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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 56410 mal)

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Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #90 am: 19.09.2014, 21:00:05 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:11 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Achille fühlte sich nicht besser, als Sébastien ihn persönlich geradezu diffamierte, ihn als Betrüger oder Verräter zu entlarven gedachte. Er blickte jetzt hilfesuchend zu Louis Blanc, der jedoch gar nicht weiter auf Achille achtete, sondern stattdessen Sébastien im Blick hatte und seine Reaktion sehr sorgsam beobachtete, wie ein Mann, der sich dem Studium der menschlichen Ausdruckskraft verschrieben hatte und jetzt seine Messgeräte heranzog, um alles genau zu studieren. Vielleicht wäre Monsieur Blanc gerne Physiognom[1] geworden. Stattdessen war er ein gescheiterter Journalist, ein schon ein gescheiterter Reformer, ein immerhin geschätzter Historiker mit dem Blick für die große Bewegungen und Ströme zu Zeiten des wachsenden Kapitalismus, und nicht zuletzt war er oder galt zumindest als Begründer der Sozialdemokratie[2] und geschätzter Orator[3], wenn nicht überall, dann doch im französischsprachigen Raum. Nicht zuletzt war für Sébastien zu erkennen, dass Monsieur Blanc bei weitem nicht so revolutionär gebrochen schien wie sein Komparse Achille, was wohl auch an den anderen Wegen liegen mochte.

Und so war Achille doch eine tragische Figur. War er nur beschämt, weil Sébastiens Worte einen wahren Kern hatten, und war da noch mehr? So wie Achille zu Blanc schaute, in sich zusammengesackt beinahe aufschaute, ließ sich etwas wie eine Linie der Abhängigkeit zwischen ihnen erkennen. Achille war der Mann, der Louis Blanc folgte, soviel war sicher. Es lag sowas wie Resignation in den Blicken des Künstlers, vielleicht die glimmenden Überreste eines alten Feuers, die dieser eher bildend begabte Künstler nicht in Worte zu fassen vermochte, seinen Gedanken also keinen freien Lauf zu geben wusste, und folglich von seinem Freund Louis erhoffte, dass dieser in seinen Gedanken lesen und sie formulieren konnte. Sébastien mochte sich gar Fragen, so wie Achille nach wenigen Sekunden des nahezu bettelnden Stierens den Kopf sacken ließ, ob der manchmal so schrullige, verhärmte Künstler gar einst vor derselben Frage stand? Hatten Louis und Achille einst dasselbe Gespräch geführt? Achille blieb in sackender Haltung und wagte es nicht, Sébastien anzuschauen, geschweige denn Worte an ihn zu richten, während Louis weiter interessiert zuhörte.

"Bureaucratie, mein lieber Freund, ist keine Aufgabe, welche nur im Schubsen von Zahlen und Lettern Anwendung finden würde. Sie ist die große Chance einer gütlichen, stückweisen Veränderung der Welt. Aber lassen Sie mich dazu ausholen, und unser Gespräch nochmal Rahmen und mit ein paar Erklärungen versehen.", sagte Louis schließlich, während er die restliche Hälfte des Croissants auf den Teller legte und von sich schob. Diesmal war er wahrscheinlich tatsächlich gesättigt oder das Croissant verdiente nicht mehr seine Aufmerksamkeit. "Ich habe Ihre Wahl sehr drastisch formuliert. Deswegen klingt ihnen das nach Manipulation, als würde ich wie ein Sitten- oder Spielwächter agieren und ihr Schicksal festlegen. Doch diesen - durchaus falschen - Eindruck, den Sie von mir gewinnen, will ich Ihnen wahrlich nicht übel nehmen. Ich trage volle Verantwortung für meine Worte, aber wenn ich Ihre Rolle nicht mit einbezöge, würden Sie den Eindruck gewinnen, dass wir über etwas allzu Abstraktes sprechen und es würde Sie vielleicht gar nicht, aufgrund der Verpackung, gar nicht interessieren, was in ihrem Inneren schlummert, obwohl der Inhalt Sie gleichwohl angeht und brennend interessiert. Sie wissen schon, diese Sprache, welche man den populistischen Politikern unserer Zeit vorwirft, die viel reden und wenig sagen, um Sie von einem Interesse an den brennenden Themen des Alltags abzulenken. Jene Sprache, die Ihnen das Gefühl geben will, dass Sie nicht dazugehören zum Zirkel der Verstehenden und dieses eben jenen Männern überlassen, die sich, nachdem Sie sich peinlich berührt fühlen, als so verständig beweisen. Ich habe also eine direkte Methode gewählt, damit Sie sich persönlich angesprochen fühlen, sprechen wir doch über Sie, nicht alleine über die große, abstrakte Arbeiterschaft."

Louis Augen ruhten die ganze Zeit auf dem Gesicht des jungen Arbeiters. "Gerade deswegen, weil es Ihr Leben ist, will ich Ihnen beide Wege offenhalten, auch wenn ich freilich mit dem friedfertigen Weg kokettiere. Und darin liegt auch, was ich von Ihnen möchte, Monsieur Moreau. Ich möchte, dass Sie ernsthaft überdenken, wie Sie die Zukunft gestalten. Ich will darum etwas konkreter werden.
Sie sind also ein Tischler und können mit Zahlen nicht so um, wie Sie es vielleicht gerne würden, oder wie Sie glauben, dass es in der Bureaucratie schicklich sei. Mitnichten müssen Sie sich dadurch gering stellen, Monsieur. Ich will Ihnen erklären, wie Sie direkt etwas tun könnten. Sie sind Tischler und demnach kennen Sie wohl besser als ich, wo den Tischlern der Schuh drückt. Aber lassen Sie mich ein paar Vermutungen aufstellen: Möglicherweise verlieren viele klassische Möbeltischer gerade in diesen Stunden ihren Beruf, weil hochwertige Möbel nicht ganzheitlich, oder zumindest zu 70% wie in jüngster Zeit, manufaktiert werden. Vielmehr sind Sie und Ihre mitleidenden Tischler, die noch arbeiten können, damit beschäftigt in Massenproduktion, an Dampfsägemühlen zu stehen und diese einfach zu beaufsichtigen oder eben nur stossweise Einzelteile an oder für Holzkonstruktionen anzubringen. Holzbänke für Kutschen, Speichen für Räder, Stuhlbeine und dergleichen, die sie nur noch zusammenstecken. Der Unterberuf des Drechslers ist höchstwahrscheinlich auch weitestgehend von großen, dampfmaschinen-betriebenen Drechselmaschinen abgelöst, vielleicht sind noch ein oder zehn Männer in ihrem Werk für die Nachbearbeitung und die Aufsicht eingestellt. Die große Maschine nimmt ihnen die Arbeitsplätze, weil sie billiger und mehr arbeitet. Obwohl sich aufgrund des Wiederaufbaus die Arbeitslage verbessert haben wird, und sie eigentlich schon mehr als ausgelastet sind, haben Sie weder eine Lohnerhöhung bekommen, noch hat sich Ihr Arbeitgeber bemüßigt, mehr Arbeiter anzustellen, um Sie nicht in 12-14-Stundenschichten an sechs Tagen der Woche zu schikanieren. Die Kantinen und die dreißig Minuten Pause am Tage sind kaum ausreichend, Ihr Arbeitgeber verhindert möglicherweise auch, dass Sie sich mehr als nötig in Gewerkschaften organisieren und wirft Ihnen von Ihnen selbst verfertigte Knüppel zwischen die Beine. Möglicherweise schafft er es auch dadurch, dass ie gar nicht alle, wie im Idealfall, in der Fabrik untergebracht sind, sondern dass viele von ihnen auch Arbeiten an unterschiedlichen Orten versehen, manchmal sogar in Heimarbeit; was eben in Heimarbeit geht wie bei den Zigarrendrehern. So können sie sich nicht zusammenrotten. Ihr Fabrikant nutzt sie offenkundig aus, auch wenn er Ihnen entgegenkommt, um das Schrecklichste zu verhindern. Er bietet Ihnen eine Wohnung an, die auf dem Fabrikgelände oder nahegelegen steht, sie können dort wohnen zu einem Vorzugspreis, und vielleicht geht es soweit, dass er Ihnen Mitgliedschaft in einem firmeninternen Verein anbietet, und er hat Ihnen sogar angeboten, 5% ihres Lohnes einzubehalten, eine Art Alters- oder Krankheitsfond, damit Sie in Notzeiten sogar über die Runden kommen und gar nicht auf die Idee kommen, sich zum Streik zu stellen oder sich außerhalb mit Vereinen und Gewerkschaften zu verbinden. Und doch, die Arbeiter kommen und gehen. Es gibt keinen Kündigungsschutz, und die konservativ-bureaucratische Maschine der Fabrik kennt keine Einzelschicksale: Sie kennt Gewinnmaximierung und die Anpassung an die jeweilige Conjunctur. Ihr Fabrikant ist eher mit den Aktienkursen und der Compagnie des agents de change[4] beschäftigt, denn mit ihren Arbeitsbedingungen und ihrer Gesundheit."
Louis machte eine Pause und nahm einen Schluck Wein zu sich. Er blickte Sébastien unentwegt an. "Das berührt Sie ausreichend, dass Sie sofort etwas ändern wollen. Aber insgeheim wissen Sie, dass die Arbeiter nicht gesammelt genug sind, und Gewalt die Zustände nicht auf Dauer ändert. Wenn Sie streiken, dann werden Sie entlassen, vielleicht inhaftiert, wieder freigelassen und suchen sich einen neuen Beruf oder eine neue Anstellung, oder Sie gehen ins Exil wie ich oder Ihr geliebter Blanqui. Sie versuchen es weiter, es ist lobenswert. Ich bewundere Sie wirklich dafür, dass Sie noch so sind, wie wir einst waren, Monsieur. Doch..."

Louis' Augen wanderten das erste Mal weg von Sébastien, und blickten über ihn hinweg. Wortschwalle kamen näher, eine Gruppe junger Männer kam an der Guinguette[5] vorbei. Sie waren augenscheinlich politisch aktiv. Sie brüllten irgendwas, aber sie waren wohl schon eine Weile unterwegs und heiser. Sébastien konnte es nicht genau verstehen, weil sie in einer Traube waren, und ihre Stimmen von Trauben schwer. Es ging um die Wahl, soviel war sicher. Es waren unflätige Bemerkungen darin, sie überdeckten Rufe nach Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, und doch hörte Sébastien auch den Namen Thiers', den sie positiv in den Mund nahmen. So alsbald - störten sie sich doch nicht an der Guinguettebelegschaft - waren sie weitergegangen. Es waren sechs, vielleicht Studenten, sie wirkten nicht mager, wenn auch nicht kräftig. Sie waren schnell weitergetorkelt, palavernd. Und doch blieb eins erkennbar, die Schlachtworte der Revolution führte jede Gruppe auf den Lippen, selbst Napoleon III[6]. hatte sie immer auf den Lippen geführt, selbst als er die Diktatur ausgerufen hatte, ließ er nicht von diesen Worten ab.

"Was ich sagen wollte. Ich möchte, dass Sie sorgsam was für die Menschen tun, denen Sie helfen können. Niemand kann die Welt im Umsturz gänzlich verändert. Den Menschen zu verändern, das ist keine Sache der Nacht. Der Mensch hat seinen Nächsten ausgebeutet seit Beginn der Menschheit. Das soll uns nicht einschüchtern, aber realistisch bleiben lassen. Stellen Sie sich auch zur Wahl, Sébastien. Ich stelle Sie bei mir an und gebe Ihnen die notwendigen Ressourcen für den Wahlkampf. Lassen Sie sich zum Sprecher für die Arbeiterbelange von Paris oder doch zumindest Montmatre machen. Georges Clemenceau wird Sie unter seine Fittiche nehmen. Wenn Sie das nicht wollen, in Ordnung, aber schauen Sie es sich für einen oder zwei Tage an, was sagen Sie?"

Louis lachte jetzt freundlich. "Doch vorher möchte ich natürlich, dass Sie auch mal eine andere Seite kennenlernen und sehen, wie Sie Dinge auch verändern und beeinflussen können. Haben Sie je mit einem Fabrikanten gesprochen?" Louis deutete an den Nachbartisch. Ein kleiner, wenn auch adretter Mann in ordentlicher Ausgehkleidung saß entspannt, die Nase nicht ganz in der Tageszeitung verborgen und blickte wie auf das Kommando auf. Er hatte einen sehr gepflegten und auffälligen Bart, der seinen kleinen, wie markanten Kopf rahmte[7].

"Alfred. Hätten Sie die Güte, sich an unserem Gespräch zu beteiligen und diesem jungen Mann zumindest etwas zu helfen, die Fabrikwelt, wenn auch schon als problematisch, nicht nur als todbringendes Gespenst zu sehen?"
Es wurde immer klarer, dass dieses Gespräch beim besten Willen kein Zufall und schon gar nicht ein improvisiertes Gespräch war.
"Darf ich vorstellen. Monsieur Nobel, das ist Sébastien Moreau. Monsieur Moreau, das ist kein geringerer Herr als Alfred Nobel. Herr Nobel wird Ihnen, wenn er auch kein Missionar ist, eine andere Seite präsentieren können, die Sie nicht vollends überzeugen, doch gleichwohl zum Nachdenken anregen soll. Vielleicht sehen Sie dann, warum ich einen verträglicheren Umgang empfehle. Die Wahl bleibt Ihnen ganz überlassen." Louis Blanc lächelte freundlich und doch triumphierend, während Alfred Nobel sich mit seiner Tageszeitung und einem Korbstuhl im Schlepptau an den Tisch dazugesellte, derweil Achilles Miene nicht freundlicher wurde. Er blickte immer noch, mental erschöpft oder peinlich berührt, auf die Kopfsteinpflasterung unter ihm.
 1. Physiognomie
 2. Sozialdemokratie
 3. Orator
 4. Pariser Börse
 5. Guinguette
 6. Napoleon III.
 7. 
« Letzte Änderung: 19.09.2014, 21:02:19 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #91 am: 24.09.2014, 14:48:47 »
Paul war gerade dabei, über den Vorschlag des Bischofs nachzudenken, da wurde er von von Lütjenburgs Ausbruch überrascht. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Enttäuschung, während er von Lütjenburg ansah. Natürlich war er sich die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass er mit einem deutschen Oberen im Bunde gewesen war. Dennoch war er irgendwie erschrocken, als dieser seinen Standpunkt so vehement verdeutlichte. "Ich habe zu sehr versucht, meine eigene Geschichte in ihm wiederzufinden.", dachte sich Paul. "Damals habe ich für ein geeintes Vaterland gefochten und als wir es errungen hatten, war ich enttäuscht gewesen, da sich keine unserer großen Hoffnungen erfüllt hatten. Die Menschen waren nicht brüderlicher noch waren sie rechtschaffener. Sie gehörten nur der Form nach zu einander. Ich habe erwartet, dass von Lütjenburg diesselbe Enttäuschung durchlebt hat, aber das hat er nicht. Der Gedanke an das Vaterland ist immer noch stark in ihm... - und dennoch ist da so etwas wie eine (joviale) Sorge für die Menschen hier."

Gedankenverloren ging Paul zum Fenster und betrachtete die Straße dahinter. Sein Blick folgte den Männern und Frauen, bis sie am Rande verschwunden waren. Paul fragte sich, wer sie waren und was sie in diesen Tagen erhofften. Er fragte sich, ob sie wirklich von so hohen Idealen wie dem Sozialismus oder der Kommune träumten - oder ob sie einfach nur etwas Menschlichkeit und einen gefüllten Bauch wollten.

Paul fragte sich unwillkürlich, was er selbst wollte. Er war sich sicher, dass er Frieden und Sicherheit für die Menschen wollte, dass die Menschen gemeinsam lachten und weinten und dass sich mehr Türen öffneten als schlossen in der Welt. Hatte das politische Implikationen? War er deshalb Kommunist, Sozialdemokrat oder Christdemokrat? Und wenn dem nicht so war, konnte er öffentlich auftreten ohne als solcher wahrgenommen zu werden?

Paul fühlte sich leer und abgespannt. Er hatte den Eindruck, als würde ihn das ganze Nachdenken auslaugen. Vielleicht hatte der Bischof recht und es war die mutige Tat, die in einer solchen Situation geboten war. "Eine gemeinsame Predigt für den Frieden..., ja..., vielleicht müssen wir gemeinsam für den Frieden predigen...", formulierte er langsam in seinem Kopf eine wage Entscheidung[1]. Paul dachte darüber nach, was er sagen würde, ob er einen Talar oder Straßenkleidung tragen würde, ob es ein Abendmahl geben sollte. Dann wurde er sich bewusst, dass die beiden Männer ihn wahrscheinlich ungeduldig beobachteten.

