunken finden. Vielleicht müsste sie aus einer Pissrinne fischen, nachdem er versuchte, vier oder fünf von ihnen zu vermöbeln, weil sie ihm zu aufdringlich waren. Nichts würde sich ändern. Shiver blieb der Alte. Vielleicht war es ihm jetzt noch alles etwas gleichgültiger, was um ihn geschah. Die Stadt war schließlich der Dschungel in grau. Hier sahen die Donnerechsen nur anders aus, aber waren nicht weniger wütend. Vielleicht würde Shiver jetzt noch mehr saufen. Er hatte den Stoff vermisst. Zumindest ein paar Tage würde er mehr saufen. Sehr viel mehr.

Würde er seine Mitstreiter vergessen? Wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht, solange der Alkohol noch nicht seine Erinnerung zersetzt hatte. Alkoholdemenz nannte man das wohl dann. Hatten viele irgendwann, wenn sie immer sauften. Ihnen fielen die Zähne aus, ihre Haut wurde gelb, irgendwann waren sie dumm wie ein altes Graubrot. Das war dann wohl Shivers Zukunft. Von wegen schöne, neue Welt mit dem neuen Geld und den neuen Möglichkeiten; sie hatten sich nur noch tiefer in die Scheiße geritten, weil sie Leuten wie McKinkai gefolgt und deren Feinden, wie Simon, begegnet waren. Sie würden keine Ruhe mehr haben, zumindest nicht auf Dauer. Der Scheiß würde sie wieder einholen, soviel war klar. Für sowas brauchte man kein verdammter Prophet zu sein.

Shiver nahm einen letzten Zug. Er hatte sich nicht von der Mannschaft verabschiedet. Kein Alkohol an Bord. Sie würde er sicher vergessen. Sie waren ihm egal. Sie waren Lakaien ohne Spaß. Shiver spuckte aus und warf die Zigarette, den glimmenden Stummel achtlos zu Boden und blickte zu Aether, Maguerite und Simon. Sie vier hatten also überlebt; für den Moment. Aber was erwartete Simon, was Shiver sagte? Dass Shiver über die Reise vergessen hatte, was er zu Simon wegen der Bezahlung gesagt hatte? Wenn Simon wollte, dass sie McKinkai ein Schnippchen schlugen, musste Flare auch sie bezahlen. Da gab es gar keinen Verhandlungsspielraum. Shiver, eins mit seiner Grummeligkeit, wollte also auch nicht diskutieren. Stattdessen sagte er griesgrämig.
"Worauf wart'n wir' noch? Auf's Ende der Welt?"

Shiver scharrte mit den Hufen. Wer wusste es schon, vielleicht würde er sie sogar vermissen. Aether und Simon hat mehr Schneid als die meisten anderen Deppen, denen er begegnet war. Shiver lächelte ein bisschen in seinen Dreitagebart. Ja, so positive Gedanken hatte er selten über andere finden können. Es waren ihm sympathische Deppen.

Der Flüstermann

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« Antwort #409 am: 10.11.2014, 04:15:31 »
So war es also recht schnell und ohne viel zu diskutieren entschieden. Aether Shantys letzte Worte hatten die Gedanken der kleinen Gruppe gut zusammengefasst. "So oder so, diese Geschichte muss ein Ende haben." Nach all den Strapazen der letzten Wochen, den neuen Erkenntnissen und dem Tode zweier ihrer Mitstreiter, waren sie nun endlich wieder Zuhause. Middlesteel war eine Stadt voller Armut, Kriminalität, dunklen Ecken und dreckigen Spelunken, voller Angst und Hass auf Irrnebler - wenn diese keinen Ring um den Hals trugen - und allen, die das große Spiel nicht mitspielen wollten und trotzdem hatte diese Stadt für alle Überlebenden eines gemeinsam: Sie war ihr Zuhause.
Vielleicht erkannte der ein oder andere sogar, dass egal wie schlecht ihr Leben bisher verlaufen war und egal wie wenig Gutes die Zukunft gebracht hätte, es ging immer noch schlimmer. Die Erfahrungen in Liongeli ließen erkennen, dass ein Leben in dieser Metropole vielleicht nicht wünschenswert aber trotzdem wertvoll war. Egal was die Zukunft bringen würde, hier in Middlesteel würde es beginnen.

Aber damit etwas beginnen kann, muss etwas Anderes aufhören und diese Geschichte endet hier.

Die Überlebenden der Expedition machten sich also geschlossen auf den Weg durch die stinkende Metropole Jackals, die im Großen im Ganzen selbst wie ein ineinander verschlungener Mechanismus wirkte. Statt Zahnräder waren es hier Menschen, Craynarbier, Greifer und selbst Männer des Metallvolks, die Hand in Hand zusammenarbeiteten, um alles am Laufen zu halten. Doch es würde noch genügend Zeit geben, diese Abläufe zu betrachten - im Moment mussten die Pläne Victor McKinkais verhindert werden und das duldete keinen Aufschub.
Von dem geschäftigen Hafenviertel, in dem überall Waren - legale und illegale - in Lagerhäuser oder direkt an den Mann gebracht wurden, ging es weiter durch das Handelsviertel der Stadt, bis sie schließlich Haggswood erreichten, in dem die Kaserne Sondergarde stand - direkt am Palace-Square. Zu jeder Zeit war der Blimber-Watts-Turm zu sehen, der mit seinen 50 Stockwerken das höchste Gebäude der Stadt war und so als Orientierungspunkt fungierte.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Kaserne erreichten und dort bereits von Hauptmann Flare - dem Löwen von Jackals und Held des Volkes - empfangen wurden. Doch wo andere vielleicht herablassend wirkten, sich aufspielten oder mit ihrer Macht und ihrem Einfluss prahlten, war Flare ganz anders. Er bat seinen Nebelbruder und die drei anderen Teilnehmer der Expedition zu sich, in sein Zimmer, welches aber eher an einen Kraftraum, denn an ein Büro erinnerte.
Er war freundlich, hörte sich geduldig den Bericht Simons und die Kommentare der Anderen an und wirkte ehrlich bestürzt und traurig, als er vom Tod Wolfhards und Samuels hörte. Doch vor allem verstand er, dass nun Eile geboten war.
"Euer Bericht bestätigt leider, was ich mir schon gedacht hatte. Ein letztes Mal bitte ich Euch um eure Hilfe - danach sollt ihr für eure Mühen entlohnt werden, auch wenn das die Schmerzen, die ihr in den letzten Wochen habt erleiden müssen, nicht wieder heilen kann. Verzeiht mir, dass ich nicht früher gehandelt und euch alle da raus gelassen habe. Ich hätte sofort einige meiner Nebelbrüder schicken sollen."

