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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 57052 mal)

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Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #45 am: 12.01.2014, 19:13:41 »
Paul verlor den Blick über die Situation. Alles wurde unübersichtlich. Sein Gesichtsfeld war zunehmend eingeschränkt und das Bild schien sich zu entfärben. Er spürte die Stöße an Schülter und Hüfte kaum noch. Dafür wurde ihm übel. Die Gedanken krochen nur noch langsam durch seinen Kopf. "Was soll ich tun?", fragte er sich, "Was soll ich tun?".

Paul war sich bewusst, dass ihm das Bewusstsein schwand. In der nächsten Minute würde er zusammensinken. "Keine Möglichkeit, hier herauszukommen. Keine Möglichkeit.", sagte er sich. Er fragte sich, warum diese Situation hatte geschehen müssen. "Draußen sind die deutschen Truppen, hier drinnen zermürben sich die Menschen gegenseitig. Taumelbecher[1]Gott, nimm ihn uns wieder aus der Hand. Wer will die Tränen zählen? Ich wurde schon einmal Zeuge eines Wunders. Wende Dich nun nicht von uns ab.".

Paul sammelte sich. Es gab hier keinen Weg heraus - dann nach vorn! Noch einmal tief durchatmen. Und einen Schritt nach vorn.

"GENUG!", schrie der alte Mann und breitete die Arme aus. Er fasste Schultern und Arme und schob diese beiseite, teilte die Menge vor sich, bis er vor dem Hühnen stand. Schwer keuchend sagte er noch: "Genug. Beherrsche Deinen Zorn und lasse Dich... nicht... von ihm beherrschen. Ich bitte Dich... von Herzen, lass... Dich... nicht..."

Dann verließen Paul seine Kräfte. Er sank vorne über. Vor ihm wurde alles schwarz und er hatte die seltsame Sinnestäuschung eines Sogs, der ihn nach unten zog. Er strampelte und schwamm und wurde doch immer mehr nach unten gezogen. Ihm wurde warm, wusste aber nicht, was das bedeutete. Längst hatte er die Orientierung verloren. In alle Richtungen fassten seine Arme, doch nichts gab ihm Halt.
 1. Taumelbecher: Biblisches Motiv für das göttliche Gericht. Für seinen Hochmut und seine zahlreichen Sünden gibt Gott dem Volk den Taumelbecher zu trinken, woraufhin dieses betäubt wird und wankt. Fremdvölker können daraufhin die Schwäche des Volks nutzen.
« Letzte Änderung: 12.01.2014, 19:31:36 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Carl von Lütjenburg

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Une nouvelle ère
« Antwort #46 am: 14.01.2014, 00:50:27 »
Carls Versuche sich und Paul Platz zu verschaffen waren nur wenig erfolgreich, wo immer er es schaffte einen Franzosen wegzuschieben drängten zwei oder mehr nach. Es war ihm beinahe als kämpfe er wie einst Herakles gegen die Hydra[1]. Schon bald fand Carl sich dicht bedrängt, nur noch mit Mühe konnte er Sebastién und den Riesen vor ihm von einander abhalten und somit die sichere Eskalation noch eine Weile aufschieben. Durch das Gedränge stand er in einer unmöglichen Haltung und konnte gerade genug Kraft aufbringen, um den Status Quo zu wahren, während seine Muskeln langsam aber sicher verkrampften und er vor Anstrengung ächzte.

Das Geschrei und Gejohle drang in seinen Kopf und er glaubte sich fast zurück auf dem Schlachtfeld, den Schreien der Verwundeten und Sterbenden ausgesetzt. Sogar der Geruch der ihn umgebenden, verwahrlosten Menge rief weitere Erinnerungen an die letzten Monate in ihm hervor und Carl war als höre er aus der Entfernung das Grollen der Geschütze herüber hallen. Es war als wäre er wieder dort und fiel mit seinen Männern über die Franzosen her. Beinahe verheißungsvoll wogen nun Revolver und Yatagan[2]-Bajonett unter Carls Mantel.
Doch jetzt waren seine Männer nicht mehr bei ihm, der Letzte ging gerade neben Carl zu Boden, während er noch irgendetwas ausrief."Mach's gut Kamerad..." dachte Carl reflexhaft und tat einen weiteren Toten wie mit einem Schulterzucken ab. Es war vernünftiger sich nicht länger als nötig mit den Tatsachen des Krieges auseinanderzusetzen.

Etwas zog an seiner Kleidung und Carl blickte auf Paul Zeidler herab der gerade neben ihm zu Boden ging. Instinkt und Drill rissen den Major endlich von seiner Halluzination fort und riefen ihn ins Hier und Jetzt zurück. Reflexhaft griff er nach Paul und hievte den Priester - ohne später genau erklären zu können, wie er es vollbringen konnte - auf seine Schultern. Auf diese Weise belastet, konnte er nicht hoffen die Blanquisten und die Republikaner weiter zu trennen. Außerdem musste er Paul hier raus schaffen, vermutlich würde er Hilfe benötigen.
Gehetzt blickte er sich um, suchte einen Ausweg, als schon wieder die feindlichen Soldaten vor ihm auftauchten. Doch dies war kein Traum. Der große Mann mit dem Tischbein und die Männer hinter ihm waren nicht so gekleidet, doch Carl erkannte einen Soldaten, wenn er einen sah. Ihre Körper sahen nicht so ausgezehrt wie die der anderen Umstehenden aus. Sowohl ihre Körperhaltung als auch ihr sonstiges Auftreten verrieten sie als Offiziere.

Konnte es sein, dass der Riese Claude Lecomtes Sohn war? Aber es blieb nicht mehr genug Zeit für ernsthafte Verhandlungen oder Gespräche und außerdem war Carl schon so gut wie auf dem Weg aus der Menge heraus, wenn es denn einen solchen überhaupt geben sollte. Dennoch wollte er zumindest versuchen, den Mann zu überzeugen und sei es nur, um in dessen Gedächtnis zu bleiben, wenn Carl ihn später aufsuchen würde. Er sprach laut genug, dass der Hüne ihn hören konnte, aber leise genug um nicht von mehr Menschen als nötig verstanden zu werden.
"Sollten Sie jetzt kämpfen wird es dem Andenken ihres Vaters nicht gerecht werden und wahrscheinlich werden Sie dann keine weitere Chance dazu erhalten. Ihre Stadt, Ihr Volk und Ihr Land braucht Sie noch!"
Carl wartete nicht auf eine Antwort, lauschte jedoch weiterhin in die Richtung des Mannes als er sich Pauls Körper auf seinen Schultern noch einmal zurecht rückte und sich dann daran machte durch die ihn umkesselnden Franzosen zu brechen.
 1. Die Hydra
 2. Yatagan: In diesem Fall in Bajonettform
« Letzte Änderung: 14.01.2014, 00:53:52 von Carl von Lütjenburg »

Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #47 am: 14.01.2014, 13:08:06 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Die Menge blickte nur zum geringen Teil mit Besorgnis auf die Besinnungslosigkeit, die den viertelbekannten Prediger Paul Zeidler umfing. Dieser Platz war kein Ort des Sermons[1], nicht am heutigen Tag. Dies war nicht Paul Zeidlers Bühne und die wenigsten waren hier gewillt ihm zuzuhören. Die Menschen an diesem Ort lauschten dem aufdringlichen Dröhnen, dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Jenes untrügliche Zeichen, dass Gewalt in der Luft lag. Es roch nach Adrenalin, aufdringlich nach dem Schweiße des männlichen Geschlechts, nach alten Lederstiefeln und ein wenig nach Aufregung und Angst. Der Unrat auf den Straßen verbesserte diesen Geruch nicht. Es war der Geruch eines heruntergekommenen Ortes, an dem die Gewalt und nicht mehr die Ordnung regierte. Das öffentliche Leben wollte sich gerade wieder beruhigen, nachdem die Belagerung durch die deutschen beziehungsweise preußischen Truppe endete, doch seit dem 18. März war die Lage wieder zerfahren und angespannt.
Der Monat März war nach dem römischen Kriegsgott Mars[2] benannt und würde man nur diese Tage in Paris betrachten, würde man eine leise Idee davon bekommen, warum dies so war.