Er drehte sich zu den beiden Männern um. "Ich glaube, wir müssen heute Abend gemeinsam predigen. Wir dürfen es nicht unversucht lassen...", sagte er langsam.
 1. Hier streiten die beiden Aspekte "Zwischen den Welten" und "Leading by Example"
« Letzte Änderung: 24.09.2014, 15:36:00 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Alfred Nobel

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Une nouvelle ère
« Antwort #92 am: 26.09.2014, 17:32:41 »
Behäbig stellte Alfred den Korbstuhl an den kleinen Tisch und gab sich keine Mühe, seinen verdrossenen Gesichtsausdruck zu verbergen. Es musste etwas an der Wortwahl Blancs geben, was ihn wohl zu stören schien. Doch Alfred gab keine weiteren Anzeichen, seinen Missmut Kund zu tun, lediglich seine buschigen Augenbrauen zuckten ein kurzes mal finster zusammen.
Der neue Gesprächsgast nahm sich alle Zeit um sich zu setzen. Das währenddessen herrschende Schweigen mochte Betretenheit in manch einem der Anwesenden auslösen, doch dies schien Alfred offenbar nicht zu stören. So nahm er mit einem Ächzen auf den geflochtenen Stuhl Platz, der unter dem geringen Gewicht des kleinen Mannes nur wenig nachgab. Der formelle Umgang des ordentlichen Herrn ließ ihn deutlich älter wirken, als er vielleicht sein mochte.

"Guten Tag, Monsieur Moreau. Sehr erfreut,", begrüßte Alfred Sebastién höflich, und blickte ihn mit einem wachen und neugierigem Blick an. Wortlos nickte er auch Achilles zu, der sich jedoch weder äußerte, noch an dem neuen Gast interessiert zu sein schien. Die Zeitung knisterte zwischen Alfreds Händen, als er sie zusammengefaltet auf den Tisch legte.

"Sie interessieren sich also für die Industrie?", begann Alfred vorsichtig, sprach zu Sebastién und warf Louis Blanc einen fragenden Blick zu. "Es ist, ehrlich gesagt, ganz einfach. Ich weiß beileibe nicht, woher diese zeitgemäße Verurteilung und Verdammung der Fabrikanten herstammt. Es gibt nämlich, Monsieur, drei simple aber wirkungsvolle Prizipien, die dem Unternehmertum zugrunde liegen."

Alfreds Blick war ernst und seine Stimme schwerbedeutend, als er wieder zu Sebastién sah und diesen fixierte. Der Schwede saß noch ruhig auf dem Korbstuhl und hatte die Hände über seinem Bauch gefaltet, beugte sich bei seinen nächsten Worten jedoch vielsagend nach vorne.

"Diese drei Prinzipien führen in Ihrer Gesamtheit dazu, dass der Mensch mithalten kann. Mithalten mit den Fortschritten der Wissenschaft. Den Bedeutungen der Industrie für die Gesellschaft. Der eigenen Verantwortung, ein Bestandteil unserer morgigen Zukunft zu sein."

Mit einer Kunstpause zog Alfred seine Augenbrauen in die Höhe, ehe er weitersprach.

"Sie wissen sicherlich, wovon ich rede. Die Worte sind in den letzten Tagen wieder in aller Munde.
Es gibt drei Prinzipien, die dem Unternehmertum zugrunde liegen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
"

Der dichte Bart des Schweden zuckte an den Schnurrbartspitzen, als Alfred seinen Mund zu einem Strich verzog und seinen ernsten Blick beibehielt. Es war eine uneindeutige Mischung aus einer art trockenem Humor und zynischer Kritik, mit der er den Wahlspruch der französischen Republik zitierte. Hohn, jedoch, blieb aus.
Alfred lehnte sich wieder in seine Lehne zurück und überschlug die Beine, faltete die Hände wieder über seinem Bauch und begann, sich zu erklären.

"Es ist ganz einfach. Nehmen Sie die Freiheit, beispielsweise. Die Freiheit ist, ganz frei nach Smith[1], die Fähigkeit eines Privatmannes auf die Nachfrage einer weiteren Privatperson ein Angebot zu stellen. Will ich einen Apfel kaufen, so hat jedermann die Freiheit, mir einen solchen zu einem ihm angemessenen Preis anzubieten; ich habe wiederum die Freiheit, den Apfel bei derjenigen Person zu dem für mich angemessenen Preis zu erstehen. Es bildet sich ein Gleichgewicht, eine Ausgewogenheit zwischen jeglichem Angebot und jeder Nachfrage[2].

Als Unternehmer nutze ich diese Freiheit, um nach bestem Gewissen ein Angebot zu schaffen, das der Nachfrage gerecht wird. Es liegt dabei natürlich in meinem Ermessen, welches Produkt ich vertreibe, welchen Preis ich verlange, und welchen Lohn ich zahle. Gestalte ich es das Angebot aber dermaßen, dass es der Nachfrage gerecht wird, stellt sich schließlich das Gleichgewicht ein.
"

Alfred legte eine Gedankenpause ein und zog herausfordernd die Stirn in Falten.

"Mit der Gleichheit verhält es sich ähnlich. Gleichheit ist das Gebot nach Gerechtigkeit, im kleinen wie im großen Maße. Denken Sie zum Beispiel, ein Fabrikant zahle zweien seiner Arbeiter, welche die selbe Arbeit, für die gleicher Zeit, mit gleichem Maße verrichten, zwei unterschiedliche Löhne. Eine undenkbare Dummheit, denn natürlich wird der um seinen Preis Betrogene seine Arbeit ob der Ungerechtigkeit in Zukunft schlechter verrichten oder gar niederwerfen.[3] Denn für ihn gilt das Maß der Gleichheit ebenfalls, wenn er sich vor die Frage stellt, für wen er denn arbeiten solle. Für ihn gilt die Gleichheit der Fabrikbesitzer, ist es ihm nämlich gleich, in wessen Fabrik er die Kohlen schleppt und für welchen Industriellen er arbeitet.[4] Schließlich wird er die Arbeit nur dort annehmen, wo er sie als gerecht empfinden wird, nicht wahr?"

Der Schwede räusperte sich, die Stimme trocken vom vielen reden, griff in die Innentasche seiner Jackets und zog ein Taschtuch hervor. Mit einer geruhsamen Bewegung tupfte er sich die Stirn ab, bevor er zum letzten Punkt ansetzte.

"Und abschließend die Brüderlichkeit. Eine ungeschickte Wortwahl, wie ich ja finde, aber in ihr stecken immerhin die wesentlichen Konzepte: Vertrauen und Verantwortung. Denn das Verhältnis zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer basiert streng auf diesen Werten. So vertraut der Arbeitgeber auf die Bereitschaft und Arbeitskraft eines Arbeiters und ist im Zuge dazu bereit, die Verantwortung für dessen Wohlstand und zu übernehmen. Gleichermaßen vertraut der Arbeitende dem Arbeitgeber, dieser Verantwortung durch die erfolgreiche Führung des Unternehmens gerecht zu werden, und übernimmt die Verantwortung für das Unternehmen in Form seiner Arbeitsleistung und Energie.

Vielleicht sind Sie, Monsiuer Moreau, von ihren bisherigen Bekanntschaften mit einem Bild des verantwortungslosen Fabrikanten geprägt, doch seien Sie versichert, nur ein kurzsichtiger Tölpel ignoriert die Bedürfnisse seiner Angestellten. Es geht wieder um das Gleichgewicht, nein? Ist der Arbeitnehmer zufrieden, ist es der Arbeitgeber ebenfalls. Ist der Arbeitgeber zufrieden, so ist es auch der Arbeiter.[5]

Ich sagte es bereits, es ist ganz einfach. Die drei Grundprizipien für ein erfolgreiches Unternehmertum. Liberté, Égalité, Fraternité.
"

Mit dunklen, wachen Augen blickte Alfred gespannt zu Sebastién. Er war neugierig, wie der ihm fremde Franzose, der in seiner Arbeiterkleidung offenkundig Farbe zu bekennen schien, reagieren würde. Natürlich war Alfreds zynischer Exkurs gleichermaßen eine Provokation und eine Kritik, doch machte er es schwer zu erkennen, ob er die Arbeiterbewegung, die soziale Verantwortungslosigkeit der Fabrikbesitzer, die gewaltsamen Märsche auf den Straßen - oder vielleicht sogar nur Louis Blanc dafür kritisierte, ihn bei seiner Lektüre zu stören.

Mit einem Seitenblick zu Blanc tippte er mit dem Zeigefinger auf die Titelseite der Zeitung, welche unberührt auf dem Tisch lag. In großen Kapitalen streckte sich der Name "JOURNAL DES DÉBATS"[6] über die Kopfzeile hinweg. Vorwurfsvoll und gleichzeitig amüsiert sprach er zu Blanc.

"Sie streiten sich also immer noch über Ereignisse von vor über 20 Jahren? Ich weiß doch, mein lieber Louis, '48 war eine bedeutsame Zeit. Aber man sollte meinen, dass ein Abgeordneter der Nationalversammlung den Streit in den Ereignissen von heute sucht!"[7]
 1. Adam Smith
 2. Marktgleichgewicht
 3. Arbeit als Menschenrecht
 4. Homogenität der Güter, angewandt auf das Verhältnis Arbeitgeber / Arbeitnehmer
 5. Mitarbeiterzufriedenheit, ein in diesem anachronistischer Begriff.
 6. Journal des Débats - Politiques et Littéraires
 7. Die Ausgabe vom 23. März 1871. Seite 3 enthält ein Transskript der Nationalversammlung vom 22. März.
Austausch zwischen de Juigné und Blanc, auf den sich Alfred bezieht (Anzeigen)
« Letzte Änderung: 26.09.2014, 17:36:46 von Alfred Nobel »
But I have learned to study Nature’s book
And comprehend its pages, and extract
From their deep love a solace for my grief.

 - A Riddle, 1851

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #93 am: 07.10.2014, 09:36:29 »
Dass Louis Blanc dem am Nachbartisch sitzenden Alfred Nobel ins Gespräch einband, überrasche Sébastien, doch er ließ die Männer wortlos gewähren und harrte einfach der Worte, die noch kamen. Tatsächlich war es eine ungewohnte Situation für den Arbeiter, einem Fabrikanten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusitzen und sich mit diesem zu unterhalten. Wenn ein „kleiner“ Arbeiter die Gelegenheit bekam, mit dem Vorstand eines Großunternehmens zu sprechen, war dies (vermutlich) meist nicht aus erfreulichem Anlass. Sébastien war unschlüssig, ob dieser aktuelle Anlass erfreulich für ihn war. Ihm schmeckte es nicht, sich hier als Blancs Spielfigur zu fühlen.

Dennoch begrüßte er den Fabrikanten erwidernd und hörte dessen Ausführungen aufmerksam zu. Die drei Schlagworte der Revolution im Kontext der Prinzipien des Unternehmertums zu hören, war etwas gewöhnungsbedürftig für Sébastien. Nobels Darlegung hörte sich schlüssig an, aber klang es in den Ohren eines Tischlers, der die Sorgen hatte, die Blanc zuvor aufgeführt hatte, dennoch etwas realitätsfern. Alles in Allem entging Sébastien jedoch nicht die Kritik, die bei Nobels Worten mitschwang. Er ließ den Mann ausreden. Und lachte dann leise auf, als er Blanc wieder mit einbezog. Sébastien ignorierte diese neue Situation einfach, sondern setzte einfach seinerseits nun zu einer Antwort auf all das Gesagte an.

„Wissen Sie“, setzte er nun selbst mit eher etwas zynischem Unterton an, „während Sie“, er meinte Louis Blanc, weswegen er dieses ansah, „mir vorhalten, wie die Situation aussieht, und Sie“, sein Blick wechselte zu Alfred Nobel, „wie einfach die Welt auch für die Fabrikanten wäre, wenn sie Umsicht zeigen und uns Arbeiter anständig behandeln würden, weiß ich immer noch nicht, warum Sie sich mich als Gesicht für Ihre politischen Wege wollen, mit denen ich bisher nichts zu tun gehabt habe. Würde ich mich bereits für Ihre Sache engagieren, könnte ich nachvollziehen, warum Sie mich fördern wollen, aber so…“
Sébastien ließ diesen Gedankengang offen, den er durchaus für relevant hielt und formulierte es anders.
„Bin ich hier das Ziel Ihres Strebens oder das Mittel zum Zweck?, frage ich mich. Wir kennen uns nicht, Sie hätten, wenn Ihnen danach gewesen wäre, jeden anderen vor diese Wahl stellen können, vor die Sie mich immer noch stellen, egal, in welche Worten und angeblichen Absichten Sie es verpacken. Warum gerade ich?, frage ich mich. Sie hätten jeden anderen Arbeiter dazu bringen können, für Sie zur Wahl anzutreten. Vielleicht hat Archille Sie gebeten, mit anderen Mitteln dort anzusetzen, wo er scheiterte, mich von meinem Vorhaben abzubringen“, spekulierte er. „Vielleicht fürchten Sie aber auch das, was ich bewirken könnte, wenn ich mein Vorhaben in die Tat umsetze, also wollen Sie mich vorher bekehren. Ist es so?“

Er musterte Blanc, ließ diesem aber keine Gelegenheit, zu antworten.
„Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen darum geht, Blanqui dort zu lassen, wo man ihn momentan festhält. Sie fühlen Ihre Ideale durch die seinen bedroht und wissen, dass er die Arbeiter vereinen wird, sobald er dazu in der Lage ist. Sie wissen, wenn Blanqui freikommt, wird es möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, zu spät sein, Ihren behutsamen Weg zu gehen. Deswegen haben Sie mir diese hübsch durchdachte Falle gestellt, lassen mir die Wahl, das Geld anzunehmen und dafür meine Freunde zu hintergehen, oder mich für meine Freunde zu entscheiden und damit meiner Familie die Chance auf ein besseres Leben dank Ihrer Finanzierung zu verwehren. Die Lösung für mein Problem scheint klar zu sein:“
Der Zynismus war aus seiner Stimme nicht verschwunden, wurde nun sogar etwas deutlicher.
„Ich nehme Ihr Angebot an und überzeuge meine Freunde, umzudenken, denn wenn Sie mit mir Ihre Meinung ändern, begehe ich keinen Verrat an ihnen. Danach werde ich meine politische Laufbahn nach Ihren Wünschen gestalten, weil Sie es sind, der mich bezahlen. Aber was passiert, wenn ich nicht gewählt werde? Werde ich dann keinen Nutzen für Sie mehr haben?“

„Vielleicht unterstelle ich Ihnen nun zu Unrecht eine gewisse Hinterlist“, eigentlich war es, ihn hierherzulocken und ihn in ein moralisches Dilemma zu bringen, ziemlich hinterlistig, „aber anders als mit Misstrauen kann ich dem, was Sie mir anbieten, nicht begegnen. Womöglich bin ich einfach geprägt vom ausnutzenden Umgang kurzsichtiger Fabrikanten mit der Arbeiterschaft“, griff er Alfred Nobels Ausführung noch einmal auf, „denn die Lage der Tischler, die Sie, Monsieur Blanc, vorhin beschrieben haben, ist auch die Lage aller anderen Arbeiter – und diese sieht nun einmal so aus, wie sie ist, weil Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nicht die Maxime der Pariser Arbeitgeber ist. Vielleicht vereinzelt, doch in ihrer Ganzheit gewiss nicht. Recht ist Ihnen alles, was in ihrem Interesse liegt und, hauptsächlich, Gewinn bringt. Weil das die Arbeiter unzufrieden stimmt, müsste ein Fabrikant nun, um das Gleichgewicht herzustellen, das wichtig ist, wie Sie sagen, Monsieur Nobel, auf Teile seines Gewinns verzichten, nicht wahr? Warum sollte er das tun? Da Freiheit herrscht, kann er sich aussuchen, dass er Arbeiter einstellt, die dankbar für geringen Lohn sind, anstatt sich darüber zu beschweren, weil sie sonst überhaupt keine Arbeit finden und verhungern.“

Möglicherweise lag es in Sébastiens Natur, alles skeptisch zu sehen, was man ihm vorsetzte, aber was sollte er schon denken, wenn jemand ihn mit Geld zu locken versuchte, seine Einstellung zu überdenken und eine andere anzunehmen, ihm dabei aufzeigte, was an der Welt der Industrie nicht stimmte, während ein anderer sich als Positivbeispiel der „Feindesseite“ darstellte, um zu offenbaren, dass es auch anders funktionierte?