Auch wenn Flare aufgrund seiner möglichen Fehleinschätzung der Situation geknickt war, hinderte ihn das nicht daran, endlich zu handeln. Vielleicht war es der Tod der zwei Männer, vielleicht auch nur die Dringlichkeit der Angelegenheit aber er zog sich für einige Minuten zurück und kam dann in voller Uniform zurück. "Ich werde mich selbst um diese Angelegenheit kümmern und ihr werdet mich begleiten. Überlasst den Kampf mir." Mit diesen Worten übergab er das Kommando einem seiner Untergebenen und zusammen verließ er mit Aether, Simon, Shiver, Marguerite, Carl und zwei weiteren Nebelbrüdern die Kaserne.
Ein weiteres Mal lief die Gruppe durch die Stadt - allerdings mit dem Unterschied, dass ihnen jetzt weit mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Flare war eines der bekanntesten Gesichter des Landes und es gab nur wenige, die ihn nicht mochten. Frauen erröteten in der Anwesenheit des muskulösen und durchtrainierten Mannes aber auch andere, gestandene Männer, konnten sich seinem Charme nicht entziehen. Doch im Gegensatz zur schwärmenden Frauenwelt, waren ihre Reaktion eher auf Respekt und Dank zurückzuführen. Der Weg zu McKinkais Laden war kurz, da er in der Spencer Street und damit im gleichen Viertel lag aber das verhinderte nicht, dass ihnen eine kleine Gruppe Neugieriger gefolgt war, die von den beiden anderen Sondergardisten allerdings zurückgehalten wurden.

So war also die Zeit der Konfrontation gekommen.

In den nächsten Minuten würde dieses Kapitel beendet werden können. Aether schloss die Tür des Geschäfts auf - was verlassen war und in den letzten Tagen nicht geöffnet gehabt hatte - und zusammen betraten sie den Verkaufsraum. Eine leichte Staubschicht hatte sich auf den Ausstellungsstücken gebildet, was für ein Geschäft in dieser Straße sehr selten war. Die Bewohner Haggswoods, legten viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung. Beides suchte man hier vergeblich, was vielleicht auf den ungesunden Geisteszustand des Besitzers schließen ließ. Ungeachtet dieser Tatsache, bewegten sie sich weiter, da sie den Weg zur Werkstatt des Mannes kannten. Tatsächlich konnten sie die Werkstatt durch den kahlen, grauen Gang problemlos erreichen.
Und da saß der alte Mann. Am Ende des Raumes, über einen längeren Tisch gebeugt und offensichtlich bei der Arbeit. Er schaute nicht auf, als die kleine Gruppe samt Flare den Raum betrat aber bevor jemand etwas sagen konnte, hob er leicht den Kopf und sah auf irgendetwas, dass neben ihm auf dem Tisch stand. Seine emotionslose, kalte Stimme, war leise aber dennoch deutlich in dem Kellerraum zu hören. 
"Was sagst du da? Ja... ja ich habe sie gehört. Sie sind gekommen, um dich mir wegzunehmen... Nein... Nein, das werde ich nicht zulassen. Ja... aber Natürlich..." flüsterte der Mann gedehnt und werkelte einige Sekunden an dem Ding vor sich weiter.

Als er fertig war, stand er schließlich auf und drehte sich zur Gruppe. Seine Brille summte leise, als sich die damit verbundenen Zahnräder drehten und die Sichtgläser ausgetauscht wurden. Victor McKinkai sah noch schlimmer aus, als bei dem letzten Treffen. Sein Gesicht war eingefallen und die Knochen traten deutlich hervor. Seine Haare waren jetzt fast komplett ausgefallen und die restlichen, dünnen grauen Härchen, würden bald folgen. Der Mechomaniker zitterte leicht, als er einen Schritt auf die Gruppe zulief, einen langen, knochigen Finger ausstreckte und mit vor Wut und Trauer verzerrten Gesicht auf die Gruppe zeigte.
"Ihr werdet sie mir nicht wegnehmen! Nicht noch einmal! Ich lasse das nicht wieder zu, denn dieses Mal habe ich vorgesorgt!" eine einzelne Träne lief dem alten Mann das Gesicht herunter. "Louise wird leben und ihr werdet mich nicht aufhalten. STEVEN!"

"TÖTE SIE!"

Mit diesen Worten kam Bewegung in das Ding, an dem McKinkai vorher gearbeitet hatte. Ein Teil der offensichtlichen Maschine hob sich und drehte sich zur Gruppe. Doch es war keine Maschine die sie anblickte - zumindest nicht ganz - sondern Steven Black, der ehemalige Freund und Geschäftspartner des alten Mannes.
Seine Augen hatten ihren Glanz und den Ausdruck von herausragender Intelligenz verloren - stattdessen wurde die Gruppe aus kalten, ausdruckslosen Augen betrachtet und gemustert. Der Mann, der sie alle angeheuert und überredet hatte, stand jetzt auf und lief auf die Gruppe zu. An seinem gesamten Körper - aber vor allem an den Gliedmaßen und am Rücken - waren gelbe, verdeckte Schläuche befestigt worden, die sich mithilfe kleiner Nadeln in die Muskeln bohrten und auf dem Rücken mit einem Glasbehälter verbunden waren.
Steven spannte seine Muskeln an, was einen Mechanismus in Gang setzte und diese wachsen ließ. Der ehemals schmächtige Geschäftsmann war zu einer hirnlosen Kampfmaschine geworden. McKinkai hatte seinen einzigen Freund geopfert, um seinen Zielen ein weiteres Stück näher zu kommen. "Folgt McKinkai, ich halte ihn auf!" rief Flare der Gruppe zu, denn der alte Mechomaniker hatte die Zeit genutzt und einen verborgenen Hebel gezogen, der tiefer in das Gebäude führte. In den Händen hielt er ein Gefäß, in dem in einer gräulichen Flüssigkeit ein Gehirn schwamm.

Während neben den Fünf Abenteurern ein Kampf zwischen Flare und dem ehemals freundlichen Steven entbrannte, machten sich diese auf den Weg, McKinkai zu folgen. Der durch Irrnebelmagie mit übernatürlicher Schnelligkeit ausgestattete Flare stürzte sich auf den umgebauten Steven, der den ersten Faustschlag - denn der Körper des Hauptmannes war die einzige Waffe, die er brauchte - einfach ins Leere gehen ließ. Die chemischen Stoffe in den Muskeln des veränderten Mannes, machten ihn zu einem starken Gegner und so startete ein kämpferischer Tanz, den normale Augen nicht verfolgen konnten.
Während Simon, Marguerite, Aether, Shiver und sogar Carl einer weiteren Treppe in die Tiefe folgten, ertönte eine Explosion aus der oberen Werkstatt, die von dem heftigen Kampf zwischen den beiden Kontrahenten zeugte. Flare zückte jetzt wohl alle Register, um seinen Gegner besiegen zu können. Doch darum durften sie sich jetzt nicht kümmern. Ihr Gegner war McKinkai und dieser hatte einen beachtlichen Vorsprung - trotz seines Alters.
Unten angekommen, konnten sie noch sehen, wie McKinkai einen etwa zwei Meter langen und einen halben Meter hohen Glassarg geöffnet hatte, der auf einem Podest in der Mitte eines Raumes stand. Er nahm das Gehirn aus seinem Behälter und setzte es in eine Vorrichtung einer Maschine ein, die entfernt an einen Dampfmann erinnerte.