Carl spürte, dass es höchste Zeit war, diesen Ort zu verlassen oder zumindest aus der Mitte dieses Schmelztiegels[3] zu entfliehen, in denen zu viele unterschiedliche Metalle vor sich hinschmolzen und da es sowieso ohne sein Zutun brannte, und er als Chemiker wusste, dass es bei Metallbränden[4] nicht sinnig war, Wasser hinzuzugeben, tat er wohl gut daran, den älteren, besinnungslosen Herren aus der Mitte zu zerren. Er warf ihn sich über die Schultern und nur schwerlich konnte er sich seinen Weg zwischen den Männern hindurch bahnen. Er spürte das schlaffe Gewicht des Mannes auf seinen Schultern, und dass ihm in der Hitze des Momentes schnell die Kräfte zur Neige gingen. Doch sein Wille und auch die Einsicht mancher Personen, ermöglichten es ihm, sich aus dem Kreis von Gewaltbereiten zurückzuziehen. Es waren ausgerechnet jene junge Männer, die er als Offiziere zu identifizieren glaubte, welche ihn und Paul ziehen ließen und nach einigem, anfänglichen Gedränge eine kurze, sich schnell wieder schließende Gasse bildeten, durch die Carl Paul in Sicherheit bringen konnte. Doch Carl wurde in Gedanken verfolgt, von dem Blick, den der junge Mann mit dem Tischbein ihm zugeworfen hatte. Ein kurzer Moment des Schrecks, ein kurzer Moment, in dem er sich ertappt fühlte und zeigte, verdrängt von einem eindringlichen Blick aufschäumenden Zornes. Sein Blick streifte Carl nur kurz, weiter reagierte er nicht auf den Preußen und seine Worte, den er sicher nicht als solchen erkannte. Sein Blick richtete sich wieder auf Sébastien. Als müsste er sich selbst Mut zusprechen, sprach er mit seiner unverwechselbaren Bubenstimme. "Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.[5]"

Die Reihen schlossen sich hinter Carl sofort und der Lärm wurde mehr. Die Kontrahenten rückten sich nun immer näher, vorsichtig wagten sie Schritt um Schritt, bereit im nächsten Augenblick wie ein Vulkan auszubrechen. Das Magma war Gewalt, der Druck stieg ins Unermessliche, als der Mann mit dem Tischbein als Waffe sich Sébastien bis auf wenige Zentimeter näherte. Beinahe drohten ihre Nasen sich zu berühren. Es gab kein Entweichen mehr, nicht bei zwei Menschen, die die Gewalt suchten. Der junge Mann hatte einen entschlossenen, zornigen Blick. Er würde nicht weichen. Es war unwahrscheinlich, dass Sébastien wich. Hinter sich spürte der junge Arbeiter, dass François sich ihm näherte, sich zwischen die Leute schob, um neben Sébastien schob. Trotz seiner noch nicht verheilten Wunden wollte er nicht von der Seite seines Freundes weichen, so unvernünftig es auch war. Mit dem Auftauchen der jungen Männer, die Streit mit Sébastien und François suchten, ging es bei weitem nicht mehr nur um politische Auseinandersetzungen. Die Art, wie die jungen Männer sich zwischen die Streitenden geschoben hatten, deutete eine unbekannte, aber doch greifbare persönliche Komponente an. Carl von Lütjenburg hatte sie, seinen Worten nach zu urteilen, auch gespürt. Das war auch für François und Sébastien spätestens seitdem klar. Von welchem Vater mochte die Rede sein? Viel Chance darüber nachzudenken würde es wohl nicht mehr geben.

Und so standen sie sich gegenüber. Carl hatte Paul noch auf dem Arm und konnte nicht genau sehen, was vor sich ging. Die Hüne überragte die meisten Streitenden. Er stand relativ in der Mitte, wo Carl selbst noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Außerhalb der Traube von Gewaltbereiten erkannte der preußische Offizier, dass sich einige Schaulustige in ausreichender Entfernung postierten, an mehreren Stellen, vielleicht um die vierzig Zuschauer. Zwischen ihnen war eine Gestalt, die er bereits bei Pére Groues gesehen hatte. Ein Mann mit blondem Schnauzer und einem auffälligen Kalabreser auf dem Haupt. Er strich sich ausgenommen zufrieden über den Bart und betrachtete sich den Streit mit einer seltsamen Genugtuung.

Dann verschwand er zwischen den Menschen und Carls Aufmerksamkeit wurde von einem Schmerzensschrei aus der Traube der Menschen gefordert. Der erste Schlag war ausgeteilt. Jemand hielt sich die blutende Nase, ein Aufschrei. Die Traube ging in Lärm unter, Fäuste flogen, nur im Auge dieses Sturmes blickten sich zwei Männer zornig in die Augen, darauf wartend, wer zuerst zuschlug[6].
 1. Sermon
 2. Mars
 3. Diese Metapher findet übrigens ihre Verwendung in der Literatur seit dem französisch-amerikanischen Schriftsteller namens Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur
 4. Metallbrand
 5. Bekannt ist dieses Zitat, weil der frisch in den Ruhestand übergetretene Kabarettist Georg Schramm ihn gerne nutzt. Er wird in unterschiedlichen Gewichtungen und unterschiedlicher Lesart entweder Thomas von Aquin oder Papst Gregor I. zugesprochen.
 6. Wahrnehmungwurf. Er bestimmt die Reihenfolge der Handelnden. Jeder, der am Konflikt irgendwie teilnehmen möchte, darf einen solchen Wurf machen.
« Letzte Änderung: 14.01.2014, 13:10:28 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #48 am: 15.01.2014, 21:51:59 »
Es war Sébastien, der begann. Um sie herum flogen bereits Fäuste und Beschimpfungen und der junge Arbeiter hatte keine Geduld mehr übrig für aufplusternde Worte und böse Blicke. Der Tischbeinhüne provozierte Sébastien, der Kerl suchte offenkundig nach Streit und Schlägen, obwohl er dennoch zögerte, einen Anfang zu machen. Sébastien war der Grund dafür egal, vermutlich hatte dieser lächerliche Trampel einfach ein großes Maul. Sie würden bald herausfinden, ob dieser es berechtigt weit aufriss oder sich in Wahrheit nur hatte aufspielen wollen.