„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Monsieur Nobel.“
Tatsächlich glaubte Sébastien dies zu durchschauen (die Männer wollten ihm, so ahnte er, insgesamt eine Richtung zeigen, in die sich die Situation der Gesellschaft, die Politik entwickeln sollte).
„In der Theorie mag das ja auch funktionieren, aber nur weil Sie anständig und vernünftig sind und Ihre Grundprinzipien des erfolgreichen Unternehmertums befolgen, nehme ich an, bedeutet das nicht, dass sich andere Fabrikanten so einfach davon überzeugen lassen. Das Bild von verantwortungslosen Fabrikanten besteht nicht ohne Grund. Die Welt ist voller kurzsichtiger Tölpel, das ist das Problem. Auf beiden Seiten dieses Streits zwischen Fabrikanten und Arbeitern. Am Ende geht es allen um Geld, wenn auch aus verschiedenen Beweggründen. Mir ebenfalls, weswegen Sie es auch schaffen, mich mit Ihrem Angebot in einen Gewissenskonflikt zu bringen, Monsieur Blanc.“
Sébastien ließ sich nun zu einem verdrießlichen Lächeln hinreißen.
„Sie halten auch mich für kurzsichtig. Vielleicht bin ich nicht der Richtige für das, was Sie mir zutrauen“, sagte er seinen Gesprächspartnern.

Nein, er hielt schnelle Änderung, notfalls mit Gewalt, für effektiv. Gewalt oder die Angst davor war ein überzeugenderes Argument als Streik… oder Politik. Blanc mochte Recht haben, Nobel dachte dies vermutlich auch: Ein schneller Umsturz würde zwar zu sofortigen Änderungen führen, diese würden nicht unbedingt von langer Dauer sein. Doch Politik konnte scheitern. Und was dann? Dann wäre die Chance vertan, möglicherweise, die sich den Arbeitern nun bot.

Sébastien war unentschlossen, was er tun sollte, vielleicht diskutierte er deswegen so ausgiebig mit diesen Männern.
„Ich möchte niemanden verletzen, das nicht“, wirklich nicht, obwohl der Gedanke an Straßenkämpfe auf Barrikaden, Seite an Seite mit seinen Freunden und Brüdern im Geiste, natürlich etwas Verheißendes, Heldenhaftes, Lockendes an sich hatte, „aber warum sollte ich von meinem Weg abweichen, weil zwei Fremde mir das schmackhaft machen wollen?“

Blanc und Nobel mochten ihm gut zureden wollen, aber die Meinung dieser beiden war Sébastien, wenn er ehrlich zu sich war, nicht besonders wichtig. Blanc war für den jungen Arbeiter momentan der Mann, der ihn in einer gewissen Form drängte, wenn nicht sogar erpresste, und Nobel in seiner Form ein Idealist, zwischen dem und Sébastien selbst eine Distanz bestand – die einfach dadurch existierte, weil Blanc Nobel „Fabrikant“ genannt hatte. In so kurzer Zeit damit warm zu werden, gestaltete sich für Sébastien etwas schwierig.

Sébastien war hier, weil ein Freund ihn darum gebeten hatte. Ein Freund, der seit ihrer Begrüßung schwieg und schuldig bis beschämt seinem Blick auswich.
„Archille, hast du hierzu nichts zu sagen?“, interessierte Sébastien zu wissen. Es missfiel ihm, dass der Künstler sich aus dem Gespräch heraushielt. Bisher hatte sich der Künstler vielleicht nicht in der Lage gesehen, sich dazu zu äußern, Sébastien sprach seinen Freund aber nun bewusst direkt an, um ihn aus der Reserve zu locken. Archille hatte diese gesamte Situation angezettelt. Archille hatte Blanc das abendliche Vorhaben mit Darboy verraten. Achille verließ sich auf Blanc, welcher Archille zu ignorieren schien.

Archilles Meinung war Sébastien allerdings wichtig. Und er wollte sie aus Archilles Mund hören.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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    • Enwe Karadâs
Une nouvelle ère
« Antwort #94 am: 16.11.2014, 18:38:20 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:08 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der bischöfliche Darboy kam nicht umhin, kurz zusammenzuzucken, als Carl seiner nationalen Wut bildgewaltigen Ausdruck verlieh und die sich andeutende Eintracht in ihren Grundfesten erschütterte. Was der Bischof gar nicht als persönlichen Angriff verstand, sondern eher nur als rhetorische Stilblüte zu nutzen gedachte, um Carl dazu zu bringen, dass er auch dafür einstand, wofür sein Preußen sich auszuzeichnen bemühte, entpuppte sich als explosive Wortwahl mit einem augenscheinlich gefährlich kurzem Zünder. Sein indifferenter Blick, der irgendwo zwischen Mitgefühl und gebotener Vorsicht pendelte, und sich durch kurzzeitige Unentschlossenheit auszeichnete, ließ es zu, das Gesicht des Mannes wie ein offenes Buch für einen Moment zu lesen. Es war zu lesen, dass er am liebsten hätte dem Preußen zugesprochen oder ihn ausreichend beruhigt, und in ihm kämpfte es, weil er es schlichtweg nicht konnte. Und so kam die Antwort erst nach einer kurzen Bedenkzeit, in der er Carl von Lütjenburg ausgiebig betrachtete, beobachtete, musterte, ohne dabei abschätzig zu werden; eher so, als wollte er dem Preußen die Möglichkeit geben, sein Gemüt durch den Verlauf von Zeit kühlende Linderung zu verschaffen.

"Ich erkenne - und das tut mir leid - dass wir mit unterschiedlichen Blickwinkeln einander betrachten. Lassen Sie mich das kurz erklären, Herr Major. Ich glaube nicht an Uniformen und Nationen, was ihre Attributisierung und Typisierung angeht. Wissen Sie, wie Uniformen ursprünglich entstanden[1]? Viele Männer glauben daran, dass es darum ginge, sich auf dem Schlachtfeld zu erkennen oder unterschiedliche Berufsgruppen und Funktionen zu erkennen. Das ist nicht immer falsch, aber bezeichnet nur einen positiven Nebeneffekt. Das Wort, was ich Ihnen jetzt nenne, da werden Sie denken, dass das Aussehen und die Funktion doch eingeschlossen sind. Und auch das ist nicht gänzlich falsch, aber eine Vereinfachung. Das Wort ist Zugehörigkeit. Diese Zugehörigkeit ist oftmals ein zweischneidiges Schwert und ihre agitierten Worte haben mir das noch einmal verdeutlicht.", der Bischof lehnte sich jetzt etwas in seinem Sessel nach vorne, als würde er seinen Gästen näherkommen wollen. Er unterstrich die Worte erstmalig mit ausladender Gestik, als habe er lange und breit über dieses Thema nachgedacht, und sei nur allzu bereit, darüber zu debattieren.

"Schon in den ältesten Mythen geht es um diese Zugehörigkeit. Zugehörigkeit ist eine Gewissenssache und das möchte man gerne darstellen, das ist mir bewusst; oder gewisse Kleidung wird eben tradiert und ist dann so oder so mit einem gewissen Berufsstand verbunden und man muss es deswegen tragen; denken wir nur an die liturgischen Gewänder[2] meiner Kirche. Doch eigentlich passiert damit etwas anderes im Geiste des Menschen. Denken wir an Mythos und Herakles[3], denken wir daran, dass er den Balg des nemëischen Löwen[4] trug und er fortan zur Löwenartigkeit des Herakles stilisiert wurden, und dann Herrscher und Männer des Krieges anfingen, sich Tierhäute über die übermäßig, stolze Brust hingen, um anzudeuten, dass sie Löwe, Tiger und Bär sein oder ähnlich unverwundbar wie Herakles durch den beinahe unzerteilbaren Balg des Löwen, der nur von dessen eigenen Krallen zerschnitten werden konnte. Es geht um Attributisierungen; wenn wir einen Löwenpelz tragen, dann denken wir alle, wir gehören im übertragenen Sinne zu den Löwentötern oder zur Göttlichkeit des Olymps. Und ganz so verfährt es sich mit der Uniform in seiner heutigen Zeit; wenn sie einen preußischen Mann vor sich haben in seiner pfauenartigen Gestaltung voller Medaillen und Orden, dann macht er sich einerseits - unter Umständen - glauben, dass er alle Attribute Preußens in den Kampf trägt, andererseits will er den anderen dies glauben machen. Deswegen kleiden sich manche Menschen nach der Art anderer, die sich hervorgetan haben. Sie hoffen nichts weniger - mal bewusst, mal unbewusst - dass sie etwas von Prestige, vom Charme, von den Stärken und dem Einfluss dieser - denken sie an die eigentliche Bedeutung des Wortes Avantgarde[5] - Vorhut. Wenn sie Attentäter sind, der eine rote Rose im Revers hat, und vor dem Könige und Prinzen schlottern, was glauben sie, werden andere Attentäter tun, um ihre Präsenz zu verstärken? Mörder? Männer des Friedens? Hirten? Dass ich die Symbolkraft von Kleidung nehme, soll nur einen ganz kleinen Einblick in die Welt der Attributisierung geben, und wie wir mit ihr umgehen. Aber sie ist gut dafür geeignet, zu erklären, dass wir unterschiedliche Blickwinkel auf die Problematik haben."

Er lehnte sich wieder zurück, überkreuzte die Beine wieder in seiner typischen Manier mit diesen spindeldürren Beinchen, legte nun auch die Finger aneinander und kam zum Abschluss seiner Erörterung. "Ich selbst weiß durchaus die Funktion dessen zu schätzen, dieser Attributisierungen, aber sie leiten zu oft fehl. Sie funktionieren nicht nur positiv, sondern auch negativ. Sie tragen zufälligerweise gerne rote Hemden, wie Garibaldi[6] es tat, und schnell werden sie mit dieser Bewegung verbunden in diesen schrillen Zeiten, man schimpft sie - wenn man Garibaldi verschmäht - Mörder, Söldner und was nicht alles und wird sie so behandeln. Hingegen - wenn man Garibaldi respektiert - wird man sie Freigeist, Vorkämpfer der Menschenrechte und was nicht nennen. Dasselbe tun sie. Sie laden ihren eigenen Farben viel Positives auf, während sie der Trikolore dieses Landes viel Negatives angedeihen lassen und mich zu einem nationalen Franzosen machen mit Wohl und vor allem Wehe. Ich hingegen glaube nicht daran, dass das im Land sein oder das Kleiden von irgendwelcher Kleidung mich als Menschen macht. Ich glaube, an die Schwäche wie an die Stärke des einzelnen Mannes. Und ich bevorzuge es, jeden Einzelnen ausgiebig zu prüfen, so sich mir eine Chance bietet. Verzeihen Sie also, wenn ich Sie mit meiner Denkweise brüskiert habe. Das lag nicht in meiner Absicht; aber bitte zeigen Sie etwas Verständnis für meine Rolle; die mir nahelegt zu glauben, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Obzwar ich mich diesem Ideal - in meiner menschlichen Schwäche - immer nur annähernd kann, sehe ich es doch als meine höchste Aufgabe, den Blickwinkel des HERRN nachzuvollziehen und zu beachten, sodass es für mich keine Preußen, keine Franzosen, keine Briten gibt, sondern Menschen in preußischen Gewand, Menschen in französischem Gewand, Menschen in britischem Gewand. Wir alle tragen Kleidung, leben, blühen und leiden mit unseren zugeschriebenen Attributen, doch sobald wir nackt sind; auf das Letzte verengt, sind wir doch alle die gleichen, nackten Menschen."

Ein Anflug von Gelöstheit, dieses Thema von der Brust zu haben, machte sich in dem buchartigen Gesicht des Bischofs breit, bei dem es jetzt nicht mehr verwunderlich schien, dass er so einfache, normale Kleidung trug.
"Ich weiß jedoch zu beherzigen und zu schätzen, dass Sie den Idealen, denen sich zugehörig fühlen, gerecht werden wollen. Das zeichnet Sie als Mensch aus, Herr von Lütjenburg. Und das ist das, was ich sehr respektieren kann. Sie, Herr Zeidler und ich, wir sind uns in diesem Ansinnen gar nicht so unähnlich, auch wenn unterschiedliche Lebenssichten uns trennen. Und als solches, schulde ich Ihnen Dankbarkeit, die Ihnen auch sicher ist, auch wenn ich Ihre Generalverurteilung aller Menschen im französischen Gewand nicht nachvollziehen kann und sie ihrem erregten Gemütszustand zuschreibe. Und Sie werden mir lassen, dass ich nicht Preußen im Allgemeinen und Sie nicht als Mensch verurteilt habe, sondern lediglich angedeutet habe, dass die Erwähnung von Preußen mir nicht reicht, um einen Menschen als fleißig, tadellos und ehrenhaft zu empfinden. Das gilt, so hoffe ich doch, für jede Kleidung, in die ein Mensch sich metaphorisch wandet."

Der Bischof stand wieder auf. Scheinbar fiel ihm langes Sitzen ähnlich schwer wie langes Stehen. Er wirkte, je länger man ihn betrachtete, erschöpfter und erschöpfter. Aber er wollte gerne antworten und er schuldete Paul Zeidler noch eine Antwort.
"So steht es denn. Ich danke Ihnen von Herzen, dass wir es nicht unversucht lassen wollen. Dennoch erlauben Sie mir, dass ich gerne - zumindest im Kurzen - von Ihnen, von uns, wissen möchte, wie wir dieses Thema angehen möchten und worüber wir im Genauen die Messe halten. Gibt es Bücher, Kapitel oder Gedanken, die Sie im Speziellen einsetzen wollen, Herr Zeidler? Ich werde Ihnen da gerne entgegenkommen, doch möchte ich Ihnen in dieser Debatte das erste Wort lassen. Sie sind ein derartig genuiner Mann des Friedens, dass ich es für angebracht halte, dass sie meine Feder in dieser Sache führen; freilich nur wenn sie denn wollen. Oder wir arbeiten alles gemeinsam aus; wie es Ihnen eben recht ist."
Er war hinter seinen Sessel gegangen und stützte sich jetzt an der Lehne des Sessels ab, um den Rücken etwas durchzudrücken und die Beine zu entlasten. Er blickte Paul Zeidler kurz an, durchaus bemerkend, wie der Mann in Gedanken war. Und als gehörten seine Gedanken ihm, wollte der Bischof nicht aufdringlich sein. Also blickte er wieder aus dem Fenster, um dem Deutschen die Zeit zu lassen, die er benötigte.
 1. Uniform - Darboy folgt nicht der klassischen Betrachtung von Uniform und ihrer Entstehung.
 2. Liturgisches Gewand
 3. Herakles
 4. Nemëischer Löwe
 5. Avantgarde
 6. Giuseppe Garibaldi war einer der berühmtesten Berufsrevolutionäre des 19. Jahrhunderts und maßgeblich am Risorgimento beteiligt.
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Menthir

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« Antwort #95 am: 17.11.2014, 22:31:42 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:14 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Louis Blanc rückte sich sein Haar zurecht und sein Lächeln schwand auch, als er merkte, dass seine Gesprächspartner immer kritischer und teilweise auch unfreundlicher wurden, und mit mehr oder weniger direkten Tiraden oder indirekten Anspielungen an seiner guten Laune und seiner Absicht drehen wollten. Er nahm sich eine Minute, um seine Gedanken mit dem restlichen Weißwein in seinem Glas herunterzuschlucken und zu schätzen. Wenn man unfreundliche Gedanken oder Eingebungen jeder Art irgendwie verarbeiten wollte, waren sie dem Wein vielleicht gar nicht zu unähnlich. Es ging, wenn man sie kelterte und unter die Leute brachte, immer um das Bouquet[1] und darum, den Wein mit entsprechenden Beschreibungen zu versehen, damit der Trinkende das Gelesene in das Getränk, in den Geschmack, interpretierte. Louis hatte sich seit Ewigkeiten schon gefragt, warum dies immer so war. Aber Sébastien Moreau bestätigte ihn immerhin in seinem Vorgehen, warum er nicht über das Abstrakte, sondern über das Konkrete sprechen wollte. Blanc behielt den letzten Schluck einen Moment im Mund und beobachtete Achille, diesmal lag sogar sowas wie eine Forderung in der Luft, auch seitens von Blanc, dass er sich endlich selbst äußerte[2].