"Louise wird nicht die Macht haben, die sie mit der Kugel gehabt hätte aber sie wird leben und euch auslöschen. Sie wird sich endlich an den ganzen Kakerlaken rächen können, die sie umgebracht haben. Ja... komm schon! Ihr könnt mich jetzt nicht mehr aufhalten! ES IST VOLLBRACHT! HA! HAHAHAHA!"

Der alte Mann brach nun lachend und gleichzeitig weinend neben dem Glassarg zusammen. Doch es war noch nicht vorbei.

Der Mechomaniker hatte es mithilfe eines gefolterten und zerlegten Dampfritters und den Gebeinen seiner Frau tatsächlich geschafft, einen Kombo zu bauen. Eine groteske Mischung aus stinkendem, verwesten Fleisch, Knochen und Nervensträngen, die mit den Überresten und der Seelenplatine eines gestorbenen Dampfmannes verbunden waren. Es erinnerte stark an die Wesen, die sie in der Ruine in Liongeli bekämpft hatten.

Die Geschichte wiederholt sich. Immer und immer wieder.

Stöhnend richtete sich die Konstruktion auf und sah den alten Mann und die Gruppe an. McKinkai stand auf und streichelte weinend über das zerstörte und halb verweste Gesicht seiner Frau. Selbst der Glassarg, in dem er die Leiche aufgebwahrt hatte, hatte die Verwesung nicht gänzlich verhindern können und so waren einige dunkle Flecken und sogar Löcher in der Haut zu sehen, in denen sich etwas zu bewegen schien. Trotzdem war es wohl das Schönste, das der alte Mann jemals gesehen hatte. Immer wieder wiederholte er den Namen seiner Frau.

"Louise... Louise ich habe dir versprochen, dass ich dich zurückhole. Wir werden immer zusammen sein. Ich liebe dich."

Louise blickte währenddessen an sich herab - die Anderen waren vollkommen vergessen. Jetzt legte auch der Kombo einen Arm um den Mechomaniker und während dieser im Paradies zu sein schien und jauchzte, griff Louise für einen Moment hart zu und drehte den Kopf des Mannes, sodass diesem das Genick brach. Ein gerasseltes und gequältes "Es tut mir leid." war von dem Geschöpf zu hören. Dann beendete es mithilfe einer ausfahrbaren Klinge, sein eigenes Leben, indem es das Gehirn von dem Rest des Körpers trennte.

Es war vorbei. In all seinem Wahn und der Trauer um seine verlorene Liebe, hatte McKinkai nie darüber nachgedacht, wie seine Frau empfunden hatte.
Ob sie wieder zurückgebracht werden wollte - in einen Körper, der allen Naturgesetzen widersprach.
Ob sie nicht vielleicht verstanden hatte, etwas Falsches getan zu haben.
Womöglich hatte sie für ihre Taten büßen wollen und hatte den Tod als Strafe aktzeptiert und mit ihrem Leben abgeschlossen.
Vielleicht hatte sie aber auch nur sich selbst in den Augen McKinkais wiedererkannt und gemerkt, dass dies der falsche Weg war und es keinen anderen Ausweg mehr als den Tod gab.

Was auch immer der Grund für die letzte Handlung der wiederbelebten Frau gewesen war, es war endlich vorbei. Mit dem Tod McKinkais und seiner kranken Erfindungen, konnte man endlich einen Schlussstrich ziehen. Mithilfe der Sondergarde wurde das Gebäude gereinigt und leer geräumt. Die Aufzeichnungen und Pläne zur Herstellung der Kombos und zur Kugel wurden vernichtet. Jeder wurde fürstlich entlohnt. Hatte McKinkai der Gruppe 1500 Guinen versprochen, so bezahlte Flare selbst der Gruppe jeweils 2500 Guinen. Mit diesem Geld konnte man sich ein paar schöne Monate oder sogar Jahre machen - je nachdem wie luxuriös man lebte.
Marguerite traf es wohl am besten, denn ihr wurde das Angebot gemacht, der Sondergarde beizutreten und damit ein Leben im Luxus und ohne Angst der Verfolgung zu leben.
Simon wurde befördert und soweit er akzeptierte, bekam er das Kommando über einen eigenen kleinen Trupp der Garde, der für spezielle Missionen außerhalb Middlesteels verantwortlich war.
Aether Shanty und Shiver wurden nach Greenhall begleitet, wo sie mitansehen konnten, wie ihre Akten und Aufzeichnungen zerstört wurden - sollten sie dies wünschen und zulassen - womit sie einen neues Leben mit weißer Weste beginnen konnten und von all ihren früheren Taten und ihrer Vergangenheit befreit werden würden.
Selbst Carl konnte sich nun ein neues Labor kaufen, dass auf dem neusten Stand war und um das ihn jeder andere Alchemist beneiden würde.


So endet die Geschichte der Helden hier. Doch Jackals schläft nie und dies wird bestimmt nicht das letzte Abenteuer in dem Land der Luftschiffe und der Magie gewesen sein.

Shiver

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Die Geschichte wiederholt sich
« Antwort #410 am: 11.11.2014, 00:11:38 »
Es war vorbei. Oder hatte es begonnen? Wahrscheinlich hatte sich in Wirklichkeit gar nichts geändert. Es war nichts, welches mit McKinkai begann oder mit McKinkai aufhörte. Wenn die Ereignisse der letzten Wochen eins bewiesen hatten, dann das Menschen immer wieder dieselben Fehler machen, nach denselben Dingen streben und immer wieder andere für ihr Wohlergehen opfern, während andere ihr Wohlergehen für andere opfern, aus welchen Gründen auch immer. Es hatte vor McKinkai Versuche gegeben, irgendeine Form maschinell-natürlicher Intelligenz zu erschaffen, es hatte McKinkai geben, und mit Blick auf Flare würde es noch andere geben. Wahrscheinlich nicht Flare selbst, vielleicht aber ein machtgierender oder nach Unsterblichkeit strebender Mann der Bänderringträger, vielleicht in versehrter, der seinen Kameraden in der Schlacht verlor oder andere Geschichten verquirlten Heldenmistes. Kein Beginn, kein Ende. Alles lief weiter wie vorher, die Menschen wechselten nur Sprache und Kleidung, änderten die Geschichte im Detail und doch ließen die Geschichten sich immer wieder auf dieselbe Rezepte herunterbrechen, zumindest für Shiver.