Nun, da dieser Charles und der alten Prediger nicht mehr im Weg waren, stand niemand mehr zwischen ihnen. Es hatte Sébastien überrascht, dass Paul Zeidler auf einmal zusammengesackt war, und er wäre diesem auch zur Hilfe geeilt, um ihn aus der gefährlich aufgewühlten Menge hinauszubringen, wäre Charles ihm nicht zuvorgekommen. Vielleicht wäre es dann ganz anders gekommen. Vielleicht hätte Paul Zeidler schlussendlich und auf nicht freiwillige Art doch noch erreicht, dass Sébastien sich zurückgezogen und vom Sprechen seiner Fäuste abgesehen hätte. Vielleicht hätte Sébastien die Chance genutzt, Charles zu fragen, wer der Hüne war und was es mit dessen Vater auf sich hatte – immerhin schien Charles den Mann mit der dünnen Stimme erkannt zu haben. Doch die Situation hatte ein anderes Ende gefunden.

François an seiner Seite wissend und diesen noch immer beschützend wollend, schlug Sébastien zu.[1]
 1. Nahkampf +3
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #49 am: 16.01.2014, 23:09:26 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Und so war es Sèbastien, der zuerst die Faust fliegen ließ. Ihre Gesichter, ihre Nasen, trennten sich voneinander, innerhalb dieser einzelnen Bewegung holte Sèbastien flüssig zum Schlage aus, während der junge Mann mit dem Tischbein instinktiv die Arme erhob und sie überkreuzte. Sébastiens Schlag traf auf die den linken Arm, und das mit einiger Kraft, mit der Gewohnheit eines faustrechtlich denkenden Menschen. Der junge Mann wich einen halben Schritt zurück, um die Kraft des Angriffes abzuschwächen und es gelang ihm weitestgehend. Vielleicht würde er ein kleines Hämatom zurückbehalten, aber die Kraft des Angriffes war abgeschwächt und es war nun an ihm, den Angriff zu erwidern. "Haltet mir die anderen vom Hals.", rief er seinen Gefährten zu, welche sich sofort aufmachen wollten, seinem Befehl Folge zu leisten. Die Hackordnung innerhalb dieser kleinen Gruppe war schon zu offenkundig, sodass sie keine einfachen Schläger waren oder zumindest darin gut organisiert.

Doch es waren nur zwei seiner Begleiter, welche versuchten, die sich nähernden Menschen aus dem Weg ihres Rädelsführer und in den Weg Sébastien Moreaus zu schubsen. Doch sowohl die älteren Männer, welche sich den jüngeren Blanquisten stellten, als auch jene selbst sahen sich nicht veranlasst auch nur einen Schritt zu weichen und dem Mann mit dem Tischbein Platz zu machen. Ganz im Gegenteil. Sébastien nahm am Rande war, wie mehrere Männern ihn anbrüllten und einer gar versuchte, ihm das Tischbein aus der Hand zu reißen. "Haltet sie mir fern!", rief er jetzt noch lauter, doch es half nichts. Wütend versuchte er den Mann abzuschütteln, während sein verbliebener Mitstreiter nur mühsam unter dem Schlag François wegtauchte und dennoch am Übergang von Nacken zur Schulter getroffen wurde[1]. Der junge Mann mit seinen blonden Haaren und der sonst so geraden Haltung, zuckte heftig zusammen und krümmte sich etwas vor Schmerz, nur um selbst verbissen zum Schlag anzusetzen statt seinem Anführer zu helfen, Sébastien in Schach zu halten. Ein einfacher, geschwungener Faustschlag, den der Mann in seinem Schreck, in seinem Schmerz nicht wirklich zielte, und das obwohl François' Nase und das diese umgebende Hämatom gerade zielscheibenartig im Zwielicht des nassen Morgens leuchteten. Es war ein leichtes für den besten Freund Sébastiens, diesen Schlag zu blocken.

Endlich riss sich der Mann mit dem Tischbein von diesem in der Menge verschwundenen Arm, der ihn das Barrikadengut entwinden wollte, los. Er holte seitwärts aus und schlug zu. Wieder kam der Arm, der zu einem älteren Herren in einfachem, abgetragenen schwarzen Anzug, der wohl denen angehörte, die vorher Republikanerschweine geschimpft wurden, gehörte, hervor und riss am Arm, nicht wirkungsvoll, aber so ausreichend, dass ein Zielen unmöglich und der junge, zornige Mann einfach aufgrund seiner Kraft weiter am Tischbein riss und es in Moreaus Richtung presste[2].
 1. Das reicht für die erste Konsequenz bei dem jungen Aufwiegler. Ich bestimme eine Schlüsselbeinprellung. Siehe Télégramme künftig für solche Details.
 2. Ausweichen gegen +0 bitte. Ergebnis wieder selbst beschreiben. :)
« Letzte Änderung: 16.01.2014, 23:14:26 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #50 am: 18.01.2014, 20:25:50 »
Sébastien gelang es mit Leichtigkeit, dem Tischbein auszuweichen, das der Hüne ihm entgegenstieß, indem er, begleitet von einem kleinen Schritt nach hinten, seinen Oberkörper zur Seite drehte. Das Gedränge schränkte seine Bewegungsfreiheit erheblich ein, dennoch war die Menge auf François' und seiner Seite. Sie versuchten, dem Hünen das Tischbein zu entreißen.

Feige, nichts anderes war dieser zu groß gewachsene Kerl, der mit Waffengewalt gegen bloße Hände antrat, jedoch ließ sich Sébastien davon und von dessen Leibwächtern nicht einschüchtern. Besonders das Tischbein lieferte ihm in diesem Moment eher einen Vorteil. Er selbst sah davon ab, zu versuchen, seinen Gegner entwaffnen, denn solange der Hüne seinen improvisierten Knüppel umklammerte, würde er damit beschäftigt sein, gegen die Menge anzukämpfen, die ihn ihm entreißen wollte, anstatt seine weniger sperrigen Fäuste zu verwenden.

Erst wenige Tage waren seit Sébastiens letzten Schlägerei vergangen, die ebenfalls hier auf dem Place Blanche stattgefunden hatte, und wieder waren sein bester Freund und er mitten im Getümmel. Es versprach, spannend zu werden. Das Ende dieser Auseinandersetzung war jedenfalls noch ungewiss, standen sie doch einer Überzahl an Gegnern gegenüber und waren umzingelt von vielen Leuten, die sich jederzeit einmischen konnten – aus freien Stücken oder unfreiwillig. Bisher schlug François sich nicht schlecht, wie Sébastien nebenbei registrierte.

Er war noch immer wütend, jedoch durchflutete ihn nun auch der Rausch des Kampfes. Süßes Adrenalin brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen und er fühlte sich lebendig. Es war Freiheit, die er spürte, Freiheit und Kameradschaft. Zusammen würden sein Bruder im Geiste und er sich behaupten können. Sébastien gab sich diesem Rausch hin. Sein erster Schlag mochte abgeblockt worden sein, doch der Kampf hatte erst begonnen und das Glück war mit den Tapferen. Sein Hochgefühl machte den jungen Arbeiter siegessicher. Gefüttert davon, fiel sein nächster Fausthieb schneller und stärker als der erste aus.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #51 am: 21.01.2014, 07:54:15 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:14 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Das eilige Gedränge wurde unübersichtlicher, je mehr Sekunden nicht nur rasend, sondern auch in Raserei vergingen. Sébastien spürte ein Gedränge, ein Geschubse, irgendwo im Rücken streifte ihn, schmerzlos, ein Ellenbogen, der sich seinen Weg in das Gesicht eines Widersachers bahnte. Ellbogenschläge waren, so sie gemeistert wurden, ein hervorragendes Mittel, um mit wenig Aufwand Blutungen und Narben im Gesicht des Widersachers zu hinterlassen. Ein solcher Schlag, wenn nicht gerade mit der Spitze des Ellenbogens ausgeführt, war häufig mehr auf moralischen Effekt denn auch den entscheidenden Schlag ausgelegt, wenngleich er auch als solcher geführt werden konnte.
Die Schlachtlinien, wenn man zu diesen Übertreibungen neigte, waren nicht mehr so klar zu erkennen. Sébastien wähnte Verbündete neben sich, aber nun auch vor sich, während Feinde sich dazwischen drängten, nicht anders als hätte man ein Gefäß, in dem Öl und Wasser übereinander lagen, für einen Moment heftig geschüttelt, sodass es merkwürdig durcheinander und doch nicht zusammengehörig aussah. Einer der jungen Männer, der dem Mann mit dem Tischbein zu Diensten war, drängte - oder wurde gedrängt von der sich keilenden Masse - sich langsam in Sébastiens Rücken.

