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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 56426 mal)

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Menthir

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Une nouvelle ère
« am: 05.08.2013, 12:28:05 »

Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:03 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Der weiße Platz[1] war inzwischen ruhig, doch seinen Namen hatte er schon längst nicht mehr verdient. Seit einigen Jahren war der Gipsabbau der wichtigste Zweig des Arbeiterviertels Montmartre[2] gewesen. Der Grund lag darin, dass die Mieten für Pariser Wohnungen seit geraumer Zeit immer teurer wurden und die Bevölkerung in den Arbeitervierteln wie Montmarte und dem erst vor einigen Jahren eingemeindeten Belleville[3] dadurch ständig stiegen. Es wäre aber falsch gedacht, dass es nur die Armen und Bildungsschwachen in diese Viertel getrieben hätte. Der Montmartre war gleichzeitig die höchste Erhebung der Stadt Paris und das machte diesen Hügel ideal für die Befestigung. Die Nationalgarde wachte hier in diesem Viertel und auch an sich auf dem weißen Platz, der wegen des Gipsabbaus eben jenen Namen trug. Jetzt, da der morgendliche Nebel über den dunklen, nur von flackernden Laternen beleuchteten waberte, und die dort noch Liegenden oder Verletzten immer wieder verschluckte und doch wieder freigab, hätte man ihn auch roter Platz nennen können.

Männer des Projektes Exodus waren an diesem feuchten Morgen, an dem die Temperaturen für einen März jedoch schon recht angenehm waren, schon auf der Place Blanche unterwegs. Hätte an einem gewöhnlichen Tag die Armenfürsorge die Mitglieder in Anspruch genommen, war es heute die medizinische Versorgung. Vier Männer hatten sich in der Dunkelheit, noch etwa eine Stunde vom Sonnenaufgang entfernt, eingefunden, unter ihnen auch der geistige Führer dieser kleinen, in Paris als Sekte bezeichneten Gruppe, Paul Zeidler. Und das alleine hätte ein Zeichen sein können, dass sich etwas verändert haben musste, warum der weiße Platz jetzt ein roter Platz war. Die Regierungstruppen, meist alarmiert durch besorgte Zeitungsleser oder konkurrierenden Interessensgruppen, duldeten den Aufenthalt des Projekt Exodus nur an guten Tagen auf dem Place Blanche für längere Zeit. An diesem Morgen war dies anders. Es gab hier keine Regierungstruppen, welche hätten die Mitglieder des Projektes vom Platz treiben können. Und wenn Männer in Armeeuniform auf dem Platz waren, lagen sie schwer verwundet oder tot nieder, wie die Generale Claude-Martin Lecomte[4] oder Jacques Léon Clément-Thomas[5], welche beide im Laufe des letzten Tages füsiliert wurden. So erging es auch dem ein oder anderen Soldaten auf dem weißen Platz, aber auch eine Vielzahl anderer Verletzungen gab es. Quetschungen, Prellungen, gebrochene Glieder. Verletzungen, wie sie für die Massenaufläufe von Menschen nicht ungewöhnlich waren, wenn die Menge außer Kontrolle zu geraten drohte oder panisch wurde, oder wenn der Mordgeifer an den Lefzen sich in der Masse erstarkender Menschen hinablief.