Achille blickte nun auf, die Lippen zu einem Strich verzogen. Der Mann war nicht sehr glücklich über seine Anwesenheit, darüber, dass er Sébastiens Pläne ausplauderte und dass er ihn in eine solch schwere Lage brachte, und Sébastiens Analyse der Situation, ob sie nun stimmen mochte, ganz, tendenziell oder doch nicht, das änderte nichts daran, dass sich sein Gewissen wie eine Garrotte[3] um seinen angespannten Hals schloss. Es ließ ihn nur noch gedämpft sprechen, doch er musste es sich von der Seele reden. Es half alles nichts. "1848. Ich arbeitete damals noch mit Auguste[4] zusammen. Er war wirklich ein Erhabener[5] für uns, auch für Louis, das weiß ich. Wir standen auf den Barrikaden. Auch hier in Montmatre. Ich weiß noch, dass Auguste sehr ungehalten war, weil Lamartine[6] ihn versprochen hatte, dass er mehr Mitglieder aus der Bürgerschaft für die Barrikaden hier heranschaffen würde. Lamartine war ein brillanter Redner, aber kein...für uns kein zuverlässiger Mann. Er suchte Unterschlupf bei den anderen, gemäßigten Revolutionären. Ich weiß nicht, ob das der wirkliche Grund, warum Auguste sich für den Nachschub..."
Hilflos blickte Achille zu Louis, der schmerzhaft das Gesicht zu einer enttäuschten und noch immer wütenden Fratze verzog, aber dann doch nickte, als wollte er Achille zum Weiterreden ermutigen.
"Auguste traf sich mit einem merkwürdigen Mann in irgendeiner Spelunke. Sie nannten ihn Le Tortionnaire[7], weil er Berufsrevolutionär[8] wie Auguste war. Er war ein paar Jahre jünger als Auguste. Er hatte ein entstelltes Gesicht, so richtig pockenartig, und er war eine großgewachsene Gestalt. Beeindruckend und furchteinflößend, und dann sprach er noch kaum ein Wort und trug dieses alte Gewehr über der Schulter, aus weißen Holz. Auguste hatte mir erklärt, dass der Mann einen Feind auf 400 Metern unversehens aus dem Leben holen kann und ideal für die Barrikade ist. Ich bekam seinen wahren Namen nie mit während der Zeit. Aber dieser Mann, er stellte Söldner zur Verfügung. Es war ganz ungewöhnlich und fast romantisch, dass wir auf einmal mit grobschlächtigen Schotten und Söldnern aus allen Herren Ländern auf der Barrikade standen. Doch das ging schnell aus der Hand, entglitt unserer Kontrolle. Auf einmal beschossen die Männer von der Barrikaden auch Civilisten[9], um das dem Königshaus und den Truppen zuzuschieben. Auguste versuchte es nicht einmal zu verhindern. Das war der Moment, in dem Louis und er schlussendlich miteinander brachen. Manche Männer bettelten, dass es enden sollte. Die Söldner ließen es schließlich. Die Februarrevolution dauerte ja nun nicht so lange. Ich springe an das Ende."
Achille schenkte sich aus der Weinkaraffe nach und nahm einen tiefen Schluck. Die Erlebnisse von damals lasteten auf seiner Leber und höchstwahrscheinlich sparte er alle grausamen Details, die er an den Tagen sah, aus. Er schluckte stark. Jene Geschichten von Vergewaltigungen und Misshandlungen, sie blieben ungesagt, auch wenn alle am Tisch wussten, dass es sie - wie in wohl jedem Konflikt - gab und wohl nicht zu knapp während der Februarrevolution in Montmatre. "Die Revolution hatte Erfolg, der Bürgerkönig[10] floh ins Anglikanerland, wir hatten gesiegt. Triumphal rotteten wir uns zusammen, wir wollten unseren Sieg feiern und mit ins neu zu bildende Parlament einziehen, hatten wir dafür doch Blut vergossen. Kennen Sie das berühmte Bild von Philippoteaux[11]; Lamartine devant l’Hôtel de Ville de Paris le 25 février 1848 refuse le drapeau rouge?[12] Genau, Lamartine verwehrte allen Sozialrevolutionären den Eintritt in das Hôtel de Ville[13]. Le Tortionnaire hatte alle Geheimnisse und Pläne von Auguste verraten an Lamartine und die Republikaner. Wir waren sprachlos, wortlos, kraftlos, geschlagen. Ein Handwinken reichte. Wir waren geschlagen, verraten, gelinkt. Es hat meine Hoffnung nie wieder aufrichten können, dass Lamartine auch verraten wurde von diesem Mann, und bei der Präsidentenwahl Napoleon III. ausgeliefert war."
Achille trank das Glas aus und knallte es auf den Tisch.
"Und jetzt sah ich ihn wieder, genau mit der Frau, die sich bei euch darum bemühte, dass ihr sie an der Entwendung des Pfaffen beteiligt. Seine junge Frau wohl. Und ich habe ihn auch in der Stadt gesehen, nahe des Place Blanche. Le Tortionnaire, und scheinbar nutzt er den Namen...was war er?"
"Lavalle.", kommentierte Louis Blanc kurz angebunden, noch immer mehr oder weniger in Gedanken.
"Selbst Auguste glaubt nicht, dass diese Söldner ihn verkauft haben. Wie sollt ihr mir das glauben? Das ist kein Weg...", Achille blickte wieder nach unten. Wahrscheinlich hatte er Philippoteauxs Bild wieder vor Augen. Achilles Lippen wurden wieder zu einem Strich. Der Stachel des Verrates saß tief. Leise murmelte er: "Was ist schlimmer? Einzelne aus den richtigen Gründen verraten, oder die Sache verraten, weil man an falscher Brüderlichkeit festhält?"

Louis Blanc atmete scharf ein. Er blickte nun zu Alfred Nobel, scheinbar hatte er eine für sich befriedigende Antwort auf den kleinen Stich gefunden, ohne sich in irgendein Wortgefecht zu stürzen, welches er weder führen kann noch möchte. "Ihre Feststellung, Herr Nobel, wird sich doch nicht ernsthaft verwundern; bei einem Historiker festzustellen, dass er die Vergangenheit zur Bewältigung der Gegenwart heranzieht. Und sie werden sich wundern, wie oft Sie dieselben Strukturen durch die Geschichte in allen zeitgeschichtlichen Konflikten wiederkehren sehen. Das macht nicht alle Geschichte gleich, aber doch ähnlich, weil wir Menschen immer noch Menschen sind, nicht wahr?[14]"

Louis Blanc versuchte beiden Seiten gleichzeitig, zumindest in Sachen Aufmerksamkeit, gerecht zu werden, also blickte er immer wieder zu Alfred Nobel und dann zu Sébastien Moreau. "Deswegen Bureaucratie und Gewaltenteilung[15]. Wir sind ja nicht ernsthaft in einer Diskussion, die die Antike schon längst abgeschlossen hat in der Gyges-Parabel[16] durch Platon[17]. Wenn einem Menschen die Möglichkeit gelassen wird, auf Gerechtigkeit zu verzichten, zu seinem reinen Vorteil handeln kann, ohne dass er Strafe oder Ungemach fürchten muss, wird er dies machen. Und wenn er es auf Kosten anderer tun kann, wird er es erst recht tun. Deswegen benötigt es durchaus einen Staat und ein System, für den Beginn[18]. Deswegen braucht es eine starke Volksvertretung, um das Volk das überwachen zu lassen, und selbst darin braucht es Gewaltenteilung und Überprüfung und Kontrolle der jeweiligen Gremien. Wenn wir uns alleine auf die Gnade - durchaus ein Machtbeweis des Mittelalters - der hohen Herren verlassen, wird es uns nicht verwundern, wenn es diese - ich nutze Ihre Worte - kurzsichtige Tölpel gibt. Macht macht Tölpel. Deswegen muss sie verteilt sein. Und der Staat muss die Arbeiter zur Selbstverantwortung in allen Hinsichten erziehen."

"Sie haben recht, wenn ich nicht möchte, dass Blanqui seinen Aufenthaltsort verlässt. Sie haben jedoch Unrecht, wenn Sie glauben, dass er die Arbeiterschaft gänzlich vereinigen wird. Das ist keine Falle. Sie sind in keine Falle hier gegangen. Tun Sie, wozu Sie ihr Gewissen drängt, Sébastien. Ich werde Sie nicht aufhalten; ich werde Sie, wie Sie sich auch entscheiden, Ihres Weges gehen lassen. Ich werde Ihnen nichts tun und nichts über Sie verraten. Sein Sie sich sicher. Doch überschätzen Sie Ihre Person nicht so, als würde alles mit Ihnen stehen und fallen. Ihre Freunde wagen den Versuch vielleicht trotzdem. Und ich frage dauernd Unbeteiligte, ob Sie sich für die Demokratie und Parlamentarismus begeistern können. Warum sollte ich sonst in einem Künstler- und Arbeiterviertel sitzen? Ich umgebe mich eben nicht nur mit meines Gleichen. Und ich versuche mich mit allen Seiten zu beschäftigen. Es bleibt wohl die Grundlage jeder Einigung, dass wir miteinander reden, auch wenn wir nicht einer Meinung sind oder sein wollen. Wer nicht mit einander redet, kann einander nur anfeinden. Und so rede ich auch mit einem Mann aus der Privatwirtschaft, obwohl ich mir hoffe, dass die Staaten sinnige Konkurrenten dazu werden, und kann mich trotzdem mit ihm verstehen.

Und sehen Sie doch auch das Positive. Sie wissen sicherlich, wer Herr Nobel ist, das heißt, wenn Sie mir nicht folgen können oder wollen - metaphorisch gesehen - dann kann Herr Nobel seine Vorstellung von Freiheit gleich nutzen und Ihnen vielleicht gute Preise in der Hinsicht von Beschaffungen machen, die Sie bei ihrer Problemlösung dringend gebrauchen können. Er hat den Apfel, sie den Wilhelm Tell[19]."


Louis Blanc räusperte sich noch einmal, und griff dann ohne zu Fragen auf Alfreds Zeitung zu. Scheinbar hatte er von dem Artikel bereits gehört und wollte nochmal darauf eingehen. Er schlug sie auf, antwortete aber dabei weiter Sébastien, den er auch anschaute. "Sie sind auch ohne Wahl von Bedeutung, selbst wenn Sie sich nicht zur Wahl stellen, selbst wenn Sie ihren Weg gehen. Sie sind nicht zu wichtig, wie keiner in einer Demokratie, aber sie sind als Demokrat wichtig, wenn Sie ihre Stimme geben oder sich um den Erhalt der Gesellschaft bemühen, um Verbesserung, um Menschlichkeit. Ich bin nicht der Mann, der Sie als Werkzeug sieht. Ich bin der Mann, der Ihnen Ihren Kampf erleichtern will mit dem Grundproblemen des Überlebens, damit Sie sich dem politischen Kampf stellen können. Das ist eine Geste des Respekts. Sie sind mir dann weder hörig, noch sind sie mein Angestellter. Sie können es als Patronage[20] sehen, die nur eine Einschränkung hat; und da haben Sie mich vorbildlich durchschaut. Blanqui bleibt dort, wo er kein, letztes Blutbad verursachen kann. Der Rest ist Ihre Entscheidung. Das garantiere ich Ihnen nochmals."

Er las für einen Moment die Zeilen durch, auf die Nobel verwiesen hatte, klappte die Zeitung dann wieder zu, faltete sie so ordentlich, wie der Schwede es getan hatte, und legte sie zurück. Er beschloss, nicht nochmal auf diesen Wortwechsel einzugehen. Stattdessen bemühte er sich, eine neue Gesprächsflasche zu öffnen. Er wäre gerne auf die Darstellung des Fabrikanten eingegangen. Blanc vertrat durchaus eine andere Meinung, doch für den Moment wollte er Sébastien nicht auch in der Debatte noch das Gefühl geben, er gehöre nur als Anhängsel dazu.
War es immer noch, um Sébastien über eigentliche Verantwortung belehren zu wollen oder war es genuines Interesse, welches ihn Nobel eine neue Fragen stellen ließ?
"Apropos. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, Herr Nobel, was Sie in diesen bewegenden Zeiten in das aufgerührte Paris führt. Dieselbe alte Liebe, die mich alten Mann hierhin zurückführte?"
Er lächelte freundlich, als könnte er Alfreds zynische Art damit glattbügeln; so aussichtslos dieser Versuch auch sein mochte.
 1. Bouquet
 2. 
Gespürwurf gegen Passabel (+2) (Anzeigen)
- Sébastien und Alfred dürfen zudem Überzeugenwürfe oder einen verwandten Wurf machen, um Louis zu treffen. Ab diesem Moment ist es ein Gespräch, welches einen mentalen Konflikt widerspiegelt. Ihr könnt davon ausgehen, dass Blanc bereits eine leichte, mentale Konsequenz hat (Selbstzweifel). Achille beginnt auch mit einer leichten, mentalen Konsequenz (Schuldgefühl).
 3. Garrotte
 4. gemeint ist Blanqui.
 5. bezogen auf die Bedeutung des Namens Augustus.
 6. gemeint ist Alphonse de Lamartine
 7. Der Folterknecht
 8. Berufsrevolutionär - Achille offenbart hier, dass er den Begriff nicht marxistisch nutzt, sondern eher so, wie die Zeitungen der Zeit ihn inflationär für jeden mehrfach tätigen Revolutionär nutzen.
 9. Vielfach wird interpretiert, dass erst seit den Genfer Konventionen oder der Haager Landkriegsordnung in Konflikten wirklich konsequent der Zivilist von sonstigen Parteien unterschieden wird, nachweisbar ist der Begriff jedoch spätestens seit der Julirevolution 1830 im französischen Diskurs.
 10. Louis-Phillipe
 11. Henri Félix Emmanuel Philippoteaux
 12. 
 13. Hôtel de Ville
 14. Es bleibt unklar, ob es eher strukturell-menschlich ist bei Blanc, oder ob er sich auf historischen Materialismus oder gar dialektischen Materialismus bezieht.
 15. Gewaltenteilung
 16. Gyges
 17. Bei Platon ist es gefasst im Ring des Gyges
 18. Blanc erreicht eine soziale Ordnung, in seiner Theorie, über den Zwischenschritt des mit den Privatwirtschaftern konkurrierenden Wirtschaftsstaates, der zudem eine Sozialordnung einrichtet; und dann irgendwann durch eine egalitäre Verteilungsutopie abgelöst wird.
 19. Wilhelm Tell, der berühmte schweizerische Freiheitskämpfer - Das ist eine doppelte, ironische Wendung, also sowohl Apfel als auch Wilhelm Tell. Wegen der Schusskünste dürfte Le Tortionnaire gemeint sein.
 20. Patronage
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #96 am: 26.12.2014, 00:03:12 »
Dass Achille nun endlich mit der Sprache herausrückte, stimmte Sébastien etwas milder. Nur wegen des alten Bildhauers und Kameraden war er hier bei Blanc, hier bei Alfred Nobel, und Sébastien fühlte sich immer noch recht unwohl in der Gegenwart dieser beiden Männer. Da dieses Gespräch für den jungen Arbeiter einen bisher eher unerfreulichen Verlauf genommen hatte, konnte er seinen Argwohn nicht ganz ablegen und sich auf Blanc einlassen. Es war nicht einfach, wenn jemand etwas – oder eine Person wie Blanqui in Frage stellte, die man zuvor nie selbst in Zweifel gestellt hatte. Da half es Blancs Anliegen schon, dass Achille mit Sébastien seine Erlebnisse teilte und auch (für Sébastien überraschend) Monsieur Lavalle eine tragende Rolle dabei zugestand. Sébastien hätte nicht erwartet, dass Achille und Blanc Lavalle kannten. Aber nun machte es für ihn auf einmal mehr Sinn, dass der Künstler ihn davon abhalten wollte, den Darboy zu entführen. Er hatte keinen Grund, an der Ehrlichkeit Achilles zu zweifeln, auch wenn er es nicht guthieß, dass der Künstler nicht von Anfang an mit offenen Karten gespielt hatte. Wäre Achille schon in der Werkstatt an Sébastien herangetreten, anstatt ihn erst in dieses Café zu bitten, hätte er wohl allen Versammelten Ärger erspart. Doch Sébastien entging es nicht, dass es Achille auch jetzt sehr schwer fiel, über das Vergangene zu sprechen, und es vielleicht nur tat, weil er sich genötigt fühlte.

Blanc hingegen war offener und trat selbstbewusster auf. Klar war, dass er nicht wollte, dass Blanqui freikam. Und er behauptete, dass er keine anderen Hintergedanken dabei hegte. War dem zu trauen? Sollte Sébastien Blanc vertrauen, weil Achille ihm vertraute? Auf Achilles Menschenkenntnis war vielleicht nicht Verlass, wenn man die Vergangenheit des Künstlers betrachtete. Jedoch stand sich Sébastien hier mit seiner generellen Annahme, dass man ihn übervorteilen würde, wenn man konnte, auch selbst im Weg. Etwas in ihm suchte verzweifelt nach Haken an der Sache, wenn er ein finanziell großzügiges Angebot erhielt – nicht, dass ihm jemals schon etwas in der Art, in der Blanc dies tat, geschehen war.