Der junge Mann mit dem Tischbein sah den Schlag Sébastiens auf sich zukommen. Es war einer dieser unheilvollen Momente, wenn man sich völlig bewusst darüber war, was dort auf ein eindrang, einprasselte, was einen verletzen würde. Seinem Gesicht war die Hilflosigkeit darüber anzusehen, der kleine Schrecken, der verriet, dass seine Fäuste nicht annähernd so viel Erfahrung hatten wie die des jungen Moreau. Er ahnte, dass der Schlag kommen würde und das er mit einer Kraft kommen würde, der er wenig entgegenzusetzen hatte. Er war erfahren genug, um zu sehen, wie das Bein Sébastiens kurz mit dem vollen Gewicht belastet wurde, wie die Hüfte wirbelte und dabei leicht einknickte, um allen Schwung und alles Belastungsgewicht in die Faust zu legen, wie die Schulter sich erst leicht zurückbewegte, um noch mehr Impuls zu generieren. Simultan handelte der junge Mann mit dem Tischbein, zog einen beliebigen, älteren Mann einfach aus dem Schubsen mit einem jüngeren Blanquisten, wollte ihn vor sich in Stellung bringen[1]. Der ältere Mann wehrte sich, und gab doch wenige Zentimeter nach, erschrocken von der plötzlichen Richtungsänderung, gerade genug um in den Schlag von Sébastien geschoben werden zu können. Doch die Faust war schon unterwegs, Sébastien spürte, wie jetzt seinerseits sein Ellenbogen den Rücken eines anderen, des älteren Liberalen, streifte, wohl nicht schmerzlos. Der Schlag wurde abgelenkt, der Mann fiel von oben auf den ausschlagenden Ellenbogen des jungen Kommunisten, also wurde er nach unten abgelenkt. Das Gesicht des Mannes mit dem Tischbein lag damit außer Reichweite, er riss dennoch halbherzig den rechten Arm hoch, um sein Kinn zu schützen. Ein Fehler, dessen Kommunisten Schlag war unausweichlich. Sébastien traf den Körper auf der ungedeckten, rechten Seite knapp unter dem Rippenbogen. Ein schmerzhafter Leberhaken, der den jungen Mann mit dem geraden Rücken einen lauten Schmerzenslaut ausschreien, ihn wild zusammenzucken und ihn kauern ließ. Dieser spuckte wütend aus, während er sich nur unter großen Schmerzen wieder aufrichtete[2].

Sébastien sah jetzt, wie der Hüne beinahe alleine in der Menge stand. Seine Gefährten hatte ihm gewaltsam Platz gemacht. Während Sébastien in Verteidigungshaltung gehen wollte oder gar den nächsten Schlag ansetzte, spürte er, wie ein Körper gegen den seinen prallte. Er kam etwas aus dem Gleichgewicht, stolperte einen Schritt nach rechts. Der ältere Herr, den Sébastien mit seinem Ellenbogen gestreift hatte, versuchte einfach nach einem jungen Widersacher vor sich zu schlagen, wurde auch geschubst. Wieder wurde Sébastien unvorbereitet getroffen. Diesmal drohte er sein Gleichgewicht ganz zu verlieren. Er spürte, wie seine Füße auf dem nassen Kopfsteinpflaster nachgaben und wegzurutschen drohten. Aus dem Augenwinkel konnte Sébastien immerhin sehen, wie einer der jungen Aufwiegler zu Boden ging. François traf ihn genau am Kinn, als der junge Aufwiegler selbst durch die heftigen Bewegungen der um sich schlagenden Masse aus dem Gleichgewicht kam. Ein Fehler, den der junge Mann mit der Besinnungslosigkeit bezahlte. Innerhalb der Masse ging er zu Boden. Ein anderer trat gleich versehentlich auf den Bewusstlosen und geriet ins Stolpern, genau in Sébastiens Richtung, und just in diesem Moment, sah Sébastien mit Schrecken, dass ein Tischbein mit brutaler Gewalt nach ihm geschlagen wurde[3].

Carl von Lütjenburg sah die schnelle, rabiate Natur einer großen Schlägerei. Bereits nach wenigen Sekunden, es mochten vielleicht nicht mehr als zwanzig Sekunden vergangen sein, sah er die ersten Schwellungen in den Gesichtern einiger Beteiligter, blutende Nasen, und einen, der bereits bewusstlos geworden war. Er sah, wie zwei gedrungene Männer einen der jungen Offiziere aus der keilenden Mitte zogen, damit er nicht in diesem Furor zu Tode getrampelt wurde. Achtlos wurde er an den Rand geschleift, im Rinnstein liegen gelassen, während er aus dem Mund blutete. Die zwei Männer gingen zurück an ihr blutiges, wütendes Werk. Der junge Mann lag jetzt da, wie Paul noch halb in den Armen des preußischen Offiziers lag. Bewusstlos, wohl aber übler zugerichtet als der ältere Herr, doch keine zehn Meter von Carl entfernt.
In der Ferne erkannte jedoch Carl noch etwas anderes. Zwei, drei Männer verließen den Platz in nördliche Richtung, laut rufend, was sich dort auf dem Place Blanche zutrug. Es schein Carl, dass sie nun aufbrachen, um ein paar Nationalgardisten zu informieren über die blutige Schlägerei, welche den weißen Platz wieder in einen roten zu tauchen drohte...
 1. Dafür gibt der Mann einen Schicksalspunkt aus.
 2. Du fügst dem Mann seine erste Konsequenz zu: Angeschlagene Leber
 3. Du darfst einen Athletikwurf gegen Großartig (+5) ablegen - leider haben deine Widersacher einen kritischen Erfolg verbucht, um dich durch das Gedränge in deinen Wegen zu stören - sonst bekommst du für deine Verteidigung und deinen nächsten Angriff einen Malus von -2 (normalerweise -1, aber wegen des kritischen Erfolges eben ein höherer Malus).
« Letzte Änderung: 21.01.2014, 08:55:14 von Menthir »
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Paul Zeidler

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« Antwort #52 am: 26.01.2014, 22:38:54 »
Undeutlich, und wie durch einen dichten Schleier, erkannte Paul Bewegungen und hörte aufgeregte Rufe und ersterbendes Aufstöhnen. Sein Verstand konnte mit diesen Eindrücken aber noch nichts anfangen. Paul drehte den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Er fragte sich für einen Moment, ob er inmitten der Menge lag und sie ihn in den nächsten Momenten zertreten würden. Er fragte sich, warum er keine Angst hatte. Doch dann wurde er sich des Druckes auf seinen Bauch bewusst. Und er realisierte auch, dass er diese Perspektive vom Boden aus gar nicht haben konnte. Er tastete mit seinen Händen und spürte Stoff und bekam einen Arm zu fassen. Da wurde ihm bewusst, dass er getragen wurde. Und auch verstand er, dass er den Krawall nicht hatte verhindern können. "Ich weiß nicht...", flüsterte er kraftlos.
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Sébastien Moreau