Shiver war das doch auf andere Weise nahegegangen. Louise. Shiver hatte es innerlich gespürt, dass seine innere Nähe, sein Bedürfnis in der Nähe seiner Perle zu sein...es hatte sich verändert. Der Moment, in dem sie zauberte und ihre so unglaubliche, verführerische Contenance verlor und ihr ängstliches, ungeschöntes Ich zeigte. Es verunsicherte Shiver. Es erinnerte ihn daran, dass er lieber ein Werkzeug war und sich dessen bewusst war. Als sie mit ihm spielte, das hatte eine perverse Klasse, die der Glatzkopf bewunderte, doch als diese Fassade aus Fassung und spielerische Koketterie fiel, und die wahre Perle in der magischen Auster zeigte, das machte Shiver Angst. Einen verletzlichen Menschen vor sich zu haben, emotional, das erinnerte Shiver an seine eigene Schwäche. Jene Schwäche, die ihn vor allen wirklichen Kämpfen weglaufen ließ, und ihn mit Fäusten, Alkohol und Tabak umgab. Denn dies waren die Kämpfe, die leicht für ihn waren, sie waren verständlich. Schlagen, geschlagen werden, saufen, umfallen, wieder aufstehen. Das hatte er immer getan, aber wer sein? Shiver merkte, dass aus der spielerischen Beziehung zu Marguerite mehr wurde, gerade da er ihr wirkliches, schwaches Ich sah, welches ihn an seine eigene Schwäche erinnerte. Verbunden in dem Versuch souverän zu wirken, eins in der eigentlichen Schwäche. Ein schönes, weibliches Spiegelbild des hässlichen, männlichen Shivers, im Wesen doch dasselbe. Shiver konnte es nicht ertragen, er lief wie immer weg, wenn es menschlich wurde. Denn er wusste, was eigentlich passieren würde, wenn er blieb. Er würde Marguerite nicht beschützen, er würde sie mit seiner Art in Ärger bringen, und dann würde sie verletzt werden oder irgendwann würde sie sterben; und dann wäre er es, der die Kugeln jagte, der "Louise" wiederzubeleben gedachte, der besessen sein würde von der Perle. Er würde daran entgültig zerbrechen. Und wäre es befriedigend, dann auch von ihr getötet zu werden, für das, was er ihr antun würde? Sie in Gefahr bringen, sie sterben lassen, sie als Maschine wiederbeleben wollen, ihre Schönheit nicht bewahren können; und dann war er noch alt, gebrochen und hässlich. Das war zu viel. Er sah sich in McKinkai, und da er so zerlegt und mit noch immer sehr doppeldeutig verdrehtem Kopfe lag, lacht Shiver nach außen, verschwand dann aber mit glimmender Zigarette einfach aus der Sicht von Aether, Simon und Marguerite, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Noch ehe McKinkais Körper kalt wurde oder sein letzter, röchelnder Atemversuch seine Lippen verlassen hatte, ehe sie sich umdrehen konnten, war Shiver verschwunden, wie vom Stadtdschungel Middlesteels verschluckt.

Er hatte die Kneipen gewechselt, oftmals mehrfach an einem Abend, in der Angst Marguerite zu begegnen. Er wollte sie nicht sehen, er wollte sie nicht enttäuschen, er wollte sich nicht ihretwegen enttäuschen, obwohl er genau wusste, dass er sich genau jetzt enttäuschend benahm. Er konnte diesen Widerspruch, dieses Problem nicht auflösen. Dass einander begegnen immer gleichzeitig hieß, jemanden zu beglücken und zu enttäuschen, wenn man es im Ganzen sah, war ihm unerträglich. Er konnte sich nicht damit anfreuden, dass es darum ging, dass Beglückende zu genießen und nicht das Enttäuschende zu fürchten. Seine Furcht vor anderen Menschen war so real und so groß, dass er das Glück nicht einmal sah, wenn es ihm mit eherner Faust die Fresse polierte. Shivers Leben lief nach einem anderen Credo als das der meisten Menschen: So much of "normal, civilized" life is bullshit that you can't imagine. ... What frightens you, doesn't frighten me, what frightens me, you'd laugh at.
Shiver hatte nie Angst vor körperlichen Schmerzen oder seinem körperlichen Verfall, deswegen soff er so viel. Deswegen wechselte er nun aus Angst vor Marguerite die Kneipen, während er sich mit billigen Fusel aus der Besinnung beförderte, aus Wut Schlägereien anzettelte, wobei er so voll war, dass er sich manchmal gar nicht wehren konnte. Er fürchtete ein Mensch zu sein. Er fürchtete sich vor sich selbst, vor seinen Gefühlen. Er verbarg sich in einer tabakschweren Dunstwolke aus Wut, Alkohol und aggressiver Angst...

Und so hatte man Shiver gefunden und nach Greenhall geschleppt. Sein Unterhemd war voll getrocknetem Blut und Erbrochenem, sein Ledermantel weiter eingerissen. Sein Schädel war nicht mehr kahlrasiert, sondern zeigte inzwischen deutlich das mahagonifarbene Haupthaar in seiner schmutzigen und blutverkrusteten Stoppeligkeit. Er trug sei der Rückfahrt aus Liongeli ebenso einen schmutzigen, rotgrauen Mehrtagebart. Er sah ziemlich verwahllost aus, aber er war klarer Gedanken, auch wenn er wie ein vollgepisstes Wrack stank. Man unterzog ihm einer Zwangswäsche, in dem man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf schüttete, um ihn in der Gosse zu wecken, in der er sich die Nacht mit einer Flasche billigen Gin geteilt hatte. Er konnte nur ein wenig aus dem linken Augen blicken, welches geädert und halb zugeschwollen war, das rechte Auge ließ gar kein Licht ein. Sein Gesicht nach einer wenig erfolgreichen Schlägerei aus. Die Fragen diesbezüglich konnte Shiver nicht beantworten, er erinnerte sich nicht, aber er ging davon aus, dass sein Kontrahent nicht anders oder gar schlimmer aussah.