Anspannung lag in der Luft. Der Tonfall war von allen Seiten kühler geworden. Sébastien war auf die Provokation, die gegen ihn gleichermaßen wie gegen Alfred Nobel gerichtet gewesen war, nicht eingegangen. War es es noch wert, auf jede Kleinigkeit einzugehen? Er spürte, dass diese Versammlung hier ihn in Selbstzweifel gerissen hatte. Er fühlte sich ein wenig verloren. Blanqui war ein Held. Zumindest war er es bisher für Sébastien gewesen. Und Lavalle… Die Wahrheit über einen Mann zu erfahren, den er nicht kannte, war leichter zu verarbeiten als die Wahrheit über einen Mann, von dem er vor wenigen Momenten noch felsenfest überzeugt gewesen war, das richtige Gesicht für die Arbeiter und ihre Wahl zu sein. Reichten einige wenige Worte aus, um seinen Glauben zu zerrütten?

„Ich kenne diesen Lavalle nicht persönlich“, begann Sébastien schließlich bedächtig, eher an Achille gerichtet als an die anderen Anwesenden. Er wusste nicht, wie viel der Künstler wirklich von ihrem Treffen aufgeschnappt hatte. Oder wie viel er schon vorher von François‘ Abmachung mit den Lavalles gewusst hatte.
„François hat ihn und seine Frau“, seine junge, anziehende Frau, „irgendwo aufgetrieben.“
War es so gewesen wie zwischen Auguste und Lavalle in Achilles Bericht? War dies der Beginn einer weiteren Tragödie?
„Er hat beide gelobt und sie machte auf mich einen tüchtigen Eindruck gemacht, als wir uns vorhin trafen.“
Sébastien schnaubte lächelnd.
„Sie wirkte sehr zielstrebig, aber darüber, dass sie und ihr Mann uns benutzen könnten, habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn es mit Lavalles Ehrlichkeit wirklich nicht weit her ist, verstehe ich deine Sorge. Ihre Sorge“, korrigierte er sich. Blanc schien Lavalles Auftauchen nicht weniger Bauchschmerzen zu bereiten.
„Danke, Achille, für die Warnung. Auch wenn ich sie dir aus der Nase ziehen musste: Ich werde sie beherzigen und auf der Hut sein“, sicherte Sébastien nachdenklich nickend zu, bevor er seine Aufmerksamkeit Louis Blanc widmete.
 
„Dennoch ich werde nicht mit Ihnen gehen. Ich werde mich nicht hinter Ihnen und Ihrem Freund Clemenceau verstecken und mich dafür bezahlen lassen, dass ich meine Brüder im Stich lasse. Mein Platz ist an ihrer Seite genauso wie an der meiner Familie. Sie sind meine Familie“, betonte er. Es war schwer für ihn, sich festzulegen, ob sein Herz in dieser Sache überhaupt einen Unterschied machte. Für Blanc und Achille waren Loyalität und Verrat keine leeren Begriffe ohne Bedeutung. Sie mussten die Zugehörigkeit, die Sébastien zu seinen Freunden empfand, doch verstehen. Für ihn war es keine falsche Brüderlichkeit, zu seinen Brüdern im Geiste zu halten. Er musste ihnen beistehen. Sie von Dummheiten abhalten, wenn es nötig war. Und wenn sie sich nicht davon abhalten ließen, könnte er sie nicht dennoch ruhigen Gewissens in die Gefahr ziehen lassen, nur um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu halten.
„Vielleicht haben Sie Recht, was Blanqui betrifft. Und ich glaube Ihnen, was Ihren Folterknecht betrifft.“
Le Tortionnaire – kein sehr schmeichelhafter Titel. Wie musste ein Mann gestrickt sein, damit man ihm diesen Beinamen gab? War das wörtlich zu verstehen? Sébastien spürte beim Gedanken an Lavalle innere Unruhe, obwohl er ihm, wie gesagt, nie begegnet war.
„Aber denken Sie nicht, dass mich das dazu bewegt, dass ich zulasse, dass meine Brüder ohne mich losziehen und Kopf und Kragen riskieren. Die Warnung vor Lavalle ist ein zusätzlicher Beweggrund für mich, sie zu begleiten. Ich möchte ebenso wenig ein Blutbad, wie Sie es wollen. Erst recht nicht an meinen Freunden. Ich werde mich nicht zurücklehnen, während sie sich in Gefahr begeben“, stellte er klar. Kein Angebot, so verlockend es in anderer Hinsicht auch war, würde ihn in dieser Sache umstimmen können. Nun war er sich sicher. Seine Familie würde er auch ohne Blancs Hilfe ernähren können. Aber er würde sich niemals verzeihen, seine Freunde für Geld verraten zu haben. Handelte es sich hierbei um die falsche Brüderlichkeit, die Achille gemeint hatte? Sébastien konnte an Loyalität nichts Falsches finden.

Sébastien erhob sich von seinem Stuhl und schob diesen, wohl um der Geste willen, zurück an den Tisch. Doch er ging nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment, mit den Händen auf die Stuhllehne gestützt, stehen.
„Ich stimme Ihnen zu, Monsieur“, richtete er sich noch einmal an Blanc. „Auch ohne mich würden sie vermutlich weitermachen. Doch wenn ich mich aus der Sache heraushalte, heißt das nicht, dass Ihr alter Freund deswegen hinter Gittern bleibt.“
Blancs Vorhaben, nur ihn allein, Sébastien, von den anderen zu isolieren, die die Messe zur abendlichen Erzbischofjagd in Notre Dame besuchen wollten, schien ihm, wenn man das Motiv dahinter betrachtete, nicht ganz schlüssig.
„Allerdings gelingt es mir ja möglicherweise, sie davon zu überzeugen, den Pfaffen in Ruhe zu lassen. Oder möglicherweise geht unser Plan nicht so auf, wie es sich die Lavalles gedacht haben – Sie verstehen mich. Soweit könnte ich Ihnen entgegenkommen“, bot er ihm an.
„Könnte. Ich werde darüber nachdenken.“
Vielleicht würde er dies ja wirklich in Erwägung ziehen. Der Abend war noch einige Stunden weit entfernt. Zeit genug, in der Sébastien einen klaren Kopf bekommen konnte. Vielleicht sollte er endlich zur Arbeit gehen. Besser, er tauchte (viel) zu spät als gar nicht dort auf.
„Aber verraten werde ich meine Freunde nicht, indem ich mich von ihnen abwende. Ich brauche keinen Patron, der so etwas von mir verlangt. Nicht für jeden lumpigen Centime, den Sie mir dafür anbieten. Ich tue, was mein Herz für richtig hält und nicht meine Geldbörse. Verwechseln Sie mich nicht mit einem dieser Söldner, von denen Achille erzählte.“
Sébastiens Blick ruhte noch einen Moment auf Blanc, wanderte dann aber auch zu Achille und Alfred Nobel.
„Au revoir, meine Herren“, verabschiedete er sich, bevor er sich zum Gehen wandte.[1]
 1. Dies muss von Sébastiens Seite aus nicht das Ende des Gesprächs sein, wenn ihr es weiterführen und ihn noch einmal ansprechen wollt.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #97 am: 28.12.2014, 08:10:56 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:16 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

"Es ist bezeichnend, aber akzeptabel von einem menschlichen Standpunkt aus." Die Worte Blancs kamen erst verzögert, nach zehn oder elf Sekunden langen Schweigens, in denen sein Blick auf Sébastien Moreau lag und ihn ausgiebig, forschend musterte. "Sie sind ein Mann ihres Wortes, weshalb ich Ihnen meine Bitte antrug, aber Sie sind auch ein Mann, der gerne seine Welt derartig konstruiert, dass Sie seinen Wünschen und Vorstellungen entspricht, selbst wenn dieses der Wahrheit der Situation nicht entsprechen mag. Dass Sie mich für einen Söldnerwerber in sozialdemokratischen Gewande halten, verletzt mich ehrlich gesagt. Ich deute es aber so, dass Sie damit einfach Ihren Punkt, in Ihrer Loyalität nicht wanken zu wollen, deutlich machen wollen und werde versuchen, es nur so zu deuten." Blanc verzog das Gesicht in einem Anflug von Unzufriedenheit. "Ihre Loyalität habe ich jedoch nie in Frage gestellt, ganz im Gegenteil, habe ich Ihnen versucht zu vermitteln, dass Sie aufgrund Ihrer Loyalität zu Ihren Idealen und Freunden Ihre Idee überdenken sollten. Ich jedoch habe versucht, was ich konnte und werde Sie nicht aufhalten. Sie sind in meinen Augen ein freier Mann, und freie Männer - und Frauen - haben auch das Recht Dummheiten zu begehen. Das ist eine der Vorzüge der Demokratie, Monsieur Moreau. Sie haben das Recht dumm zu sein und dumm zu handeln. Und während es Ihre Aufgabe scheint, dass Sie Ihre Freunde in ihren Torheiten unterstützen wollen, will ich treu zu meinem Wort stehen und Sie und Ihr Vorhaben - trotz meiner Ablehnung - zumindest insofern decken, dass Sie Achille nicht als Verräter an Ihrer Sache sehen müssen; ergo ebenso töricht sein. Wir alten, verzweifelten Männer werden einträchtig an diesem Tische mit Brotkorbe bleiben, die Sache abwarten, und wenn sich Ihr revolutionärer Furor erkaltet, aus Enttäuschung und Niederlage, dann wird der Stuhl, den Sie gerade zurückgeschoben haben, noch immer für Sie frei sein und wir drei werden dann über unsere Arglosigkeit lachen, die uns zum Glauben führte, dass vehementer Furor Dinge verändern könnte, und der dann in der Realität einen erbarmungslosen und perfiden Mörder fand."

Louis Blanc nahm die Zeitung Alfred Nobels wieder auf und schlug sie auf. So sehr er sich hinter seinen Worten versteckte, wie viele Menschen großer und inhaltloser Worte es taten, so deutlich war zu erkennen, dass er in der offenen, wenn auch freundlichen Ablehnung Sébastiens einen Affront gegen die Sache sah, und viel mehr noch, anerkennen musste, dass er anderen zugestehen musste, dieselben Fehler wie er selbst zu tun. Scheinbar gab es in seinem Denken keinen Platz für die Möglichkeit, dass der Plan Sébastiens und seiner Freunde funktionieren könnte oder zumindest andere Dinge, politische Entscheidungen und Taten in Bewegung setzen könnte, welche bis zur Wahl von Bedeutung wären. Blanc schien an die Determiniertheit des Scheiterns einer revolutionären Sache zu glauben, wenn mit Revolution diese neue Bedeutung des Umsturzes gemeint war; nicht wenn damit die Rückführung oder Umdrehung im astronomischen oder britisch-politischen Sinne gemeint war. Oder negativer ausgedruckt, konnte Louis Blanc, in seiner gebildeten Borniertheit, nur davon ausgehen, dass die Revolution (Die Drehung der Sache in diesem Falle) eben am Ausgangspunkt des Arbeiterunglücks begann, der revolutionäre-umstürzlerische Furor eine zu heftige Drehung auslöste, welche am Ende wieder dazu führen musste, dass es den Arbeitern dreckiger und zumindest ebenso dreckig wie zu Beginn ging. Der Historiker Blanc hätte, wäre er weniger verdrießlich ob der Ablehnung gewesen, möglicherweise die große französiche Revolution selbst angeführt, die schnell von seinen Idealen in eine Terrorherrschaft abfiel, oder er wäre weiter auf die letzten beiden Revolutionen eingegangen, wie er angedeutet hatte, in denen am Ende aufgrund der Barrikaden wieder konservative Kräfte gewannen; und darüber hätte er nochmal kraftvoll - hätte es irgendwo Kraftstoff gegeben - die Sache der sorgsamen Sozialdemokratie verteidigt. Aber in seiner Muffeligkeit, dass jemand menschliche Gründe und keine politischen Gründe heranzog, wurde Louis Blanc blind für solche Erwägungen; und gleichwohl zeigte der Politiker Blanc gleichzeitig in einer emotionalen Umkehr auch endlich eine Menschlichkeit und erzürnte Weichheit, die ihm so wenig Leute zugetraut hatten, da der Mann sonst immer als rationaler Beobachter galt. Und damit vermittelte er schlussendlich den Eindruck eines Mannes, der sich und seine Ideen zwar als wichtig ansah, sich damit jedoch im Untergang oder auf dem Weg in die Vergessenheit wähnte und nicht mehr bereit war, wenn dieser Untergang denn unvermeidlich war, diesen Weg mit wehenden Fahnen zu beschreiten. Blanc - und in letzter Konsequenz auch Achille Petit - waren geschlagene Männer. Zumindest was Barrikaden und den Glauben an eine gute Revolution anging; und mithin war auch zu bemerken, dass sie inzwischen an einer allumfassenden Kraftlosigkeit litten. Sébastiens Einbindung in ihre Geschäfte war viel weniger ein Versuch, diesen von einer Abkehr von der Kraft und Jugend der Revolution zu überzeugen per se, sondern seine Kraft für ihre sanfteren Zwecke in Anspruch zu nehmen; Sébastien als Jungbrunnen und brennenden Kohlescheit zu nehmen, der mit seinem Engagement den Druckkessel der Sozialdemokratie wieder unter Dampf setzte. Doch es blieb ein gescheiterter Versuch, den Louis Blanc in Kleinkariertheit nur so zu ertragen schien, indem er seinen Kopf - der sich gleichsam brüskiert puterrot färbte - in der hellen, mit dem Gesicht konstratierenden Zeitung verbarg.

Achille Petit blickte nochmal entschuldigend zu Sébastien auf. "Ich kann deine Gründe gut nachvollziehen. Ich wünsche dir ein glückliches Händchen.", seine Worte kamen zögernd und waren trotz aller Sorgen, Nöte und Niedergeschlagenheit aufrichtig gemeint und gesprochen. Wie so häufig war dem Künstler anzusehen, dass mehr Worte in seinem Inneren garten und brodelten, doch nichts Satzgleiches wollte sich daraus kochen lassen. Achille war ein Mann, der nur in der Kunst sein Ventil fand und auch in diesem Falle würde er es tun. Unwillkürlich mochte dem einen oder anderen der Gedanke kommen, ob er nun vor seinem Künstlerauge auch Sébastien sah -  den jungen Mann, der sein Herz auf der Zunge trug und mit dem Kopf durch die Wand wollte - und dieser sich derartig zu verzerren schien, wie es die vielen Plastiken in Atelier Petits taten, oder ob es nicht gerade, obwohl es Achille ins Unglück stürzte, seinen Freund dasselbe durchleiden zu sehen wie er selbst, den Blick des Künstlers auf Sébastien und sein Abbild schärfte. Waren die ganzen reichen Bürger in seinem verfallenden Atelier nicht verzerrt dargestellt gewesen, weil sie wenig menschlich waren[1]? Vielleicht ging es nicht nur um die Menschlichkeit im humanistischen Sinne bei Achille Petits Kunst, sondern auch um Prinzipien. Es mochte aufgrund seiner Lebensgeschichte Sinn machen, zu wähnen, dass seine Kunst seiner Enttäuschung über die Revolutionen ein Bild gab; und jenes war, dass viele sich ein klares Bild von sich und ihren Prinzipien gaben, doch beides in Wirklichkeit verzerrt und somit falsch war. Die vielen Revolutionäre hielten sich nie oder selten an ihre Prinzipien, wurden willkürlich und wütend, töteten und schändeten, plünderten und masskrierten; Wohltäter wurden zu Schuften, Weltverbesserer zu Weltwürgern. All dies drückte das Werk Achille Petits aus, und sein jetzt aufbrandendes, schüchternes Lächeln, konnte Sébastien vielleicht zumindest für einen Augenblick das Gefühl geben, dass Achille im tiefsten Herzen froh war, dass Sébastien sich hatte nicht auch Louis Blanc eingelassen, dass er noch an seinen Prinzipien festhielt und dass noch Hoffnung bestand, dass Sébastien vielleicht nicht verzerrt sein würde. Erst jetzt fiel Sébastien auch ein, an welcher verzerrten Büste Achille als Letztes gearbeitet hatte. Es war kein anderer gewesen als Louis Jean Joseph Charles Blanc.