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« Antwort #53 am: 26.01.2014, 23:48:43 »
Die Freunde des Tischbeinhünen schafften es, Sébastien aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Gerangel, Geschubse und Gedränge zwang ihn, seine Aufmerksamkeit von seinem Gegner abzuwenden - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, reichte das diesem, die Chance zu ergreifen und die Lücke in Sébastiens Verteidigung auszunutzen. Das Herz des jungen Arbeiters, der sich einen Moment zuvor noch übermächtig gefühlt hatte, hatte sein letzter Hieb doch so vortrefflich gesessen und dem Hünen schmerzhaft zugesetzt, schien für einen Schlag auszusetzen, als er die splittrige, hölzerne Waffe auf sich zurauschen sah. Er konnte nicht mehr tun, als aus einem Reflex heraus den Kopf einzuziehen und ihn mit seinen Armen abzuschirmen. Das Tischbein erwischte mit beißender Wucht seine relativ ungeschützten Brustkorb, was Sébastien den Atem für einen Aufschrei raubte. Dumpf und brennend und heftig war der Schmerz, der ihm die Luft aus der Lunge trieb und ihn dazu zwang, kurz danach zu ringen, bevor er zu einem wutgesteuerten Konterschlag ansetzte, der dementsprechend unpräzise ausfiel.
« Letzte Änderung: 27.01.2014, 14:46:22 von Sébastien Moreau »
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Carl von Lütjenburg

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« Antwort #54 am: 27.01.2014, 01:51:52 »
Carl schleppte sich und den bewusstlosen Paul Zeidler aus der Gefahrenzone heraus. Mal schob er, mal drängelte er und doch kam er nur quälend langsam voran. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit entkam er der Menschenmenge, deren Gejohle und Geschreie immer rasender wurde und schließlich in einer Schlägerei kulminierte. Den ersten Schlag konnte Carl selbst nicht sehen, wohl aber spüren. Wie ein Blitz zuckte es durch die Menschen hinter ihm, elektrisierte sie alle. Danach war es wie, wenn man eine gewisse Menge Schwarzpulver in Brand steckte - einen kurzen Augenblick lang brennt eine einzelne Flamme, während sich mit einem Brausen - zunächst gemächlich, doch dann immer schneller - der Rest der Menge entzündete.

Immerhin, dachte er nicht ohne eine gewisse Verachtung für die Pariser, als hinter ihm endgültig das völlige Chaos ausgebrochen war, trifft es fast immer den Richtigen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich so etwas in Berlin ereignen mochte. Berlin, Carl ertappte sich dabei, wie er in einer Anwandlung von Heimweh leise seufzte, als er nach einem sicheren Platz suchte, wo er Paul absetzen und sich um diesen kümmern könnte. Gewohnheitsmäßig verjagte er rasch die Gedanken an Frau und Heimat, wie er es jedes Mal tat, wenn sie ihn heimsuchen wollten und blickte sich weiter um, als er jemanden wiedererkannte: Der Mann mit dem Kalabreserhut.

Ein unheilbringender Geist, dem Aberglauben der einfachen Leute entsprungen, so stand der Mann  dort drüben. Er sah aus, wie jemand, der zufrieden die Arbeit des Tages betrachtet, machte sich aber gleich wieder davon, so dass Carl aus einem Impuls heraus folgen wollte. In diesem Augenblick erinnerte Paul den Major jedoch durch ein Murmeln, das Carl nur mit Mühe noch verstehen konnte, an seine Anwesenheit. Angestrengt spähte er dem verdächtigen Mann hinterher, wohin dieser ging und ob ihm jemand folgte, doch standen dort wieder etwas mehr Menschen, was die Situation unübersichtlich machte.[1]

Carl gab es auf und trug Paul einige Schritte weiter zu einem Hauseingang, der vom Platz her etwas abgeschirmt war. Behutsam ließ er den alten Mann auf die oberste der fünf Stufen ab, die zur Haustür führten und lehnte ihn an eine Seitenwand. Es schien als würde der Prediger langsam wieder zu sich kommen, doch Carl wollte nicht darauf warten und tätschelte sacht Pauls Wange, um den Prozess etwas zu beschleunigen.

"Herr Zeidler. Sie haben für kurze Zeit das Bewusstsein verloren." Carl sprach mit ruhiger aber dennoch eindringlicher Stimme auf Paul ein. Ich bin es. Carl von Lütjenburg. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind wohlauf. Er sprach deutsch und seinen Namen färbte er ebenfalls nicht mehr im Lokalkolorit. "Bitte reißen Sie sich jetzt zusammen, Herr Zeidler. Wir müssen diesen Ort verlassen. Können wir vielleicht in die Rue de Doutes gehen?"

Während er Paul etwas Zeit gab um weiter zu sich zu kommen, genehmigte sich Carl selbst einen Augenblick der Ruhe, schloss die Augen und atmete tief durch.
Der Kalabreser. Lecomtes Sohn - Carl hatte das Erkennen in den Augen des Jungen gesehen und war sich nun sicher. Die Blanquisten. Die Lavalles - Herrgott die verfluchten Lavalles! Die Situation hatte heute eine furchterregendes Potential für Unheil in jeglicher Form angenommen und Zahl von Carls Gegenspielern war weiter angewachsen.
 Vermutlich war der einzige Trumpf in Carls Hand, dass noch keiner wusste, dass er hier war und wer er wirklich war. Doch dieser Trumpf war flüchtig und verschaffte Carl lediglich den Vorteil, dass er vielleicht noch ein paar Tage hatte, während derer er versuchen konnte, seinen Rückstand, was Kontakte und Informationen anging, wieder gut zu machen. Sobald man ihn erkannte, wusste man ebenfalls, dass die Preußen mitten in der Stadt ihre Fäden zogen. Ob dies nun zu Wohl oder Wehe der Pariser war, würde dann unwichtig sein. Im besten Fall würde seine Arbeit dadurch schwieriger werden, im schlimmsten Fall müsste er sich darum keine Gedanken mehr machen.
 Das kommt eben dabei heraus, wenn man sich zu laut darüber beschwert, dass die Arbeit im Stab zu eintönig ist, dachte er und blickte wieder Paul an.