Sie hatten ihm schließlich sein Geld gegeben. Und er sah Aether wieder. Shiver grüßte mit einem Schmunzeln, sagte aber nichts dazu, dass er einfach verschwunden war. Stattdessen steckte er sich eine Zigarette an. Er paffte nur daran, um möglichst viel Rauch in den Mund zu nehmen. Wer auch immer ihm angetragen hatte, dass seine Vergangenheit gelöscht wurde: Shiver blies ihm den Rauch ins Gesicht. Der Glatzkopf schaute zu Aether, wie er darauf reagieren würde. Doch ehe es dazu kam, zuckte Shiver mit den Schultern. Er rieb sich das ganz geschwollene Auge. Das tat ordentlich weh und pochte. Wahrscheinlich ein gebrochener Orbitalknochen, mal wieder. Diesmal würde er diese Stelle ärztlich untersuchen lassen müssen. Das passierte zu häufig. Shiver zog nochmal an der Zigarette, sie war fast niedergebrannt. Ihm hämmerte der Kopf vom billigen Gin, er musste bald was essen, damit er nicht kotzen musste. Oder einen Kontergin reinpfeifen und dann sehen, dass er Marguerite aus dem Weg ging. Jetzt hatte er Geld, er konnte sonstwo hin. Mhm, vielleicht ein Zimmer mieten und sich mit Nutten und Gin versorgen lassen. Das würde ihn vielleicht auf andere Gedanken bringen. Shiver blickte nochmal zu Aether, dann nahm er den Glimmstängel aus dem Mund, zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass die Spitze der Zigarette zur Handfläche zeigte. Er näherte sich den Aufzeichnungen seiner Taten mit dem glimmenden Stummel, ganz so als würde er sie entzünden wollen. Er las kurz drüber: viel Schlägerei, Unzucht, Aufstachelung zur Unruhe, Widersetzen gegenüber Wachbütteln und dergleichen. Shiver lachte leise und schnipste die Zigarette in das Gesicht des nächststehenden Büttels.
"Meine Vergangenheit lösch'n? Habt ihr gelitt'n? Das einzige wegwerf'n, was ich je geleistet hab'? Ihr habt wohl nich' mehr alle Latt'n am Zaun.", kommentierte er seine Provokation. "Dafür habt ihr mich geweckt? Fickt euch. Ich behalt' meine Lebensleistung."

Im Gefängnis war er vielleicht sicher vor Marguerite, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Leben führte in die Katastrophe, dass wusste er. Es ging immer weiter bergab, vom guten Haus in die Gosse. Aber Shiver machte sich keine Illusion. Das war eine Einbahnstraße, und er brauchte keine Umleitungen, die ihn die Aussicht versüßten oder ihm falsche Hoffnung gaben. Er wollte so weiterleben. Es war scheiße, aber es war sein Leben. Und er entschied, wie scheiße er es gestalten würde. Er war kein verdammter Held und er würde es nie sein. Er war im Dschungel kein Held gewesen, er war nur noch nicht so dumm wie Samual oder Wolfhard, und war nicht unnötig als falschem Heldenmut oder verlorener Fassung verreckt. Ja, wahrscheinlich würde er noch immer in der Gasse vor sich hinsiechen, wenn Aether oder Simon auch an ihrem Heldentum vergangen waren. Aber es ware ihre Entscheidung. War Zeit, dass er wieder was trank.

Er klopfte Aether auf die Schulter. "War nett dich kennengelernt zu haben.", sagte er diesmal in nicht nuschelnder Sprache. "Ich wünsche dir alles Gute. Ich denke, du wirst in der Lage sein, aus dem kleinen Geldsegen Gutes zu schaffen. Solltest du mal eine Faust brauchen, du findest mich auf dem Kopfsteinpflaster." Shiver zwinkerte ihm zu, so es sein offenes Auge zuließ und drehte sich, stinkend und unrasiert, auf dem Absatz um und marschierte aus dem Gebäude. Dies war kein Beginn und kein Ende. Es war nur eine Episode, sein Niedergang war noch nicht abgeschlossen, und ehe das geschehen war, würden noch eine Köpfe eingeschlagen und einige Flaschen getrunken sein. Und so verschwand Shiver wieder im dreckig-rauchigen Getümmel Middlesteels, genauer gesagt in den Gossen dieser Stadt, seiner Seelenheimat.

Aether Shanty

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« Antwort #411 am: 14.11.2014, 13:26:33 »
Von der freundschaftlichen Berührung des sonst so groben Glatzkopfes aus dem Konzept gebracht, wippte Aether ein wenig nach vorne und begann ehrlich zu lachen. Er erwiderte den Gruß zum Abschied und legte Shiver seine Hand auf die Schulter. "Pass auf dich auf, mein Freund." antwortete der selbsternannte Vigilant und zwinkerte seinem Gegenüber dabei zu. "Deine Gesellschaft war eine wahre Freude. Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben." Er nickte und fuhr sich etwas verlegen durch die blonden, zusammengebundenen Haare. So viel Ehrlichkeit bedeutete einiges an diesem Ort und man musste ziemlich tief graben, um in Middlesteel einen solchen Augenblick an das Tageslicht zu befördern. Das wussten wohl beide nur zu gut. Der Mann in dem fleckigen, dunklen Unterhemd ging seiner Wege und stapfte die Straße hinab. Doch Aether verharrte noch ein wenig an Ort und Stelle, blickte der geisterhaften Gestalt Shivers in Gedanken versunken hinterher. Mit jenem Geldsegen Gutes schaffen, hatte er in klarem, gebildeten Jackalianisch zu ihm gesprochen. Der Schurke zog seine Mundwinkel nach oben. Lächelte dem verabschiedeten Freund still hinterher.

Die gesamte Zeit über, nachdem die fünf übrig gebliebenen Teilnehmer der Expedition McKinkais' von den Docks aufgebrochen waren, um Hauptmann Flare einen Besuch abzustatten, war Willbur 'Aether Shanty' Draecorik still gefolgt. Er hatte sich gänzlich lethargisch zurück gehalten und nur geantwortet, wenn jemand Offizielles ihm eine Frage gestellt hatte. Die Ereignisse verschwammen vor seinem inneren Auge, während der junge Mann aus Pinchfield mit aller Anstrengung versuchte, sich einen endgültigen Reim auf dieses Abenteuer zu machen. Vor allem was seine Rolle darin betraf. Doch es ging im Ringen seines Bewusstseins nicht allein um den schier fantastischen Ausflug in die Tiefen Ljongelis... Wie so viele, unzählige Male zuvor war er erneut an einem Punkt angekommen, an dem die Zweifel sein Gemüt erfassten und ihn seine gesamten Taten nüchtern reflektieren ließen. Was er sich dabei gedacht hatte, seine Familie nach dem Tod seines besten Freundes einfach zurück zu lassen. Wieso er dieses vergilbte, alte Revolverheft zu seinem Leitbild gemacht- und diese fadenscheinige, brüchige Identität eines verwegenen 'Helden' angenommen hatte. War es wirklich das Schicksal der Hilfsbedürfigen, weswegen er sich seither tagtäglich in den Kampf warf; das Fechteisen kühn zum Streich erhoben? Oder ging es ihm die gesamte Zeit über nur darum, seinen inneren, ewig marternden Bluthund zu stillen. Vergeltung aus jenen verruchten, zwielichtigen Ecken von Middlesteel herauszupressen und diese korrupten Menschen für den Tod von Ben bluten zu lassen?
Kalter Schauer war über seinen Rücken hinab geflossen, als er schüchtern und stumm dem gewaltigen Erscheinungsbild des Löwen von Jackals gegenüber gestanden hatte. Die gesamte Zeit über hatte er sich ertappt und schuldig gefühlt, während der eiserne Blick des Hauptmanns ihn ernst musterte. Immer wieder dämmerte ihm das Antlitz seines Vaters und die darin vertretene Ehre der Draecorik, welche ihm seit jeher schwer auf den Schultern lastete. Was würde mein Vater nur von mir halten, wenn er mich hier sehen musste? Wenn er wie Hauptmann Flare gehört hätte, was ich getan hatte? In welche Kreise ich gesunken war und für was ich beinahe verantwortlich gewesen wäre?