Dann blickte Achille jedoch wieder auf seinen Weinkelch, und es schien an der Zeit, dass jeder wieder seines Weges ging[2].
 1. 
Der alte Betragsteil zu Achilles Kunstwerken (Anzeigen)
 2. Ich lasse hier noch Zeit, damit Alfred noch reagieren kann, wenn er möchte. Sébastien kann sich hingegen schonmal überlegen, ob er noch an einen bestimmten Ort möchte (aufgrund neuer Infos nochmal diskutieren? Willst du auf der Arbeit was ausspielen? Hast du selbst eine Szene im Kopf?) oder ob ich dich in die Minuten vor der Messe stecken soll.
« Letzte Änderung: 28.12.2014, 08:13:01 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Carl von Lütjenburg

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« Antwort #98 am: 28.12.2014, 18:50:05 »
Darboys Worte über Uniformen und Zugehörigkeit nötigten Carl ein gewisses Maß an Anstrengung ab, er war es nicht gewohnt aus dieser Richtung zu denken. Zu viele Nationen hatte er in den letzten Jahren bekämpft und besiegt, als dass er es ihm so leicht fallen könnte die Einwohner eines Landes nicht mehr mit ihrer Nation gleichzusetzen. Allerdings konnte er so vielleicht ein wenig besser verstehen, wieso die Franzosen ihre Niederlage nicht einsehen wollten, wo ihre Armee doch geschlagen war?
"Ich denke, dass Sie recht haben Monsier Darboy. Wir betrachten das Geschehen um uns herum offensichtlich stark verschieden, nur fällt es mir anscheinend schwerer das anzunehmen, als Ihnen. Ich neige normaler Weise nicht zu solchen Unhöflichkeiten und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir das nachsähen, es tut mir leid."

Carl verspürte eine gewisse Erleichterung durch die Entschuldigung, allerdings fühlte er sich mehr denn je deplatziert, seit er diesen Auftrag angenommen hatte.
"Es ist schon merkwürdig. Ich persönlich sehe mich eher als Arbeiter, als einen Mann für die gröberen Aufgaben, aber meine Vorgesetzten glauben mir das nie und entsenden stets mich auf solche heiklen Missionen. Aber wer bin ich, gegen das Schicksal aufzubegehren?", versuchte Carl ein wenig zur Entspannung beizutragen, kehrte jedoch ohne weitere Umschweife wieder zum Geschäftlichen zurück, "Wir geben sicher ein merkwürdiges Bild ab als Gruppe, aber nicht zuletzt deshalb, weil wir im Augenblick die einzigen sind, die sich diesem Anarchismus entgegen stellen, können sie unbedingt und unentwegt auf mich zählen, meine Herren.

Dennoch würde ich uns gerne weitere Hilfe zusichern. Sehen Sie, ich weiß nicht wie dieser geplante Übergriff heute Abend aussehen wird, aber wenn sie beide predigen wird es mir schwerfallen den Versuch im Alleingang zu unterdrücken. Es scheint immer noch eine Handvoll von Thiers' Leuten in der Stadt zu geben und auch einige Offiziere könnten uns hilfreich sein. Ich glaube in der Tat auf dem Place Blanche den Sohn General Lecomtes gesehen zu haben. Es wäre zwar möglich, aber für mich nicht sehr leicht diese Leute für die Sache einzunehmen, aber auf Sie, Exzellenz, wäre es ungleich einfacher möchte ich meinen. Es sind Katholiken allesamt und sie werden Ihnen von Hause aus mehr Vertrauen entgegenbringen als mir. Sind sie mit eingebunden, kann es auch leichter fallen sie zu kontrollieren und somit der Eskalation einen weiteren Riegel vorzuschieben.
Wenn solch ein Bündnis in der Stadt bekannt würde, wäre dies auch in unserem Sinne, wenn man an die bevorstehende Wahl denkt."
, überlegte Carl laut, "Was halten Sie davon? Können Sie mir vielleicht einen Kontakt herstellen? Ansonsten müsste ich mich bald verabschieden und dies selbst besorgen."
« Letzte Änderung: 28.12.2014, 18:51:51 von Carl von Lütjenburg »

Alfred Nobel

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« Antwort #99 am: 29.12.2014, 17:59:24 »
Stumm war Alfred geblieben, nachdem er mit seiner sarkastischen Darstellung die Motive der Privatwirtschaft über alle Stränge überzogen und verzerrt hatte. Natürlich war ihm bewusst, dass er nur Ideale traf, allerdings hatte er seine Provokation absichtlich als funktionierenden Status Quo formuliert, als Alternative zu dem, den auch die Idee der Arbeiterbewegung zu erzeugen suchte - ganz ohne eine Diktatur, weder durch das Protelariat noch durch die Bourgeoisie. Doch plötzlich waren seine theoretischen Gedanken über die Gesellschaftstheorien nicht mehr wichtig.

Kreidebleich saß der Schwede in seinem Stuhl und war in seiner Haltung eingesackt. Unruhig massierte er mit zwei Fingern seine Schläfe unter dem kahlenden Haupthaar, während er angespannt Blanc und den Bildhauer erzählen hörte. Lavalle. Der Name war Alfred seit Jahren nicht mehr begegnet, worüber er keineswegs klagen mochte. Doch wunderte es den Unternehmer nicht, dass diese Figuren noch immer ihr Leben mit Intrigen, Täuschungen und politischem Wechselspiel gestalteten. Mit geschürzten Lippen hörte er noch aufmerksamer als zuvor Sébastien zu, um ein Gefühl für dessen Absichten und Unternehmen zu gewinnen, von welchen Louis ihn offenkundig abhalten wollte. Doch die Zusammenhänge waren für Alfred nicht eindeutig genug, um aus den Andeutungen schlau zu werden. Doch er wusste, er musste reagieren. Somit erschreckte Alfred sich selbst, als er mit Sébastien gemeinsam aufstand, als dieser sich zum Gehen wandte.

"Hören Sie, Monsieur, geben Sie mir eine Minute," begann Alfred schließlich unruhig. Jegliche Zynik war aus seinem Ausdruck verflogen, seine Miene war voller Ernst. Mühsam überlegte Alfred, was er seinem Gegenüber eigentlich mitgeben wollte.

"Monsieur Blanc und Ihr Freund haben Ihnen schon ausreichend Grund geliefert, um dem Namen Lavalle zu misstrauen. Doch hören Sie, Sie ermessen das Ausmaß noch nicht, wie viel Schaden diese Figuren anrichten können."

Unschlüssig, wie er seine Worte wählen sollte, rieb sich Alfred die Stirn. Er seufzte tief, ehe er begann.

"Es ist mittlerweile acht Jahre her, als die Lavalles mich und meine Familie bedroht und erpresst haben. Ihre Absichten waren damals niemals ideell und werden es heute auch nicht mehr sein. Ihrem Wort ist nicht zu trauen, wenn man bedenkt, wie frei sie dieses in der damaligen Angelegenheit bereit waren zu brechen. Ich weiß nicht, welche Versprechen sie Ihnen geboten haben, doch sie tun gut daran, Ihnen keinen Glauben zu schenken. Im Gegenteil, womöglich wäre Ihrer Sache mehr geholfen, wären die Lavalles an Ihrem Streben völlig unbeteiligt..."

Finster sah Alfred zu Sébastien, ein Versuch, seiner Warnung Nachdruck zu verleihen. Er wusste, dass der Franzose keinerlei Grund hatte, ihm zu glauben, war er nicht nur ein Sinnbild derer, gegen die der Arbeiter einstand, sondern hatte der Schwede vor wenigen Minuten noch unschmeichelhaft die Sache Sébastiens ins lächerliche gezogen. Aber diese Angelegenheit wurde Alfred plötzlich wichtig, zu wichtig, um sie unversucht fallen zu lassen. Beschwichtigend hob Alfred die Hand, als er weitersprach.

"Ich kenne Ihr Vorhaben nicht, Monsieur Moreau, zu welchem Madame Lavalle sie angestiftet haben mag. Und, es sei mir erlaubt, sie geht mich auch sicherlich nichts an. Doch kann ich Sie überzeugen, dass jegliche Anstrengung Ihrerseits, den Absichten der Lavalles zum Erfolg zu verhelfen, Ihnen und Ihrer Sache nur schaden kann? Was lässt Sie glauben, dass diese Betrüger Sie nicht kurzerhand verraten, wenn es ihnen selbst nur zum Vorteil gelingt? Kann ich wenigstens diesen Zweifel in Ihnen säen? Denn hätte man vor acht Jahren einen solchen gehegt, wäre viel Schmerz und Leid verhindert werden können..."

Unzufrieden runzelte Alfred die Stirn. Louis Blanc hatte eine Geschichte zu erzählen gehabt, es fühlte sich so an, als wäre es an Alfred, seine zu erzählen. In den vergangenen acht Jahren hatte er nicht mehr ein Wort über sie verloren, doch seine Erinnerung war nicht im geringsten getrübt.

"Bitte, Monsieur, hören Sie sich wenigstens an, was ich zu erzählen habe. Lassen Sie mich Sie begleiten, wenn Sie einen wichtigen Weg vor sich haben. Ich will Sie überzeugen, und ich will Sie verstehen lassen warum: Sie müssen die Lavalles von Ihrer Angelegenheit fernhalten!"
« Letzte Änderung: 30.12.2014, 22:56:53 von Alfred Nobel »
But I have learned to study Nature’s book
And comprehend its pages, and extract
From their deep love a solace for my grief.

 - A Riddle, 1851

Menthir

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« Antwort #100 am: 05.01.2015, 08:39:54 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:13 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der Bischof lächelte endlich, als Carl versuchte die Situation aufzulockern, auch wenn es nur andeutungsweise und ein schwaches, wenn auch ehrliches Lächeln war. Sein Gesicht blieb gut lesbar, und neben dem Schmerz, der in sein Antlitz gemeißelt war, war nun auch etwas wie erhöhte Vorsicht geboten, als Carl anfing von Thiers und seinen Männern zu sprechen. Dennoch kam er nicht sofort auf dieses Thema zurück, sondern ging an dem Sessel vorbei wieder Richtung Fenster. Es sog die leicht klamme Luft der unfertigen Wohnung durch die Nase ein und verharrte einen Moment vor dem Fenster, um auf den Place du Châtelet unter sich schauen. Seine Augen fixierten etwas und folgtem ihm eine ganze Weile, wahrscheinlich irgendein Passant oder eine Person, die er kannte oder sonstwie seine Aufmerksamkeit auf sich zog, vielleicht ein Pferdegespann, welches sich über den Platz schob. Der Place du Châtelet war immer ein sehr lebhafter Platz, selbst zur Mittagszeit. Von draußen drang der Lärm des städtischen Lebens an das Fenster. Lachen, Wut, Enge, Mief, Anonymität und doch ein gewisses Geborgensein in der Gänze und eben dieser Anonymität. Diese galt aber nicht für alle, und wahrscheinlich schon gar nicht für einen katholischen Bischof, einen bekannten und geschätzten wie verachteten Mann wie Paul Zeidler, der zwar als guter Mann wahrgenommen wurde und doch vielen als unwillkommene Konkurrenz oder sanfter Rüttler an der Ordnung gelten musste und schon gar nicht für einen zwar noch anonym-seienden, aber doch sich unter dem Druck der Spionage befindlichlichen preußischen Offizier. Sie alle konnten diese Art von Anonymität einer Großstadt nicht mehr genießen, und wenn diese Warnungen und Befürchtungen wahr würden, dann wäre dies auch einer der letzten Momente beinahe kontemplativer Ruhe, etwas losgelöst von der Hektik dräuender Anarchie und Chaos.

"Haben Sie je darüber nachgedacht, dass Sie gerade deswegen ausgewählt wurden, weil Sie sich für einen Arbeiter halten?", begann der Bischof schließlich mit einem kurzen Seitenblick und durchbrach das Schweigen, während er Paul Zeidler weiterhin die Zeit ließ, über die Fragen Darboys nachzusinnen. "Es sind in dieser Stadt nun die Arbeiter, die sich bewegen lassen. Da ist es doch nur sinnig aus der Sicht einer Armee mit noch alten, aristokratischen Wurzeln einen Mann zu nehmen, der vielleicht kein Arbeiter in diesem Sinne ist, aber eine Mentalität von Dienstbarkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein verinnerlicht hat und als solcher auf Augenhöhe mit dem gemeinen Volke zu sprechen, ohne die Position seiner Herkunft und seiner Hierarchie zu vergessen. Demnach dürften Sie weit besser geeignet als der jetzige, preußische Gesandte. Harry von Arnim[1] ist ein wahrlich erzkonservativer Mann, der dem Arbeiter wenig abgewinnen kann. Er würde nicht freiwillig mit einem Théophile Ferré[2] oder gemäßigteren Männern des Volkes, wie Benoît Malon[3], reden. Sie machen sich hingegen ein Bild von der Stadt; und es bleibt Ihnen gar nichts anderes über, weil sie keinen warmgesessenen Diplomatenstuhl besetzen, sondern Ihre eigenen Aufgaben haben. Wer auch immer Sie im genauen beauftragt haben mag, Herr Major, er hält große Stücke auf Sie und ihre Fähigkeit der Anpassung, des Zurechtfindens zwischen feindlichen Linien und Ihrer Erfahrung; und er misstraut dem preußischen Gesandten darin, diese Aufgabe ausreichend erfüllen zu können."

Darboy blickte weiter mit seinen schweren Lidern und heruntergezogenen Augenwinkeln müde in die Stadt, seine Beobachtung hatte er gemacht und folgte ihr nicht mehr oder sie war aus dem Sichtfeld verschwunden. Auf der Seine fuhren mehrere beladene Boote mit Steinen vorbei. Noch immer wurden zerstörte Häuser und Mauerteile abgetragen, welche unter der Belagerung gelitten hatten, und noch immer wurden für manchen Bürger eine neue, notdürftige Unterkunft gebaut, die Industrie der Stadt erholte sich ebenso erst langsam wieder vom Schrecken der Belagerung. Ein Kontrast zum Place de Châtelet im Allgemeinen, doch keiner zu dieser Wohnung des Erzbischofs und keiner zum politischen Bild der Stadt und wahrscheinlich des ganzen Landes; es wirkte nach dem großen Schock des Zusammenbruchs und des Kampfes unfertig.

"Es steht mir nicht zu, Herr Major, Sie über Geschichte aufzuklären, aber lassen Sie mich einen Fakt als Frage aussprechen. Wussten Sie, dass Bismarck 1862 auf demselben Platz saß, an dem Sie jetzt sitzen? Die Thematik war vielleicht gar nicht so viel anders, wenn auch nicht wirklich vergleichbar. Er war damals preußischer Gesandter in Frankreich, und er kam auf mich zu. Ich war noch nicht im Amt, hatte aber seit jeher diese Wohnung in Paris. In dieser Wohnung habe ich die Werke des Dionysius Areopagita[4] übersetzt, und habe viel von Denis Auguste Affre[5] gelernt. Affre ist jener Erzbischof, der 1848 im Juniaufstand[6] auf den Barrikaden starb, als er für die Republik und gegen König einstand, aber den Frieden zwischen den Kämpfenden bewirken wollte. Diese Geschichte wird Ihnen vielleicht bekannt vorkommen. Der unstolze, aber menschenliebende Pfaffe, der sein Leben riskiert, um anderen ein Vorbild zu sein und Ihnen in der schweren Zeit gegen unkontrollierte Gewalt zu helfen. Nun war einer meiner Ziehväter 1848 im Kampf gegen König gestorben, ich aber in der öffentlichen Wahrnehmung sehr von Napoleon III. und dem Kaiserhof gefördert, wir also in der Wahrnehmung gegeneinander ausgespielt. Und wahrscheinlich stimmt das auch; doch Bismarck wusste um meine Ausbildung, meine eigenen Kämpfe mit der Kurie und lud mich nach Paris ein, derweil ich doch Bischof von Nancy[7] war. Bismarck hielt nicht viel von meinem Vorgänger[8], und so galt es fast als Affront, dass er mich lud. Wir saßen in dieser Wohnung, vor neun Jahren in etwas besserem Zustande als nun. Er trank nichts, er aß nichts. Er führte das Gespräch. Es ging um die sogenannte Französische Intervention in Mexiko[9], an der eben viele europäische Kräfte teilnahmen und teilnehmen wollten, und für deren Einmischung Bismarck einerseits wahrlich wenig übrig hatte. Aber andererseits er interessierte sich naturgemäß für das Thema: Ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, welche das eigene Land damit an den Rand des Abgrundes brachten, und Österreich war daran beteiligt. Entschuldigen Sie, wenn es mir verwehrt ist, aus dieser Anekdoten Lehren für diesen Konflikt zu ziehen. Aber manchmal frage ich mich, ob an Marxens Idee der zyklischen Geschichte nicht doch etwas dran ist[10]. Und dann wundere ich mich, dass dies Ganze gar nicht so weit von den alten, christlichen Geschichtsbildern, wie der Vier-Reiche-Lehre[11] entfernt ist..." Er driftete kurz in Gedanken an Affre ab und blickte aus dem Fenster.