"Wie geht es Ihnen?... Ich glaube ich brauche Ihre Hilfe, Paul."
 1. Wahrnehmung: -1

Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #55 am: 30.01.2014, 13:06:27 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:14 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François blickte dem Mann hinterher, dem er die Besinnung gewaltsam genommen hatte. Trotzig reckte er das Kinn. Eine provozierende, eine mutige Geste, wusste doch jeder Schläger, dass das Kinn eine der empfindlichen Stellen am menschlichen Körper war. Gerade jene, welche diese neu entstandene, britische Sportart des Boxens beobachteten oder davon hörten[1], wussten auch davon. Gewalt gegeneinander wurde instrumentalisiert und zum Vergnügen, zur Unterhaltung - auch vor allem höherer Schichten - stilisiert, und die Schaulustigen am Place Blanche bewiesen das Potenzial dieser Instrumentalisierung. Die Gesten zwischen dem professionellen Boxer und dem geübten Schläger waren dieselben und doch war in François' Augen etwas, welches das Kinn zur reinen Geste machte und nicht zur inneren Überzeugung. Die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers war dem jungen Freund Sébastiens in diesen Momenten besonders bewusst. Ein Schlag auf seine Nase und er würde ebenso aus der Menge geschleift werden oder er würde gar niedergetrampelt werden. François reckte das Kinn noch weiter vor und fluchte in seiner Muttersprache. "Kommt doch her, wenn ihr euch traut! Ich schicke euch gleich hinterher!", ein wahngleicher Ausdruck verdrängte die Furcht in den Augen für einen Moment, lange genug, um die beiden jungen Aufwiegler, die Sébastien das Leben schwer machten und geschickt die Masse gegen seinen Freund einsetzten, innehalten zu lassen und einen Schritt vor François zurückzuweichen[2]. Die umstehenden Menschen schüttelten die beiden Aufwiegler für einen Moment ab und Sébastien konnte wieder freier handeln, spürte nicht permanent Ellbogen, Knie, Glieder aller Art in seiner Seite, sah sich nicht mehr hin und hergestoßen.

Der Gegenschlag jedoch, den er nach dem schweren Treffer auf den Solar Plexus loslassen wollte, luftlos, kraftlos, prallte wirkungslos an den erhobenen Armen des jungen Mannes mit der hohen Stimme ab. Er spürte, dass sein Treffer ein erfolgreicher war, dass er Sébastien weggetan hatte. Dass ihm jetzt die Luft fehlte und jeder Schlag würde diesen Zustand verschlimmern, wenn er nicht wieder zu Luft kam[3]. Er versuchte dies auszunutzen. Schnell erhob er sein Tischbein erneut und schlug es diagonal von oben nach unten, um Sébastien jetzt ebenfalls in die Besinnungslosigkeit zu schicken.

Carl hatte aufgrund seines Blickwinkels nur die Wahl, den Mann mit dem Kalabreser einen Moment zu verfolgen, um mehr zu sehen oder sich um Paul Zeidler zu kümmern. Und in diesen Zeiten der Krise wusste man nie, was mit bewusstlosen Männern passieren würde, wenn sie am Straßenrand lagen. Mit viel Unglück würden sie beraubt werden, also hatte Carl umsichtig genug gehandelt, den Mann nicht weiter zu verfolgen. Aus den Augenwinkeln sah Carl, und nun auch der wiedererwachte Paul, immerhin, dass der junge Aufwiegler, der aus der Menge getragen wurde, langsam wieder zu sich kam, aber noch benommen am Boden lag. Seine füllige Gestalt erinnerte, wie er dort hilflos im Rinnstein lag und sich langsam vor Schmerzen krümmte und dann mit glasigem Blicke aufsetzte, nicht wirklich an die eines tapferen Schlägers. In seinen Augen war neben Schmerz jene Reue zu lesen, die man erfuhr, wenn man merkte, dass eine Tat reichlich unüberlegt gewesen war und sich gegen einen ausgespielt hatte, auch wenn er scheinbar noch nicht ganz wusste, wo er wieder war. Reflexhaft schlug er ein, zwei Mal um sich, als wäre er noch in der Menge und hatte noch gar nicht realisiert, dass er im Rinnstein lag. Dann wurde er langsam klarer, seine Bewegungen wurden gemessener. Er hielt sich das Kinn vor Schmerz und saß still da. Seine braunen, halblangen Haare hingen ihm schweißnass im Gesicht, welches von Schmerz verzehrt grimassenartig verzogen war. Sein fülliges Gesicht zeugte von gesunder Ernährung bei minimaler körperlicher Ertüchtigung, auch wenn er nicht als dick zu bezeichnen war.

Irgendwo in der Ferne hörte man eine Trompete oder ein ähnliches Blasinstrument gehen. Hatten die Männer, die davongelaufen waren, die nächsten Nationalgardisten informieren können?
 1. 1867 wurden die sogenannten Queensberry-Regeln im Boxen eingeführt, welche bis heute die Grundregeln im Boxen darstellen. Vorher hat es unterschiedliche andere Regelungen gegeben, die aber nur noch zum Teil im Boxen zu finden sind.
 2. Die beiden jungen Aufwiegler bekommen eine geistige Konsequenz.
 3. Ausdauerwurf gegen Durchschnitt (+1), ansonsten geht dir die Puste aus, solltest du etwas Anstrengendes tun (also jeder Punkt, den du drunter bist, bekommst du als Belastungspunkte).
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Paul Zeidler

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« Antwort #56 am: 03.02.2014, 01:14:30 »
Paul spürte die leichten Schläge an seiner Wange und blickte von Lütjenburg ins Gesicht. Er fühlte sich noch immer etwas benommen, doch so langsam kam er wieder zu Sinnen und verstand, was geschehen war. Er blickte an von Lütjenburg vorbei und sah auf die Menge, die in eine Schlägerei verwickelt war. Paul spürte, wie sich sein Magen verzogen, als er an Sebastien dachte. Vielleicht war er schon in jenem Moment zu Boden gegangen und die Masse trampelte über ihn hinweg.

Paul musste sich über sich selbst ein wenig wundern. Der junge Mann hatte sich als starrsinnig erwiesen (geradezu 'verstockt', wie es in der Bibel hieß) und er hatte sich auf's Äußerste von Paul distanziert. Ja, und er selbst, Paul, hatte ja auch schon gesagt, dass er den jungen Mann verloren wüsste. Aber doch, er konnte den jungen Mann nicht in sein Unglück ziehen lassen. "Immer um die verlorenen Schafe besorgt. Berufskrankheit, nehme ich an.", dachte er und seufzte innerlich.

Doch im Moment konnte er nichts weiter tun.

"Es geht schon wieder. Danke... für Ihre Hilfe", sagte Paul schwach zu Lütjenburg. "Ich... ähm... bedauere, dass ich die Schlägerei nicht verhindern konnte. Und vielleicht wären sie jetzt lieber in der Menge?", fragte er und versuchte die Miene von Lütjenburgs zu lesen. Es war Paul sehr unangenehm, bewusstlos geworden zu sein. Wie hatte ihm das passieren können, noch dazu als ehemaligen Corpsbruder?

"Ähm..., ja. Ich weiß nicht wie ich Ihnen helfen kann. Aber wir können zur Rue de Doutes gehen. Ich glaube, ich kann aufstehen.", sagte er.
« Letzte Änderung: 03.02.2014, 01:15:46 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Carl von Lütjenburg

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« Antwort #57 am: 05.02.2014, 21:01:24 »
Carl sah den Mann, dessen erste Worte eine unsinnige Entschuldigung waren, verwirrt an, half ihm dann jedoch auf die Beine. Noch einmal blickte er zu dem kämpfenden Pöbel hinüber und nahm dabei dann auch eine Art Trompetenlaut wahr - vermutlich würde es gleich noch unangenehmer sein, wenn man sich weiter hier aufhielt.

"Lieber in der Menge?", fragte er Paul abwägend, doch wirklich abwägend sah seine Miene nicht aus, eher verdrossen oder auch besorgt. "Ich denke, das wäre ich wohl lieber nicht. Allein in einer Meute blutrünstiger Franzosen... da gehe ich lieber mit Ihnen spazieren." Carl erlaubte sich ein schwaches aber freundliches Lächeln als er sich in Bewegung setzte und lotste sie in Richtung Rue de Doutes.