Ich denke, du wirst in der Lage sein, aus dem kleinen Geldsegen Gutes zu schaffen.

Der gesprochene Satz Shivers ließ ihn unweigerlich an die kleine Jenn denken... An die tapfere, süße Amelie. Willbur, du weinerlicher Narr! schimpfte er sich selbst. 'Aether Shanty' war niemals eine Ausrede, eine Entschuldigung an seinen toten Vater oder eine Erklärung für all die 'Verbrechen' die er begangen hatte!  Dieser lächelnde, selbstsichere und kühne Vigilant war ihre einzige Chance! Und du hast nicht weniger getan, als sie ergriffen. Will' schüttelte den Kopf, vergrub seine Hände in den Hosentaschen und begann die Straße in entgegen gesetzter Richtung hinunter zu schlendern. Seine Erinnerungen schweiften ab zu der jüngsten Szenerie in dem grausamen Arbeitszimmer des Mechomanikers. Er rief sich das halb vermoderte Gesicht des grotesken, aus unsterblicher Liebe geborenen, Konstruktes erneut vor sein inneres Auge. Ging von diesem Punkt aus in der Zeit zurück. Reiste wieder an der Seite seiner Kameraden durch den Dschungel. Kämpfte im Schatten Simon Hooks gegen den monströsen Golem... Wettete allein gelassen, ob Wolfhards Pfeil diesen Ast wirklich zu treffen vermochte. Erblickte Samuals kantiges Gesicht im Lagerfeuer, während er mit ihm mehr schlecht als recht Wache gehalten hatte. Bewunderte die verschlossene Schönheit der Irrneblerin Marguerite, in diesem schönen, glitzernden Kleid an jenem Abend auf dem Bootsrestaurant am Pier des Gambleflowers. Unweigerlich kam ihm die prägende Szenerie auf dem Deck der Meersäufer in den Sinn. Das nüchterne, grobe Gesicht seines Freundes Shiver und dessen tiefgreifende Worte.

Das is' doch witzig im Leb'n. Nie weiß man, was man g'rad so tut. Und am Ende sucht man dann 'ne Erklärung, warum man was g'macht hat. Irgendwann findet man auch 'ne Antwort, um sich selbst einzulull'n. Wir Menschen sind schon 'nen naives Pack. Arbeiten in schwimmend'n Särg'n und geh'n für erbärmliche Bezahlung in'n Untergang. Für so'n Müll geht man weg von Liebe, von Brust, von Schnaps. Is's die Abenteuerlust? Is's der Ruf nach groß'n Tat'n? Nah!

...Und jeder verdammte Armleuchter auf diesem Sarg tut so, als sei er besonders begabt oder ausersehen. Das einz'ge, was uns besonders macht, is' unser besond'rer Grad der Dummheit, unversehen's für jeden aufgeblasen'n Sack unverhältnismäßig gefährliche Aufgab'n zu übernehm'n...


Willbur 'Aether Shanty' Draecorik erinnerte sich daran, wie er den Beamten zugestimmt hatte, seine Akte zu löschen und seine Vergangenheit für immer zu Grabe zu tragen. Je mehr er resignierte, umso leichter fielen ihm seine Schritte. Grübelnd hob sich langsam seine Laune, als er zurück in das wehmütige, ehrliche Lächeln von vorhin verfiel.

Nich' falsch versteh'n. Eure Dummheit, die ihr mit mir gemeinsam habt, macht euch sympathisch. Könnt' es nicht ertrag'n, 'nen denkend'n Mensch'n an Bord zu hab'n. Das würde das alles nur verkomplizier'n.

Dummheit hin oder her. Um die jetzige Uhrzeit würde man wohl schon bald den riesen Haufen Geld vor diesem Kinderheim in der Bakery Ave' finden. Es sollte reichen, um das vom Großbrand verrußte Gebäude zu renovieren und all den Eltern-losen Kindern eine ordentliche Ausbildung zu schenken. Natürlich würde Willbur darüber wachen und dafür Sorge tragen, dass dieser Ort zu dem wachsen würde, was die Armen und Hilfsbedürftigen in Middlesteel so bitter brauchten. Es war mir eine wahre Freude, diese Dummheiten an eurer Seite zu begehen. Simon, Shiver, Carl, Marguerite, Wolfhard und Samual. Und wen kümmerts schon, wenn wir nebenher, aus versehen auch noch was richtig übel Gutes tun, Ladies und Gentlemen? Verfluchte Scheiße - um es in deinen Worten zu sagen, Shiver. Es war mir eine wahre Freude, an deiner Seite durch dieses Meer aus Idioten, Trotteln und fehlgeleiteten Helden zu waten! Will' lachte laut auf. Nein, 'Aether Shanty' war keine beschämende Ausrede. 'Aether Shanty' gab all dieser Dummheit einen dünnen, goldenen Faden. Verwandelte die Sinnlosigkeit des Seins in pures, selbst-ironisches Heldentum. Und dafür brauchte es schon jemanden, der wirklich von Kopf bis Fuß, bis in die letzten, tückischen Kammern seines kaputten Herzens 'dumm genug dafür war'.

So erheiterte sich nach und nach das Gemüt Willbur Draecoriks. Er dachte noch nicht an Morgen, oder an das Ziel seines aktuellen Spaziergangs. Ob Aether Shanty jemals wieder in Middlesteel sein Unwesen trieb? Wer sollte das schon vorhersagen können? Willbur in diesem Augenblick wohl am aller Wenigsten! Er schlenderte einfach weiter und genoss all die Zufriedenheit, welche seinen Körper von Innen wärmte. Plötzlich brach sich die Stille der unbelebten Seitengassen. Erst begann er leise zu summen, dann stimmte er unbekümmert in den Takt ein und sang lauthals, in Anerkennung an dieses muntere Abenteuer und seine Gefährten - ob gefallen oder nicht. An die ewige, verzweifelte Liebe McKinkais und verflucht nochmal zu 'Ehren des Löwens von Jackals'!


