"Ich hätte dich nicht mitgehen lassen dürfen", sagte Hüter Orellis.
"Es ist alles meine Schuld."Du erwidertest nichts. Alles, was zu dem misslichen Vorfall zu sagen war, hattest du bereits gesagt:
zu viert sind die Menschen auf Harralan losgegangen, was hätte ich denn tun sollen? Sie hätten ihn umgebracht. Er bekam keine Luft mehr. Weit und breit war keine Hilfe zu sehen, ich musste doch zaubern. Harralan ist mein bester Freund!"Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen, nicht auf deine Beteuerungen und Bitten", fuhr Hüter Orellis fort. Immer erregter ging er auf und ab, während du dich, am Boden hockend, immer kleiner zusammenkauertest.
"Ich ahnte – nein, wusste! – dass du noch nicht soweit bist, dass du dich noch nicht genug zusammenreißen kannst, dass du noch nicht wirklich begreifst, wie wichtig es ist, dass niemand außerhalb unseres Waldes dich zaubern sieht!""Begriffen habe ich es schon, ich kenne das Gesetz", entfuhr dir da ein leiser Protest,
"aber–"
"Nichts aber!" rief Orellis.
"Genau da liegt dein Problem. Du glaubst, Regeln darf man brechen, wenn die Lage, in der man sich befindet, nur schlimm genug ist. Aber bei der Magie ist es so: die Regeln darf man niemals brechen. Außerdem, was heißt hier Gesetz: die Natur und die Magie haben Gesetze, und diese ändern sich nie. Das was die Menschen so Gesetz nennen, kann morgen schon verworfen sein. Ihr Gesetz ist so verlässlich wie ihre Versprechen.
König Maric mag, als Gegenleistung für unsere Hilfe im Kampf gegen seine Feinde, uns zugesichert haben, dass wir in unserem Wald in Ruhe gelassen würden, auch unsere Magier, das heißt aber noch lange nicht, dass sein Sohn Cailan dies 'Gesetz' nicht schnurstracks ändert, sobald auch nur ein Gerücht an seine Ohren dringt, einige seiner Untertanen seien von einer elfischen Magierin verletzt oder gar verhext worden. Deine Aktion bringt uns womöglich alle in Gefahr."Dein Gesicht brannte vor Scham. So weit hattest du nicht gedacht. Nur an die Gefahr für dich selbst: dass die Menschen dich überwältigen und töten oder, schlimmer, den Templar ausliefern könnten.
"Ich werde in Zukunft vorsichter sein", murmeltest du.
"Beim nächsten Mal werde ich—"
"So schnell wird es kein nächstes Mal geben", sagte Orellis.
"Vielleicht hast du es ja in zehn Jahren begriffen. Dann darfst du den Wald wieder verlassen.""Zehn Jahre? Aber—"
"Zwölf Jahre", sagte Orellis und seufzte.
Der Hüter ging noch eine Weile lang auf und ab, wobei er mehrmals den Mund öffnete und wieder schloss, als fehlten ihm die Worte, mit denen er deine Einsicht erzwingen könnte, und sagte schließlich:
"Es ist spät. Geh zu Bett."~~~~~~
Du konntest nicht schlafen. Wieder und wieder ging dir die Szene durch den Kopf, deretwegen Orellis dich so gescholten hatte. Wieder und wieder kamst du zu dem Schluss, dass du keine Wahl hattest.
Ein Teil deines Zugs – Jäger, Händler, Handwerker und einige Neugierige wie du – waren anlässlich des Erntefestes in das Menschendorf Waldheim gezogen, um dort zu handeln. Sie wurden auch größtenteils freundlich willkommen geheißen oder zumindest mit guter Miene geduldet. Einige Tage ging alles gut, bis Harralan – einer der besten Jäger unter euch – sich mit ein paar jungen Burschen angelegt hatte, die zu viel getrunken hatten.
Er hätte es besser wissen müssen und ihren boshaften Spott überhören sollen! Aber er hatte auch noch nicht so oft mit Menschen zu tun gehabt. Und du hättest dich von ihm nicht zu einem Abendspaziergang überreden lassen sollen, dann wärt ihr den Menschen nicht begegnet, so fern ab von eurem Lager und auch fern ab vom Dorf. Warum musste Harralan dir ausgerechnet an jenem Abend gestehen, dass er sich in dich verliebt hatte? Immer weiter hattest du dich von ihm fortführen lassen, weil du nicht wusstest, was ihm antworten. Er war dein bester Freund seit Kindestagen, du konntest nicht sagen, ob du mehr für ihn empfandest oder empfinden wolltest. Und während du noch stottertest und errötetest, liefen euch diese Menschen über den Weg, so betrunken, dass sie kaum noch torkeln konnten, aber mächtig auf der Suche nach Streit.
Nach mehreren Schlägen in Gesicht und Magengrube ging Harralan zu Boden. Da packte der Anführer der vier – Coalan hieß der Kerl und war Sohn des ansässigen Grobschmieds und genauso gebaut – Harralan an der Gurgel und drückte ihn gegen einen Baum.
"Ihr Messerohren denkt, ihr könnten hier so einfach auftauchen", zischte er,
"uns bei unserer Feier stören, unser Bier saufen und Essen vertilgen und danach auch noch unsere Mädchen begrabschen. Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du mit meiner Lili im Gebüsch verschwunden bist?" Eine plumpe Lüge, die seine Kumpane grölen ließ. Coalan grinste.
"Wisst ihr was?" fragte er über die Schulter.
"Der Kerl hier braucht eine Lektion. Wir wollen ihm mal zeigen, wie es sich anfühlt, wenn andere sich über sein Mädel hermachen."Seine Kumpane ließen sich nicht lange bitten. Zwei kamen auf dich zu, doch du beachtetest sie kaum. Harralans Gesicht war inzwischen schon ganz blau. Dieser Coalan war zu betrunken, um zu kapieren, dass er seinem Gegner die Luft abdrückte. Wenn du nicht sofort etwas unternahmst, wäre Harralan tot und du selbst... Na ja, dieses Detail hattest du nicht einmal Orellis erzählt.
Weil es nichts zur Sache tut. Es hat nicht den Ausschlag gegeben. Dafür allein hätte ich unsere wichtigste Regel nicht gebrochen, Hüter Orellis Vertrauen nicht missbraucht. Ich hätte die Zähne zusammengebissen und es erduldet. Als Elf bin ich gut im Erdulden. Seit Jahrtausenden macht mein Volk nichts anderes als alles zu erdulden, was die Menschen uns antun...Aber zuschauen, wie Harralan vor deinen Augen erwürgt wurde, das wolltest du nicht erdulden.
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Irgendwann schliefst du über diesen Gedanken dann doch ein.
Du erwachtest in einem Käfig. Du fühltest dich zerschlagen: schwere Glieder, Kopfschmerz, und dein Blick ist auch verschwommen. Du warst nicht allein. Mehrere bekannte Gesichter drängten sich um dich: Merla, Gideon, Fenris, und der Erzfeind deiner Kindertage, zerschunden und mit hängendem Kopf: Sefiron.
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