Auch wenn die Strahlen der Morgensonne darauf schienen, so wirkte das Haus in der Rue de Doutes immer noch klein, grau und traurig. Sie waren zügig voran gekommen und so attestierte Carl sich eine inzwischen ganz passable Ortskunde. Wenn die letzten Tage auch weniger fruchtbar waren, immerhin kannte er sich hier nun einigermaßen aus.
Drinnen wurde es nicht besser. Kalt und muffig war es und finster obendrein. Immerhin war hier ein ungestörtes und vertrauliches Gespräch möglich, befand Carl. Außerdem schon das zweite Mal in der Kirche in so kurzer Zeit, dachte er, Louisa wird sich nicht beschweren können. Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete bis sein Begleiter ebenfalls Platz genommen hatte. Während des Weges hatten beide hauptsächlich geschwiegen, hin und wieder mal ein verhaltener Satz, seltener ein kurzer Wortwechsel. Carl überlegte mehrmals, ob seine Entscheidung vernünftig war, oder ob er sich einfach nur zu sehr sorgte, seit der von den Lavalles gehört hatte, kam aber immer mehr zu der Überzeugung, dass er Verbündete benötigte.

Ob Paul ihm jedoch auch helfen würde, vermochte er nicht vollends einzuschätzen. Eigentlich hatten sie beide gemeinsame Wünsche und Ziele, aber Carl konnte nicht davon ausgehen, dass Zeidler dies genau so sehen würde. Zum einen schien Paul eine definitiv andere Einstellung zu seiner Heimat zu besitzen als Carl. Aus welchem anderen Grunde hätte er sonst '48 nach Frankreich gehen sollen? Er hatte damals auch auf unerfüllte Hoffnungen hingewiesen. Würde ein Liberaler einem preußischen Offizier helfen wollen? Zudem war Paul ein Mann des Glaubens. Carl war zwar nicht ohne Glauben, aber dennoch war dies eine Sache, die ihm immer verschlossen und merkwürdig fremd erschienen war. Deshalb war er bei der Einschätzung inwiefern Pauls Glaube auf seine Entscheidung einwirken würde noch unsicherer.

Von Stiehle hatte darauf hingewiesen, dass er nicht jedem sein "Preußentum auf die Nase binden" solle, doch wollte Carl sich an dieser Stelle auch nicht in Lügen vergehen. Bei allen Unwägbarkeiten glaubte er in Paul einen Menschen zu erkennen, der - auch wenn er Carls Bitte ausschlagen sollte -  seine Geschichte diskret behandeln würde. Also fasste er sich ein Herz und erhob nach einer langen Zeit voller Stille seine Stimme:

"Entschuldigen Sie, falls ich Sie verwirrt haben sollte und erst jetzt mit des Rätsels Lösung herausrücke. Aber bevor ich nun tatsächlich beginne, muss ich Sie zur Verschwiegenheit auffordern. Sollte das Wissen, dass ich mit Ihnen teilen möchte an die falschen Ohren gelangen ist dies für mich sehr gefährlich, aber für Sie könnte es ebenso gefährlich werden. Ich möchte dass Sie sich darüber im Klaren sind. Außerdem hege ich nicht den Wunsch Sie in Schwierigkeiten zu bringen und ich garantiere Ihnen, dass es sich um keine kriminellen Dinge oder dergleichen handelt. Sähe ich einen anderen Weg, würde ich diesen Einschlagen und Sie nicht belästigen, doch ich sehen keinen. Darüber hinaus glaube ich, dass wir gemeinsame Ziele haben wir voneinander profitieren könnten." Carl atmete hörbar ein und blickte Paul erwartungsvoll an "Also? Was sagen Sie, wollen Sie mich anhören?"[1]

"Mein Name ist Carl Heinrich von Lütjenburg und ich stamme aus Holstein, soviel wissen Sie bisher. Ich bin preußischer Major und diene im Generalstab der 2. Armee, das wissen Sie noch nicht.

Erschrecken Sie nicht, Paul. Meine Anwesenheit hier bedeutet keine Fortführung des Krieges, ganz im Gegenteil. Der Krieg ist beendet und Preußen hat gesiegt. Das wissen Sie und Ich, die Preußen und fast alle Franzosen. Nur die Bewohner dieser Stadt weigern sich dies anzuerkennen. Das ist der einzige Grund weshalb wir noch hier sind.

Meine Vorgesetzten und ich sind besorgt über die Situation in der Stadt, der Winter war hart und die Vorräte sind aufgebraucht. Wenn die Temperaturen wieder steigen werden auch die Krankheitsfälle zunehmen und es wird zu Epidemien kommen. Wir suchen dies zu verhindern und dies ist unter anderem der Grund meiner Anwesenheit in der Stadt. Doch wir haben gerade am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie die Situation immer mehr außer Kontrolle gerät. Die Kommunarden werden eine freie Wahl nicht zulassen und das Ergebnis nur dann annehmen, wenn es ihnen zusagt. Auf dem Platz habe ich sie darüber reden gehört einen Pastoren zu entführen. Um wen es sich genau handelte konnte ich zwar nicht verstehen, aber die Tat als solche zeigt doch schon in welche Richtung dies alles führen wird. Außerdem habe ich dort weitere Dinge vernommen, die mich noch wesentlich stärker mit Sorgen schlagen als die Sache mit dem Pastor und die Schlägerei allein."


Carl machte eine Pause und ließ seine Worte auf Paul wirken. Mehr würde er zunächst nicht preisgeben, zuerst brauchte er eine Zusage Pauls.

"Was sagen Sie Herr Zeidler? Ich kann mir vorstellen, dass ich vielleicht nicht der Verbündete bin, den Sie sich immer gewünscht haben, doch ich würde sagen, dass wir beide mit den Dingen arbeiten müssen, die uns gegeben sind. Sie haben doch ein Anliegen daran, das Leid der Menschen zu vermindern und sie auszusöhnen, Frieden zu finden. Ich kann als Soldat wohl nicht glaubhaft behaupten, dass dies zu jeder Zeit ebenfalls die Kraft ist, die mich antreibt. Doch hier und jetzt, in diesem Augenblick ist es das in der Tat. Ich halte nicht viel von den Franzosen, das ist außerhalb dieser Stadt kein großes Geheimnis. Sie sind seit jeher unser Rivale und bedrohen uns, versuchen uns klein zu halten und haben Angst vor dem was sonst geschieht. Doch nicht meinem schlimmsten Feind würde ich wünschen, dass geistlose Menschen im Bunde mit Aufwieglern und gedungenen Mördern dafür sorgen, dass sein Volk an Hunger und Krankheit zu Grunde gehen muss."
 1. Sollte Paul ablehnen erübrigt sich das Folgende natürlich ;)