"We are outward bound for Rapalaw Junction town
With a heave-o, haul!
An' we'll heave the ol' wheel round an' round
Good mornin' ladies all!

An' when we get to Rapalaw Junction town
With a heave-o, haul!
Oh, 'tis there we'll drink an' sorrow drown
Good mornin' ladies all!

Them gals down there are free an' gay
With a heave-o, haul!
Wid them we'll spend our hard-earned pay
Good mornin' ladies all!

We'll swing around, we'll have good fun
With a heave-o, haul!
An' soon we'll be back on the homeward run
Good mornin' ladies all!

An' when we get to Liongeli down
With a heave-o, haul!
For the very last time we'll waltz around
Good mornin' ladies all!

With Poll and Meg an' Sally too
With a heave-o, haul!
We'll drink an' dance wid a hullabaloo
Good mornin' ladies all!

So a long goodbye to all you dears
With a heave-o, haul!
Don't cry for us, don't waste yer tears
Good mornin' ladies all!"




Good mornin' ladies all.


...


...

Er ging schlendernd ein paar Schritte auf ihn zu, wobei er lächelnd versuchte, dem Blick des Hünen stand zu halten. "Oder, vielleicht läuft es in Wahrheit völlig anders. Stell dir vor, wir würden eines Tages herausfinden, dass unser torkeln, stolpern, herumirren und der ganze Irrsinn am Ende doch seinen Zweck ergab!" Dabei fing er an laut zu lachen. "Reden wir es uns ein, mein Freund. Reden wirs uns derweil einfach ein. Und bis denn lasst uns die Zeit mit Abenteuern vertreiben."


...

Marguerite Moulin

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« Antwort #412 am: 16.11.2014, 11:49:48 »
Im Hintergrund hörte Maguerite noch das laute Krachen des Kampfes zwischen Mr. Black und dem Löwen von Jackal während McKinkai langsam zu Boden glitt. Sie konnte es nicht fassen. Es war vorbei... Und welche Ironie, da hatte der Erfinder sein Leben dem Versuch seine große Liebe wiederzubringen gewidmet und fand durch sie den Tod. Doch es war vorbei...
Erleichtert entfuhr ihr ein Lachen. Es dauerte einen Moment bis sie sich wieder eingekriegt hatte. Sie kam sich zwar ein wenig merkwürdig vor, aber was sollte. Es war ihr egal was sie die anderen dachten. Sie waren hier und sie waren am Leben, das war alles was zählte. Mit großen Schritten ging sie zu Shiver und warf ihm ihre Arme um den Hals und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund, endlich, dass hätte sie schon viel früher tun sollen. Doch sie hatte immer ein wenig Angst davor gehabt, doch sie waren am Leben allen Widrigkeiten zum Trotze. Unter sich merkte sie wie Shiver sich versteifte und den Kopf leicht nach hinten bewegte. Mit großen erstaunten Augen schaute sie ihn an, doch gerade in dem Moment betrat der Löwe den Raum. Der Moment war vorbei...
Und ihre Freude änderte sich schnell in Angst, als er ihr ein Angebot machte der Sondergarde beizutreten. Wie hatte er sie so schnell identifizieren können? Wahrscheinlich war sie einfach endlos naiv gewesen in das Hauptbüros der Schoßhündchen der Weltensänger zu gehen. "Bitte gebt mir die Chance über euer großzügiges Angebot nachdenken.", bittete sie ihn. Doch innerlich sah sie sich wie sie mit einem Ring um den Hals auf einem großen Platz stand um sie herum arme Seelen unter dem gleichen Zwang. Wahrscheinlich konnte man so etwas ähnliches wie glücklich werden, wenn man sich Simon so anguckte, aber nicht frei. All die Jahre hatte sie sich versteckt und nun war sie entdeckt worden. Das Gefühl, dass sie sich diesem Unternehmen hätte nie anschließen dürfen wurde stärker denn je. Sie wollte einfach nur frei sein; doch das war vorbei...



Die Belohnung war mehr als großzügig gewesen. Doch bevor ihr Maguerite ihren schweren Beutel mit den goldenen Münzen in ihrer Hand hatte war Shiver schon mit seiner Belohnung verschwunden. Es dauerte bis einen Augenblick bis Maguerite realisiert hatte, dass er verschwunden war. Er hatte sich, als sie ihm den Kuss gab, schon merkwürdig verhalten und nun war er weg. Sie trat durch die Tür in der Hoffnung er würde ihm Gang stehen, vielleicht an die Wand gelehnt und eine Fluppe im Mund. Doch der Gang war leer. Vielleicht wartete er vor der Kaserne. Doch auch auf dem Platz davor war nichts von ihm zu sehen. Er würde wahrscheinlich in der Kneipe, in der Maguerite arbeitete, auf sie warten mit einem dicken Krug Bier in der Hand und ihr zuprosten. Doch auch die Kneipe war leer. Nunja nicht leer, aber Siver war nicht da. Genau davor hatte Maguerite Angst gehabt, sie verstand es nicht. Sie waren doch am Leben, war dies nicht Begründung genug. Es war schon immer etwas zwischen den beiden gewesen und sie waren am Leben. War es vorbei?

Erst später ging ihr auf wie dumm und fahrlässig sie gewesen war. Sie war mit einem dicken Beutel voll klimpernder Münzen durch einen Teil von Middlesteel gelaufen in dem man sich besser nicht mit sauberen Klamotten lief, weil man alleine dadurch unliebsame Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch irgendwie war sie unverletzt und mit ihrem Geld hier angekommen. Sie warf sich auf ihre Matte und überlegte was sie als nächstes tun sollte. Eigentlich war ihr klar, dass sie hier wegmusste, man hatte sie entdeckt und sie würde nicht mit einem Ring um den Hals enden, der ihr den Kopf absprengen konnte. Das hatte sie sich vor langer Zeit geschworen. Doch sie konnte nicht einfach gehen ohne mit Shiver gesprochen zu haben. Sie hatte sich auf ihn zu bewegt und er war einfach verschwunden. Ohne ein Wort. Doch für Maguerite war es noch nicht vorbei...