Nach wenigen Sekunden atmete er nochmal tief ein und kehrte zurück zu seinem Sessel, nur um sich abermals hinzusetzen.

"Er, das heißt Bismarck, hatte noch weitere Treffen versprochen. Ich will Sie nicht mit den Inhalten quälen, aber er lud mich sogar für den September wieder ein, ins Palais Beauharnais[12]. Doch die Wahrheit ist, es kam nie wieder zustande. Er hatte die Zeit hier als Verschwendung angesehen, auch wenn er sich mit Land und Mentalität beschäftigt hat. Er wollte Ministerpräsident werden und hatte schon vor seiner Berufung nach Paris darauf gehofft. Er war ehrlich in diesem Punkt gewesen. So waren unsere Unterredungen nur informeller Natur, und von kurzer Dauer. Er wurde am 22. August 1862 Ihr Ministerpräsident.

Was will ich Ihnen damit sagen? Dass die Lage kompliziert ist, zum einen, zum anderen, dass ich Ihnen gerne Glauben schenken möchte, dass Sie Ihren preußischen Auftrag ernst nehmen, aber noch fürchten muss, dass Sie mir ebenso schnell entrissen werden, wenn ich mit Ihnen über substanzielle Dinge sprechen möchte. Da Ihre Rolle aber nicht die eines normalen Botschafters ist, der auf politischen Aufstieg sinnt, mache ich mir Hoffnungen. Sind diese berechtigt? Oder was erhoffen Sie sich von Ihrem Auftrag in Paris? Nur dessen Erfüllung oder wollen Sie das Beste daraus machen? Etwas für sich daraus machen? Sein Sie bitte ähnlich ehrlich wie ihr Ministerpräsident."


Er lächelte entschuldigend, als sei er in seiner Forschung nach den Motiven zu weit gegangen. Paul Zeidler war mit seinen Motiven offener gewesen, und so wollte Darboy auch mehr über Carl von Lütjenburg wissen, wohl wissend, dass dieser sich möglicherweise hinter seinem Preußentum weiter versteckte oder es tatsächlich so sehr lebte, dass seine eigene Identität sich zeitweilig im Preußentum auflöste.
"Entschuldigen Sie, ich wollte und sollte Sie nicht bestürmen. Aber die Lage ist tatsächlich komplex. Wussten Sie, dass Louis Blanc und Adolphe Thiers bereits 1848 eine zentrale Rolle spielten, als Monsieur Affre auf der Barrikade getötet wurde? Dieser Konflikt ist so alt wie die französischen Republiken; der Kampf zwischen Monarchismus und Liberalismus, beheizt von Sozialismus und ähnlichen Ideen, die in der Zeit immer weiter ausreiften. Adolphe Thiers war maßgeblich am Tode Affres beteiligt. Thiers ist eine faszinierende, zwitterartige Gestalt, müssen Sie wissen. Er befürwortet Wahlrecht und katholische Erziehung, er stritt mit König und Monarchismus, aber alles dreht sich scheinbar um seinen Hass für die politische Linke, der er einst noch angehörte. 1830 war er ein Sprachrohr der Revolutionäre, in der Vorbereitung 1848 ist er erst ein Mann des Königs gewesen und ein Mann, mit dem Affre viel verkehrte, und dann durch den Streit mit dem Bürgerkönig fiel er zurück in die Opposition, die nun weniger liberal, sondern immer sozialistischer wurde, und entdeckte seinen persönlichen Furor für die Linke. Nach dem Staatsstreich Napoleons III. betonte er die Größe von Napoleon I., obwohl dieser viele Errungenschaften der Französischen Revolution im Handstreich wieder einstampfte, nur um sich kurz darauf mit Napoleon III. zu zerstreiten und uns Exil zu fliehen. 1862/63 kehrte er erst wieder ins politische Leben zurück, wurde zur Galeonsfigur des Liberalismus bis Preußen und Frankreich Krieg führten und Napoleon III. abdankte; und sie haben die Nachrichten die letzten Tage verfolgt, nun ist der Mann gewählt und spricht sich auf einmal wieder für die Monarchie aus. Diese Punkte, die ich Ihnen nenne, soll Ihnen die Komplexität dieses Mannes anschaulich machen."

Schließlich legte er die Hand an das Kinn und begutachtete Carl, nachdem er so viele Punkte genannt hatte. "Andere würden es opportunistisch nennen. Ich selbst habe den Mann nie verstanden. Wenn Sie also glauben, dass Sie Thiers und seine Männer überzeugen können, will ich Ihnen anraten, dass Sie die Sache genau prüfen. Mehr kann und will ich nicht tun. Jedoch werden sie Monsieur Thiers nur in Versailles dieser Tage antreffen. Allerdings soll sein Minister für Inneres in der Stadt sein, Ernest Picard[13]. Vielleicht haben Sie über ihn Glück, da dieser sich einen Überblick über die Lage machen will. Ich glaube, dass Jules Favre[14] auch in der Stadt ist. Bei den Soldaten kann ich Ihnen aber kaum behilflich sein. Aber interessant, dass sie Lecomte erwähnen. Dieser Fall wird nämlich noch für viel Unbill sorgen, erscheint es mir. Aber Sie haben wirklich seinen Sohn gesehen? Claude-Martin war einer der wenigen Männer des Militärs, zu denen ich Kontakte pflegte. Ich könnte Ihnen zumindest sagen, wo sein Haus steht. In der Rue Lepic[15], in Montmatre."

Jetzt war es aber an dem Bischof, etwas kritischer dreinzublicken. "Aber meinen Sie nicht, dass das Aufsuchen dieser Männer die Problematik verschärfen würde, wenn man nach mir trachtete? Lecomte ist von den Sozialisten füssiliert wurden." Er verzog sein Gesicht etwas. "Und wenn Sie denken, dass Sie mich nicht schützen könnten, darf ich davon ausgehen, dass Sie befürchten, dass die Gruppe an Bedrohern mehr als ein, zwei Mann beinhaltet?"
So langsam schien Darboy zu dämmern, in welcher Gefahr er sich real befand. Dieser Augenblick verging jedoch rasch und seine ruhige, von Schmerz durchflimmerte Miene kehrte zurück. Nun betrachtete er Carl wieder nachdenklich, in der Hoffnung, dass dieser ihn in seine Gedanken einbezog, während er weiterhin den ruhigen, nachdenklichen Paul Zeidler in jenen Gedanken beließ.
 1. Harry von Arnim
 2. Théophile Ferré
 3. Benoît Malon
 4. Dionysius Areopagita
 5. Erzbischof Denis Affre - Affre war der erste von drei Pariser Erzbischöfen, die zwischen 1848 und 1871 ihr Leben lassen sollten. Der zweite war Auguste Sibour durch Mord durch einen abgesetzten und rachesuchenden Priester, und der dritte schließlich Charles Darboy selbst.
 6. Der Juniaufstand ist Teil der Revolution 1848 und hatte die Errichtung von Nationalwerkstätten zum Ziel, welche maßgeblich auf Louis Blanc zurückgehen. Im Scheitern der Nationalwerkstätten ist wohl auch Louis Blancs Frust begründet.
 7. Nancy
 8. François-Nicholas-Madeleine Morlot
 9. Französische Intervention in Mexiko
 10. Das ist wieder ein Verweis auf den historischen Materialismus und damit in der Hinleitung auf die klassische Bedeutung von Revolution (vollständige Umdrehung einer Sache)
 11. Vier-Reiche-Lehre - Mit dieser Lehre ist oftmals der Gedanke verknüpft, dass am Ende des vierten Reiches das jüngste Gericht steht, also alles in den christlichen Urzustand (zumindest für jene heiligen und guten Christen) zurückgeführt wird, also eine historische Revolution im Sinne der vollen Umdrehung der Geschichte.
 12. Das Palais Beauharnais ist bis heute Sitz des deutschen Botschafters, früher Arbeitssitz, heute Wohnsitz.
 13. Ernest Picard
 14. Jules Favre
 15. Rue Lepic - Die Straße liegt direkt am Place Blanche.
« Letzte Änderung: 05.01.2015, 08:59:03 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #101 am: 07.01.2015, 19:23:50 »
Sébastien strafte Blanc zum Abschied mit einem finsteren Blick, weil er sich durch dessen abschließende Worte verspottet fühlte, aber er sah davon ab, auf den Mann einzugehen, der sich bereits, scheinbar wütend und beleidigt, in den Zeilen der Zeitung versteckt hatte. Es war die Sache vermutlich nicht wert, sich noch weiter damit zu befassen. Gewiss trug er nun eine gewisse Art von Groll, den er gegen Blanc hegte, mit sich. Trotz regte sich in Sébastien – der Trotz, Blanc zeigen zu wollen, dass dieser sich irrte. Enttäuschung und Niederlage? Das würde sich noch zeigen!
Doch für Achille hatte Sébastien dennoch ein Lächeln übrig, zusammen mit einem freundschaftlichen Abschiedsgruß als stummem Dank für dessen Glückwünsche, indem er dem Künstler seine rechte Hand auf die Schulter legte.

Ein kompletter Reinfall war dieses Treffen mit Louis Blanc schlussendlich nicht gewesen. Es hatte Sébastien geholfen, die Dinge klarer zu sehen und nun auch die Interessen der Lavalles zu hinterfragen. Alfred Nobels Formulierung – dass Madame Lavalle sie, François, Nicodème und Sébastien selbst, zu ihrem Vorhaben angestiftet hatte – traf, im Grunde genommen, zu. Die Entführung Darboys sollte im Austausch gegen zukünftige Dienste des Paares geschehen. Doch wenn es stimmte, dass Lavalle Blanqui, damals im Jahre 1848, verraten hatte, was versprachen sich dieser Mann nun davon, dass Blanqui freikam? Oder ging es Lavalle nicht um Blanqui, sondern um Darboy?

Zweifel waren gesät, die sich nicht ignorieren ließen. Nicht in diesem Moment. So war es, dass Sébastien Alfred Nobels Worten offener gegenüberstand als möglicherweise unter anderen Umständen. Immerhin war dieser Mann ein Industrieller und stand damit eigentlich nicht auf seiner Seite – der der Arbeiter. Doch schien er in dieser Angelegenheit nur helfen zu wollen. Sébastien wollte sich Nobels Geschichte gern anhören… Doch war er, mit einem neuen Ziel vor Augen, nun in Eile. Blanc hatte ihm in Erinnerung gerufen, dass er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen musste. Und dies würde schwer fallen, wenn er seine Anstellung verlor.

„Es dürfte zu spät dafür sein, die Lavalles von unseren Angelegenheiten fernzuhalten“, antwortete Sébastien dem Industriellen. „Doch ich kann die Warnungen vor ihnen nicht ignorieren. Ich habe nun keine Zeit; ich sollte zur Arbeit eilen, bevor man langfristig Ersatz für mich findet. Aber wenn Ihnen die Sache wichtig ist, treffen Sie mich hier, vor dem Café, um viertel vor sechs heute Abend. Was Sie zu erzählen haben, sollten auch meine Freunde hören.“
Um sechs Uhr war Sébastien mit François und Nicodème beim Haus seines besten Freundes verabredet. Eine Viertelstunde war genug Zeit, um rechtzeitig dort zu sein. Vielleicht würden die beiden nicht davon begeistert sein, wenn Sébastien einen vierten mitbrachte, aber er gedachte auch nicht, Alfred Nobel zu einem Teilnehmer ihres Vorhabens zu machen. Die Einladung hatte einen bestimmten Grund: Der Pfaffe in ihrer Runde hatte bereits vor den Lavalles gewarnt, Achille ebenfalls und nun auch Alfred Nobel. Es konnte gewiss nicht schaden, die Zusammenarbeit mit den Lavalles gemeinsam noch einmal zu überdenken. Monsieur Nobels Zeugenbericht hierzu könnte nützlich sein. Sébastien schätzte, dass von Nobel selbst keine Gefahr ausging, aber auch aus einem zweiten Grund nahm er an, dass es in keiner Katastrophe enden würde, wenn er ihn zu François mitbringen würde. Sie wollten sich dort nicht noch einmal mit Madame Lavalle oder ihrem mysteriösen Mann treffen, bevor es losging. Ein unschönes Wiedersehen, sollte Nobel die Wahrheit sagen und die Lavalles kennen, sollte es also nicht geben.
„Liberté, égalité, fraternité!“

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« Antwort #102 am: 08.01.2015, 04:41:42 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Abend - 17:40 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Die Sonne, die sich nur spärlich und kühl zeigte zwischen einer ungewöhnlichen Diesigkeit, an diesem kühlen und oftmals auch nassen Tage, kletterte langsam zwischen die Häuserschluchten von Paris und würde in der nächsten Stunde beginnen, langsam, den Himmel und die Wolken und violett-gräulichen Pastelltönen zu zeichnen[1]. Jene Zeit des Tages, welche die Guinguette mit besonders vielen Künstlern füllen würde, welche ihren staubigen, muffigen oder dunklen Ateliers entflohen und sich zum abendlichen Wein an diesem Ort trafen. Es ging dann um Farbkompositionen nach dem Vorbild himmlischer Farbtöne, um Schärfegrade und Realismus einer Zeichung, um naturgemäße Darstellungen. Und dieser Debatte schlossen sich dann auch der Literaten an, denn was war nun Realismus[2], was war noch als Naturalismus[3] zu verschärfen, wann driftete es ab in den Idealismus. Oftmals waren diese Unterredungen theoretischer Natur, dann hin und wieder auf direkt auf Ergebnisse erzielend, wenn sich nicht jemand hinter diese Debatte versteckte, um in Wirklichkeit für das eigene Werk zu werben. Das Frankreich dieser Tage ließ nur bei den ignorantesten oder weltenthobensten Künstlern diese Debatte zu, und so saß Alfred Nobel bereits wieder auf den Korbgeflechtstühlen dieses Hauses, im kühler werdenden Garten unter den hölzernen Rosenbögen, an denen nur das sorgsam beschnittene Gestrüpp verblieb, welches sich ab dem Sommer wieder als Wein entpuppen würde.

Die Gespräche gingen um ihn herum weniger um die Kunst, so wie man es von diesen Orten kannte, sondern um die Wahl. Um die Schlägerei zwischen Republikanern liberaler Lesart und Sozialisten und wenigen Kommunisten auf dem Place Blanche am frühen Morgen kümmerten sich die Kommentare und Sorgen. Ob die Füssilierung der beiden Generale und die Geschichte um die Thiers und die Kanonen von Montmarte nur der Auftakt dazu war, Paris wieder unter das Joch des Krieges zu führen? "Aber...es wäre noch viel schlimmer, meine Liebe.", hörte Alfred ein undeutliche Stimme, deren Zunge des vielen Weißweins Schwere annahm. "Wenn so mancher Historiker schon meinte, dass der Kampf gegen die Preußen und Deutschen bereits ein Bruderkampf war, sind wir doch weitestgehend fränkische Reiche und als Brüder erz- und erbverfeindet[4], wie bezeichnen wir dann, wenn wir uns wieder die Köpfe einschlagen." Eine weitere Stimme schaltete sich ein, sie gehörte einer Frau, wahrscheinlich eine junge Frau. "Clément, bitte. Ich bin mir sicher, dass wir alle des Kämpfens müde...", eine dritte Stimme mischte sich ein und fuhr vehement dazwischen, und gehörte einer älteren Dame. Vielleicht saß eine Familie zusammen. "Schluss ihr beiden! Müsst ihr denn immer über Blut reden..."