Sébastien Moreau

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« Antwort #58 am: 06.02.2014, 21:45:39 »
François hatte es, trotzdem er bereits angeschlagen zum Kampf angetreten war, leichter als Sébastien – so erschien es diesem zumindest, wovon er sich aber nicht um seine Entschlossenheit bringen ließ. Die Begleiter des Tischbeinhünen ließen sich durch Sébastiens besten Freund einschüchtern, doch der Anführer der Meute war ein zäherer Bursche. Sébastien bekam das auf schmerzhafte Weise zu spüren. In dem Kerl mit der lächerlichen Fistelstimme hatte er einen ernstzunehmenden Gegner gefunden. Keuchend musste der junge Arbeiter um Luft ringen, denn der Schlag auf seinen Brustkorb war hart gewesen, doch schaffte er es, die Atemnot zu überwinden und Sauerstoff einzusaugen. Den Moment, den er innehalten musste, nutzte der Hüne jedoch, um zu einem fatalen Schlag anzusetzen. Sébastien gelang es gerade noch, das schlimmste zu verhindern, doch er wirkte eher überrumpelt und hilflos, als er auszuweichen und das Tischbein von sich abzulenken versuchte. Der Holzknüppel erwischte ihn trotzdem am Kopf, wo der Schmerz explodierte. Sébastien musste die Wucht des Schlages mit einem Schritt abfangen, um nicht zu stolpern, und für einen Augenblick drohte die Welt zu schwinden und dunkel zu werden. War es Blut, das er seitlich an seinem Schädel herunterfließen spürte? Der Lärm, den die Menge verursachte, schien plötzlich so fern und dann wieder unerträglich laut. Aber Sébastien hörte auch ein dumpfes Rauschen in seinen Ohren und seine Schläfen pochten im Rhythmus seines Herzens – und jedes Pochen war eine Qual.[1] Wut und sogar Hass flammten in Sébastien auf. Begleitet von einem Schrei und von Rachedurst getrieben, setzte er zu einem kraftvollen Hieb in Richtung der bereits angeschlagene Leber seines Gegners an.
 1. Mittlere Konsequenz: Dröhnender Schädel
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #59 am: 07.02.2014, 15:04:40 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:15 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Während Paul und Carl vom weißen Platz in Richtung der Straße der Zweifel verschwanden, sahen sie bereits in der Ferne des Platzes, dass sich einige Nationalgardisten aufmachten, teils gar mit ihren Gewehren oder mit Schlagstöcken bewaffnet unter dem Gebell eines abgemagerten, rothaarigen Mannes mit autoritären, strengen Gesichtszügen, der inzwischen ausgewachsenen Schlägerei mit mehreren Verletzten wütend zu begegnen.
Doch bevor die Männer die Traube sich schlagender Widersacher erreichten, waren Zeidler und von Lütjenburg bereits in einer abgehenden Straße verschwunden, die ihnen den Blick versperrte. Jedoch erkannte Paul noch, dass zwischen den Nationalgardisten, wenn auch in das Kleid eines männlichen Soldaten gezwängt, mehrere Frauen waren. Es waren beinahe ausschließlich sie, welche die Gewehre hielten. Sie wirkten nicht minder entschlossen als der rothaarige Mann.

Es kam Bewegung in die sich balgende Meute, als sie sich der drohenden Gefahr durch die Nationalgardisten gewahr wurde. "Gardisten!", erfolgten von unterschiedlichen Orten die schnellen und aufgeregten Rufe, teils von den sich schlagenden, älteren Männern, teils von den Blanquisten, teils auch einfach von den Schaulustigen ausgerufen, die sich als erstes - ohne den Blick vom Spektakel zu wenden - aus der Reichweite der sicher geladenen Vorderlader oder Hinterladern mit aufgepflanzten Bajonett zurückzogen. Die ersten Männer wichen zurück aus der Schlägerei, mehrere junge Blanquisten, namenlos und vielleicht nur wegen der Unruhe vor Ort, liefen jetzt weg. Manche jedoch nutzten diesen Moment der Unordnung, um noch schnell einem anderen Mann, sowohl Blanquist als auch beschimpfter Republikaner, hinterrücks auf dem Hinterkopf oder in die Halsgegend zu schlagen. Mindestens zwei Männer stürzten daraufhin schwer. Sébastien hörte auch die Stimme seines Freundes, die ihn mahnend aufforderte, ihm zu folgen. "Komm! Wir müssen weg von hier! Schnell!".
Sébastiens Gegenüber hatte jedoch keine Anstalten gezeigt zu verschwinden, obwohl der junge Mann sehen konnte, dass seine Mitstreiter ihren niedergeschlagenen Kameraden aufhoben und sich vom Acker machten, als wäre eine Konfrontation mit Nationalgardisten brutaler, gefährlicher und tödlicher als diese Gefecht aus falschem Stolze. Doch der Mann mit der Fistelstimme blieb stehen. Wieder schwang er das Tischbein, wieder diagonal, da er jetzt genug Platz hatte, um in aller Ruhe auszuholen. Ein Schlag mit der Kraft einem Manne den Schädel einzuschlagen, oder das Tischbein zu zerbrechen, sollte der Schlag das feuchte Kopfsteinpflaster unter ihnen treffen.

Derweil rückten die Nationalgardisten in ihren schwarzen oder zumindest nachtblauen Uniformen mit dem roten Seitenstreifen an. Ihre Hosen hatten denselben Streifen. Das Weiß der Trikolore war am Gürtel und an der Schärpe zu erkennen, die sie trugen[1]. Manche Uniformen, die wenigsten, hatten drei Knopfreihen, die meisten lediglich zwei und besaßen deutlich weniger rot. Manche von ihnen sahen so aus, als seien sie eigentlich Frauen. Die Uniformen waren jedoch nicht nach ihren Maßen geschnitten, so dass es nur an den Gesichtern in der Eile wirklich zu erkennen war. Viele der Nationalgardisten, die anrückten, trugen Säbel und Schlagstöcke, die sie wütend oder drohend erhoben hatten, während manche auch Gewehre trugen. Tabatièregewehre[2], die auf den ersten Blick noch nach Vorderladern aussahen, jedoch im Laufe des Krieges zu Hinterladern umgewandelt wurden und damit nicht mehr so langsam und behäbig waren, nicht mehr so viel Zeit beim Nachladen verbrauchten oder anders ausgedrückt, auch kleine Truppen mit wenigen Gewehren waren deutlich durchschlagskräftiger geworden. Die Waffen waren mit aufgepflanzten Bajonetten versehen und sie waren meist in den Händen weiblicher Personen, welche die Kittel der Nationalgarde trugen. Es war schon sehr ungewöhnlich, Frauen darin zu sehen. Ein rothaariger Mann war am reichsten bestückt mit Knöpfen und obwohl er von durchschnittlichen Wuchs und eher etwas verhungert aussah, ging ihm eine Aura der Autorität voraus. Seine scharfe, etwas pfeifende Stimme, hatte einen durchdringenden Klang. "Haltet ein! Schluss mit der Schlägerei! Schluss! Meine Männer haben auf euch Ungeziefer angelegt! Schluss jetzt!"
Tatsächlich stellten sich die Männer mit Säbeln in die erste Reihe, ließen kleine Lücken zwischen sich, in welche sich die mit Gewehre ausgerüsteten Frauen mit etwas Versatz knieten, um ruhiger zielen zu können.

Sébastien spürte, dass eine der Waffen auch auf ihn angelegt war. Zumindest drängte sich das Gefühl auf. Doch innerlich spürte er noch immer den Furor und sein Widersacher stand noch[3]...
 1. 
 2. Tabatière rifle
 3. Ich spiele deinen Aspekt Das Herz auf der Zunge, mit dem Kopf durch die Wand an, weil ich denke, dass Sébastien in diesem Streit zu stur sein könnte, um dem tischbeinschwingenden Mann den moralischen Sieg zu lassen und zuerst zu fliehen. Das heißt, du musst einen Schicksalpunkt ausgeben, solltest du mit François fliehen wollen. Solltest du weiterkämpfen, bekommst du einen Schicksalspunkt.
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

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