Über Tage suchte sie Shiver überall. Am Hafen, in allenmöglichen Kneipen, überall doch nichts. Maguerite war nicht bereit einfach so zu verschwinden ohne wenigstens nocheinmal mit ihm geredet zu haben. Als sie Aether nocheinmal besuchte sagte er ihr, dass er ihn gesehen hatte, konnte ihr aber auch nicht sagen wo er war. Sie war so verzweifelt sogar die Baracken der Sondergarde zu betreten um Simon zu suchen, doch auch er konnte ihr nichts sagen. Je länger sie blieb, desto größer wurde ihre Angst, dass an der nächsten Straßenecke ein paar Gardisten standen und auf sie warteten um sie abzuholen. Doch immer war die nächste Ecke leer. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass es durchaus nur ein Angebot gewesen war. Nach einer Woche vergebener Suche war Maguerite soweit. Es war vorbei...
Sie packte ihre Sachen, es waren nicht viele. Sie musste hier weg. Sie wusste nicht wie lange der Löwe von Jackal Geduld mit ihr haben würde. So griff sie ihr Bündeln mit ihren Klmaotten und dem Belohnungsgeld. Ein letztes Mal ging sie alle Stellen ab an denen sie Shiver vermutete. Doch nie fand sie auch nur ein Zeichen von ihm. Sie hoffte er hatte sich nicht seinen großen Wunsch erfüllt und lag Tod in einer Gasse, niedergestreckt durch Alkohol und die Verletzungen einer Kneipenschlägerei. Je weiter sie ging desto trauriger wurde sie. Ihr einziger Halt der letzten Jahre war verschwunden. Auch wenn sie es sich lange nicht eingestanden hatte. Schweren Herzen trat sie durch eins der Stadttore von Middlesteel. Mit Tränen in den Augen drehte sie sich ein letztes Mal um. Es war vorbei...
„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Simon Hook

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« Antwort #413 am: 20.01.2015, 19:24:03 »
Es war ein angenehmes Gefühl, die feuchtheiße Beengtheit des Dschungels und danach des Schiffes wieder mit den staubigen, heimischen Straßen Middlesteels getauscht zu haben. Simon fühlte, dass er sich innerlich erlaubte, wieder zu entspannen. Hier auf den gut besuchten Wegen herrschte kaum jederzeit Gefahr, von einem riesigen Insekt oder absonderlichen Kombos angegriffen zu werden. Natürlich war die Situation dennoch nicht so, dass er sich ein ruhiges Plätzchen suchen konnte, um die Beine hochzulegen, um das Erlebte gelassen Revue passieren zu lassen. Einmal abgesehen davon, dass ihm ein ausgiebiges Training sehr viel mehr Befriedigung verschafft hätte, als zu faulenzen, blieb Mr. McKinkai so lang eine Bedrohung, bis sie ihn dingfest gemacht hatten.

Mit diesem Ziel vor Augen, war Simon froh darüber, dass alle Teilnehmer ihrer Expedition zugestimmt hatten, Hauptmann Flare Bericht zu erstatten, anstatt vorzupreschen, um von dem irren alten Mann die versprochene Belohnung einzustreichen. Wie wahrscheinlich wäre es wohl gewesen, dass McKinkai das Geld tatsächlich ausgehändigt hätte, wenn sie direkt zu ihm gegangen wären? So genau könnte dies wohl niemand von ihnen einschätzen. Schon die erste Begegnung mit diesem Mann hatte gezeigt, dass dieser unberechenbar und gefährlich war. Sehr gefährlich, unter Umständen. Nicht ohne Grund hatte Simon sich dafür ausgesprochen, nicht unvorbereitet dessen Laden voller Tötungsmaschinen zu betreten.

Das Gefühl, Zuhause angekommen zu sein, erreichte Simon allerdings erst vollkommen, als er seine Begleiter auf das Kasernengelände der Sondergarde führte. Hier hatte er, als Irrnebler gefürchtet und verstoßen von der Gesellschaft, eine zweite Familie gefunden, die er genauso wenig missen wollte wie seine erste. Scheinbar war Hauptmann Flare schon von ihrer Ankunft in Middlesteel informiert worden, da er sie bereits erwartete. Obwohl es Tote und andere Rückschläge gegeben hatte, war der junge Sondergardist zufrieden, seine Erkundungsmission erfolgreich abgeschlossen zu haben. Für ihn war es wenig verwunderlich, dass sich der Hauptmann, nachdem er über die Ereignisse im Dschungel informiert worden war, sofort zum Aufbruch bereitmachte.

Als sie McKinkais Laden betraten, durchfuhr Simon kribbelnde Aufregung. Er gedachte, sich an den Befehl Hauptmann Flares zu halten und diesem dem Kampf zu überlassen, den sie alle befürchteten, aber dennoch hatte er seine Hand am Heft seines Säbels. So verlassen die Verkaufsräume auf den ersten Blick auch wirkten: Der Übeltäter hatte sich in seiner Werkstatt verkrochen, wie ein Tier, das das Licht scheute.

Nun sollte es also enden.


Simon hakte die gerechte Strafe McKinkais, die der ironische Tod dieses Mannes wohl darstellte, nicht als erledigt ab und scherte sich danach nicht mehr darum. Die Erlebnisse der vergangenen Wochen – der Aufenthalt im Dschungel und die Abrechnung zurück in der Heimat – begleiteten in noch lange. Er erwischte sich immer wieder dabei, wie er daran zurückdachte. An die schrecklichen, aber auch an die guten Dinge. Er hatte in der Fremde, das erste Mal außerhalb der Stadt, viel lernen können. Erfahrungen zu sammeln war, wie er gemerkt hatte, tatsächlich wertvoller als alle Theorie, die man aus Büchern erlernen konnte. Die Gefahr hautnah zu erleben, im Angesicht des Feindes, ob zumindest etwas menschlich oder auch nicht, hatte ihn geprägt. Nun wusste er, was es bedeutete, mit widrigen Umständen zurechtkommen zu müssen.

Simon fühlte sich um einiges sicherer, als er zu seiner nächsten Mission, die ihn aus der Stadt hinausführte, aufbrach. Er wusste, dass er alle Schwierigkeiten, Seite an Seite mit seinen Nebelschwestern und -brüdern würde überwinden können. Wichtig war, zusammenzuarbeiten, das war ihm bewusst. Dennoch erfüllte es ihn mit Stolz, Anführer des Trupps Gardisten sein zu dürfen, den Hauptmann Flare ihm zugewiesen hatte.

Auch wenn er im Dschungel Liongelis nie Anführer gewesen war, spürte er in gleichem Maß Verantwortung für das Wohlergehen seiner Kameraden. McKinkais kleine Expeditionsgruppe hatte sich schnell getrennt, nachdem Hauptmann Flare eine großzügige Belohnung ausgeteilt hatte. Vielleicht würde er Maguerite eines Tages wiedersehen, hier in der Kaserne. Vielleicht würde ihm Carl und Aether eines Tages wieder über den Weg laufen. Vielleicht sogar Shiver.

Es würde sich zeigen.

Sicher war für Simon jedoch, dass er für jeden von ihnen ein offenes Ohr haben würde oder die ein oder andere Münze, um das ein oder andere Getränk auszugeben.

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