Sich wieder selbst die Köpfe einschlagen. Eine Feststellung, die Alfred in seiner kurzen Zeit, die er in Paris war, in allen Formen und Varianten gehört hatte, mal kunstfertig, mal ungeschlacht. Viele französische Bürger waren wirklich der Kämpfe müde, aus den unterschiedlichsten Gründen. Viele hatten gehungert, auch wenn die Regierung von Adolphe Thiers die Grundversorgung wieder herstellen konnte. Viele hatten Verwandte verloren oder waren in der Belagerung entweder vom Beschuss Preußens verstört wurden, hatten Haus oder Verwandschaft verloren, oder in viel schlimmeren Schicksalen waren sie von ihren eigenen Landsleuten beim Kampf um Überleben geplündert, geschlagen und manche auch getötet wurden. Viele Tage hatte die Stadt nach der alten Kanalisation gerochen, der Müll war nicht mehr entsorgt wurden. Paris hatte sich nur schwerlich wieder hergerichtet, und die vielen Narben wurden noch mit billiger Schminke übertüncht. Besonders beliebt in der retrospektiven Geschichtserzählungen waren die schwimmenden Friedhöfe und die hygienischen Probleme dieser. Viele Katakomben lagen an den in den 1850er Jahren neu geschaffenen Kanalisationswegen[5] und waren mehrfach überschwemmt wurden, sodass die Friedhöfe tatsächlich in Kanalisation und Trinkwasser übergingen. An diese grausamen Zeiten wollten sich die wenigsten erinnern, und doch alle taten sie es, weil sie mit Sorge auf das Scharmützel zwischen den Nationalgardisten und den republikanischen Soldaten blickten und was die Zukunft aufgrund dieses Kampfes für sie bereithielt. Alfred erlebte also jegliche Regung, welche die Bevölkerung Paris betraf in dieser typischen Pariser Art; im Versuch das Unbill der Realität als bon vivant zu entgehen. Und er sah, dass dieser umkämpften Tage dieser Versuch vielen misslang.

Sébastien hatte derweil auf der Arbeit erstaunlich wenig Probleme und treue Mitarbeiter, die wussten, wofür der junge Moreau stand. Nämlich, dass er für ihre Sache kämpfte und so war es nicht verwunderlich gewesen, dass so einige von seiner Einmischung auf dem Place Blanche gehört hatten und ihn mit freundlichen bis freundschaftlichen Klapsen auf den Rücken begrüßten, sie lachend über die kleine Prellung am Kopf Sébastiens lachten, die sich schon blau gefärbt hatte, und er schließlich von ihnen Rückendeckung bekommen hat. Keinen der Vorarbeitern war augenscheinlich aufgefallen, dass Sébastien einige Stunden geschwänzt hatte. Seine Arbeitsgefährten hatten ihren Rücken für ihn gerade gemacht. Und auch auf der Arbeit konnte Sébastien dann dieser zum einen nachgehen, und zum anderen genügend Ruhe finden, um seine leichten Wunden der Schlägerei etwas zu pflegen[6].

Er hatte nicht viel Zeit bei seiner Familie verbracht, oder viel mehr gar keine. Es wäre wohl besser erst nach Hause zurückzukehren, wenn man diese Sache hinter sich hatte. Würde man sich aufraffen können, wenn man erst einmal seine Familie umschloss und wusste, dass man sich wieder der Gefahr hingeben würde? Es könnte immerhin einiges schief gehen und nicht nur ein Revolutionär, nicht nur ein Mann mit Ideen und Esprit war in der Ausführung seiner Pläne gefallen. Und so trieb es Sébastien zurück zur Guinguette, in der er sich mit Louis und Achille getroffen hatte. Der Ort war deutlich gefüllter als zur Mittagszeit, aber auch Sèbastien entging nicht, dass die Stimmung angespannt war und nicht so ausgelassen wie nach der Verkündung der Wahl.

Was seine Freunde wohl für Material gesammelt hatten, um die Entführung durchzuführen?

Alfred Nobel saß an einem der Tische, immer noch mit der aktuellen Tageszeitung, die er augenscheinlich Louis Blanc wieder abluchsen konnte, ehe Louis und Achille gemeinsam gegangen waren. Auf diversen Tischen lagen die Überreste einer abendlichen Mahlzeit, die oftmals nicht über ein Salat an diesem Ort hinausging. Viele Menschen warteten hier oder unterhielten sich angespannt. Es waren die typischen Bürger Montmatres, und viele hatte Sébastien an diesem Ort schon einmal gesehen. Guinguettes waren für viele Pariser das, was für den Berliner seine Eckkneipe war. Doch ein Mann fiel Sébastien gleich auf, an seinem unverwechselbaren Hut. Unweit von Alfred Nobel, aber in dessen Rücken und deswegen von diesem unbemerkt, saß ein Mann, der einen schwarzen, schweren Mantel trug. An seinem Tisch, den er mit einer schweigsamen und nicht zu ihm gehörenden jungen Frau in Arbeiterkleidung teilte, die ihn unentwegt missbilligend anstarrte, lehnte ein ebenso schwarzer Regenschirm. Seine Kleidung war monochrom, und komplette schwarz. Vom schweren Wollmantel über die Anzughose, die schwarzen Lederschuhe und sogar der Hut war in dieser Farbe. Nur von einer weißen, künstlichen Feder, deren Außenfahne in ein dunkelgrün überging. Jene Hutform, die der mitteleuropäische Revolutionär als Kalabreser wiederkannte. Ein blonder Schnauzer füllte sein Gesicht, welches ansonsten glatt rasiert war. Er war ein Sitzriese, aber wahrscheinlich war er auch stehend von kräftigen und stattlichen Wuchs, der preußisches Gardemaß hätte haben können. Vor diesem Mann lag ein Notizblock und Graphitstift, den er unentwegt über das Papier fahren ließ, Worte und Skizzen wild mengend. Wahrscheinlich ein weiterer, exzentrischer Künstler, doch eben einer, der sich von den sonstigen Pariser Künstlern deutlich unterschied. Autoritärer Bart, monochrome Kleidung, eine Aura des Ernstes um sich tragend. Das war sehr untypisch und ließ ihn schnell als Fremden erkennen.

Dann aber war Sébastien bereits am Tisch von Alfred Nobel angekommen, der ihn ebenso in seiner Annäherung bemerkt hatte[7].
 1. Falls es von Relevanz ist, um 18:24 Uhr ist Sonnenuntergang.
 2. Realismus
 3. Naturalismus
 4. Verweis auf den propagandistischen Begriff der Erbfeindschaft
 5. Pariser Kanalisation - Die Ursprünge der Kanalisation liegen im 14. Jahrhundert.
 6. Sébastiens Konsequenzen werden zurückgesetzt.
 7. Ab hier überlasse ich euch die Gestaltung des Gespräches.
« Letzte Änderung: 08.01.2015, 04:42:23 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Paul Zeidler

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« Antwort #103 am: 12.01.2015, 21:47:54 »
Paul Zeidler hatte sich wieder auf das Sofa gesetzt und die abgegriffene Bibel des Bischofs in die Hand genommen, doch noch nicht geöffnet. Paul hatte irgendwie erwartet... - wartete darauf, dass ihn Gottes Wort beruhigen und zuversichtlich machen würde, doch nichts geschah. Das Buch der Bücher wog schwer in seiner Hand und mit einem Mal wurde er sich gewahr, dass das Wort Gottes auch eine schwere Last sein konnte. "Es ist schwer, an das Gute zu glauben.", stellte Paul müde fest. "Es gibt so viele Dinge einzuwenden. Man wird sagen können, dass das menschliche Herz von Kindheit an voller Bosheit ist. Dummheit und Faulheit halten den Verstand der Menschen gefangen. Stolz und Eigennutz trüben den Blick der Menschen. Und wilde Emotionen lenken die Hände. Oh ja, es ist alles wahr, es ist alles wahr - und ich, der ich von Deinem Wort angesprochen bin, was rechne ich mir für Chancen aus? Wie soll ich Geringer unter den Geringen meine Stimme erheben und Deinen Willen verkündigen? Ach, wenn Du es doch nur selber tätest! Wenn Du vom Himmel in Deiner Herrlichkeit herabkämst und selbst Deinen Willen unter den Menschen fügtest! Was kann ich schon tun? Ich bin so ungeschickt mit Worten und meine Lippen sind unrein. Wie kann ich glauben, dass Du mit mir bist? Wie kann ich Vertrauen in meine Aufgabe haben?"

Paul sprach vor sich hin, gab seinen Gedanken Raum. An Darboy und von Lütjenburg dachte er schon lange nicht mehr. Der Zweifel hatte ihn übermannt und ein tiefes Gefühl der Trauer ließ seine Worte zur Klage werden. "Du stellst mich vor eine unmögliche Aufgabe, lässt mich vor die Hunde gehen und zur Schande werden. Ist das die Art, in der Du mit Deinen Propheten umgehst? Bin auch ich ein Jeremia, ein Petrus, ein Paulus? Soll es mir eine Zuversicht sein, wie es heißt: 'Sie gingen aber fröhlich von dem Hohen Rat fort, weil sie würdig gewesen waren, um Seines Namens willen Schmach zu leiden'[1]? Soll ich mich gar freuen, 'als Opfergabe im Gottesdienst meiner Gemeinde hingegeben zu werden'[2]? Ich... weiß nicht... ob ich die Kraft habe."

Paul blickte auf und unverwandt den Bischof an. "Euer Eminenz, Christus ist in den Schwachen mächtig, ist es nicht so? Wir haben keine Aussicht auf Erfolg und unsere Sicherheit ist in Gefahr. Tod und Teufel warten auf dem Platz da draußen. Ich... habe... Angst, das kann ich nicht verhehlen. Haben Sie auch Angst?

Aber, ich frage Sie, wo wir schon jetzt so arm und schändlich sind mit unserem Glauben, um wie viel ärmer und schändlicher wären wir ohne ihn? Wir müssen predigen. Wir müssen in einer kranken Welt an dem festhalten, das uns heil machen kann. Und dann? Wenn wir in dieser verwirrten Generation selbst zum Licht der Welt werden können, wie Paulus im Philipperbrief meint, vielleicht ernten wir nicht nur Hiebe und Schläge. Tod und Teufel stehen uns gegenüber, Gott stehe uns bei! Wir müssen die Bergpredigt predigen!
"[3]
 1. Apg 5,41: Vorangegangen ist die Verurteilung von Petrus und der Apostel in Jerusalem. Sie erhielten Redeverbot und wurden ausgepeitscht - predigten aber sofort wieder.
 2. Phil 2,17: Paulus spricht darüber, dass er das Marytirium gerne für seine Verkündigungstätigkeit in Kauf nähme, Christus zum Ruhme und der Gemeinde zur Stärkung.
 3. Bergpredigt
« Letzte Änderung: 12.01.2015, 21:59:02 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Menthir

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« Antwort #104 am: 16.01.2015, 21:04:53 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:15 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Georges Darboy zeigte sich in diesen Momenten, in denen Paul Zeidler von seinen Zweifeln und seinen inneren Wirren und Kämpfen sprach, als der Mensch, der er war. In seinem Blicke waren dieselben Zweifel, dieselben Ängste verborgen, die auch an dem Deutschen nagten. Er ließ also einen Moment Stille walten, auch wenn Pauls Stimme zum Ende wieder zu einem gewissen und auch ansteckenden Enthusiasmus fand, der in den Herausforderungen nicht nur Müh-, sondern auch Labsal fand oder zumindest zu finden hoffte.
"Ich habe große Angst, Monsieur Zeidler. Ich habe riesige Angst und sie wird mit jedem Atemzug größer. In all den Jahren habe ich eine Sicherheit in den Armen den HERRN gesucht, in alle den Jahren habe ich immer wieder erfahren müssen, die Erfahrung wieder und wieder erlernen müssen, warum das Weltbild des mittelalterlichen Christentums so sehr in der Leidenserfahrung liegt und welche Stärke in dieser Ungewissheit steckt. Angst, solange sie einen nicht lähmt, ist stärkend, so wie Leid, welches nicht das Leben nimmt, stärkend ist. Aber diese Worte trösten uns nie über jene Momente, in denen wir Leid und Angst erfahren, uns wie Tiere getrieben sehen und überall unser Vorstellungskraft freien Lauf lassen. Die Welt hat sich in seinem Inneren nicht verändert, nur ihr Aussehen hat Wandel erlebt.

Meine Furcht ist dabei sehr konkret, aufgrund der Warnungen, aufgrund dessen, dass es seit Jahren immer wieder Attentate gibt, aufgrund der Tatsache, dass zwei meiner Vorgänger in den letzten 23 Jahren gewaltsam ums Leben gekommen sind. Ich sorge mich insofern, weil ich von der antiklerikalen Seite der Revolutionäre weiß. Ich sorge mich, da sie den Kirchenstaat mit Gewalt aufgelöst haben, und weitestgehend kampflos, nachdem Napoleon III. lieber einen Kampf gegen Deutschland wollte, als den Kirchenstaat zu schützen, und die Italiener Rom zu ihrer Hauptstadt machen wollten. Ich sorge mich insofern, dass ich nicht auf das Land der Kirche bestehe, doch weiß, dass die ungezügelte Inbesitznahme immer mit Schändungen von Kulturgut und den dazugehörigen Menschen einhergeht. Ich fürchte mich also um mich selbst, doch noch viel mehr um alles, was mit dem verbunden ist, wofür ich stehe. Und deswegen bin ich ganz bei Ihnen, wenn Sie sagen, dass wir predigen müssen, Herr Zeidler. Nicht um meiner Erlösung willen, sondern um aller Willen, die in den Wogen des Konfliktes auf ihrem eigenen Land bluten, weil es ein Spielball von Nationen, Gedankenkonstrukten, politischen Richtungen und Dogmata geworden ist. Es ist nicht mehr das Land der Menschen, egal welche Farbe es trägt, es ist immer mehr ein Land der konfliktträchtigen Ideen."


Jetzt legte der Erzbischof wieder die Beine übereinander und etwas Schmerz fiel von seiner Pose. Es schien jetzt wieder angenehmer sein zu sitzen. "Hier finde ich die Brücke zwischen dem, was sie sagen, Monsieur Zeidler, dem, was Monsieur von Lütjenburg gesagt hat und dem, was ich von mir gegeben habe. Diese festen Ideen sind Gewänder, die wir uns anziehen und über jene Gewänder geraten wir zu gerne in Streit. Der nationale Streit, der konfessionelle Streit, der politische Streit, wenn in Gewänder gehüllt, wird passend zur Tracht oftmals ein Streit der Eitelkeiten. Für diese Eitelkeiten sollte kein Platz sein, und wir die Menschen wieder an die wirklichen Grundsätze erinnern, und uns dabei über diese Eitelkeiten zwischen katholischer Auslegung und protestantischer Auslegung hinwegsetzen - zumindest in den Moment, in denen es nicht um theologische Auslegungen, sondern um den Menschen geht. Und deswegen halte ich es für richtig, wenn wir schon nicht alle Konflikte und Spannungen auflösen können, doch zumindest von der Liebe zum Feinde zu predigen; und insofern teile ich Ihren Vorschlag zur Bergpredigt unbedingt. Wir halten die Bergpredigt."

Auch wenn die Stimme des Erzbischofs monoton war und nachdenklich blieb, kam niemand in dem Raum umhin, dass Zeidlers durch Zweifel induzierter und doch so ehrlicher Eifer auch auf den ansonsten ruhigen Darboy abfärbte, ihn sogar etwas ansteckte. Gleichzeitig war zu erkennen, wie der Geist des Erzbischofs jetzt angestrengt arbeitete, ihn nachsinnen ließ: über die Bergpredigt an sich, wie sie das am heutigen Abend formulieren würde, er suchte nach schlagkräftigen Worten und Phrasen, nach Gesten und nach seiner Mimik, nach Erzählung und Emphase, nach Stil und Haltung. Und für einen Moment schien es, als würde er auf einmal nicht mehr so schwach und von Krankheit gebeutelt in sich zusammensacken und in der Nachdenklichkeit ertränken und er jenen Schmerz, den er in den Beinen haben mochte, schlichtweg vergessen.

"Was benötigen Sie von mir, Herr Zeidler. Soll ich Ihnen noch für die Messe etwas zur Verfügung stellen? Ansonsten können wir uns gerne an die Feinheiten machen.[1]"

Georges Darboys Augen ruhten jetzt aufgeregter als ehedem auf Paul, ohne aufdringlich zu werden. Wahrscheinlich war es sinnvoll gewesen, den Deutschen nicht zu drängen. Und doch, bei allem blieb die Anspannung der Gefahr greifbar. Sie alle wussten, dass es nicht nur irgendeine Messe sein würde...
 1. Sobald wir zu der Szene kommen, halte ich eine geteilte Messe für umständlich, weshalb ich dich gerne in Teilen die Messe beschreiben lassen würde, in der du den Erzbischof gerne steuern darfst. Wäre das in einem Interesse? Und so ist die Frage des Bischofs auch meine Frage? Brauchst du dazu Informationen von mir? Möchtest du das übernehmen? Deine sprachliche Gestaltungskraft und dein Wissen stechen meines aus, sodass ich inbrünstig darum bitte.
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

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