Auch Sébastien Moreau war an diesem Morgen noch auf dem Platz. Er und François Durand saßen an einer der unzähligen, hellen Hauswände am Rande des Platzes, direkt am Boulevard de Clichy[6], welche tief in das Herz Montmartres hineinführte. Sie saßen dort jetzt still zusammen, der Weinbrand wärmte sie zumindest gefühlt und half gegen die feuchte Kälte des Morgens. François hatte sich inzwischen beruhigt und saß dort schweigend, seinen rechten Arm, der schlaff am Körper hing festhaltend. Seine Nase war von dem Gewehrkolben eines Füsiliers[7] gebrochen wurden und stand zu weit nach rechts. Blut tropfte aber nur noch selten heraus. An seiner rechten Augenbraue hatte er eine Platzwunde von einem heftigen linken Haken und sein linkes Auge war noch immer zugeschwollen. Seine zerrissenes Hemd und die vielen Kratzspuren auf seinem sichtbaren Oberkörper zeugten von einem harten Kampf, der mit allen Bandagen ausgefochten wurde. Auch Sébastien hatte sich letzte Nacht bewähren müssen[8].
Eigentlich war es unglaublich gewesen, wie schnell alles ging. Sébastien erinnerte sich, dass sie noch im Krieg, als die Deutschen bei der Belagerung von Paris eine Befestigung nach der nächsten schleiften, in einem Coup 227 Kanonen retten und in den Besitz der Nationalgarden bringen konnten. Die Preußen ließen den Nationalgarden[9] ihre Waffen, während sie die reguläre Armee entwaffneten. Die Nationalgarden, will sagen Milizen, waren deshalb in einer besonderen Position. Sie waren eine bedeutende, bewaffnete Macht geworden und die Bestrebungen in Paris, andere Wege einzuschlagen waren konkreter geworden. Im Februar hatte sich das Zentralkomitee der Nationalgarden gebildet und obwohl sich politisch noch uneins, fürchtete die neue Regierung die Vorgänge innerhalb des Zentralkomitees. Gestern waren Regierungstruppen nach Montmartre marschiert und versuchten die Kanonen zu requirieren. Als das Volk sich jedoch erhob, passierte das Unerwartete. Die anwesenden Generale oder einen von ihnen, soll den Befehl gegeben haben, auf die aufgebrachte Menge zu schießen, um sie auseinanderzutreiben. Doch die Soldaten verweigerten die Befehlsausführung und fraternisierten mit der aufgebrachten Bevölkerung von Paris. Die beiden Generale wurden festgesetzt und noch in Montmartre füsiliert. Ein chaotischer Tag brach an, denn das Erschießen der Generale brachte keine Abkühlung, sondern die Wut auf die Regierung um Alphonse Thiers[10] war ungebrochen. Barrikaden wurden errichtet und die Nationalgarden beschlossen den Spuk durch der Regierung in Paris ein Ende zu machen. Von Montmartre und Belleville aus zogen die Nationalgarden - und zwar jene, welche vor allem in den Arbeitervierteln lebten und mit sozialistischen Strömungen verbunden waren - in das Stadtzentrum. Die anderen Nationalgarden - das heißt jene konservativen oder bürgerlichen - hielten still und es schien ein blutiger Tag zu werden, doch Thiers gab den Befehl zur Evakuierung und brachte alle Offiziellen, die sich retten konnten und die Regierung nach Versailles. Und dort warteten sie nun, während auch Sébastien und François eigentlich darauf warteten, dass die Nationalgarden jetzt auch nach Versailles aufbrachen. Aber der Tag war worüber, François verwundet und die erste Kraft der Nationalgarden schien aufgebraucht. Auch kein Polizist wagte es, auf dem Place Blanche aufzutauchen. François lächelte zufrieden mit seinem so jungenhaften und doch jetzt zerschlagenen Gesicht, als sei er ein Lausbub, der gerade etwas Streichhaftes getan hatte und zufrieden mit seinem Werk war. Aber er schwieg weiter. Eigentlich wusste keiner so recht, was jetzt passieren würde. Die Regierung war geflohen, wahrscheinlich bedeutete dies, das dem Zentralkomitee der Nationalgarden jetzt eine besondere Rolle zukam. Wie diese aussah war schwer zu sagen. Das würde der morgige Tag zeigen, doch erstmal musste Sébastien jemanden finden, der François wieder zusammenflickte. Dessen Schulter war mindestens ausgekugelt, weshalb der Arm herabhing. Seine Nase brauchte auch eine Versorgung und auch wenn François vor sich hingrinste und schwieg, war nicht auszuschließen, dass die harten Schläge eines sich wehrenden Soldaten mit dem Gewehrkolben nicht doch innere Verletzungen zurückgelassen hatten. Wenn François Speichel ausspuckte, glaubte Sébastien auch in dieser nur von flackernden Laternen beleuchteten Straße Blut im Speichel seines besten Freundes zu sehen.

Vielleicht waren noch fünfzig Männer und Frauen auf den Straßen unterwegs. Sogar die Frauen hatten sich sehr offensiv an den Barrikaden des Tages beteiligt und noch immer bewachten vier oder fünf die Barrikade am Boulevard de Clichy. Viele Bürger von Paris ließen sich aber selbst von diesem Abend nicht beeindrucken und besuchten, als wäre nichts ungewöhnliches passiert, die vielen Tanzlokale, Kabaretts und Trinkstuben, welche in Montmartre und am Place Blanche auch an einem frühen Sonntag noch die Türen offen hatten. Die Stimmung war trotz mancher Verletzter gut, viele junge Männer waren noch immer voller Adrenalin und Energie und versuchten sie jetzt in Wein zu ertrinken oder sich an willigen Damen zu erschöpfen. Die Musik, meist Chansons[11], die von vielen Leuten gesungen wurden, drang nur gedämpft über den Platz, der sonst im Nebel der Ungewissheit versank.

Paul Zeidler erreichte zwei junge Männer, die an einer Hauswand saßen und miteinander einträchtig schwiegen, obwohl sie beide geschwollene Gesichter haben mochten. Einer von ihnen, er sah etwas jünger aus und trug keinen Bart, hatte sich scheinbar eine Schulter ausgekugelt und sah aus, als sei er ziemlich traktiert wurden.  Er würde Hilfe brauchen, würde er keine bleibenden Schäden davontragen wollen. Es war ein merkwürdiger Morgen in Paris, ein Morgen, an dem manche feierten, als wäre es nie anders gewesen, manche feierten, als gäbe es keinen Morgen und dann gab es noch jene, welche trotz ihrer Verwundungen einfach ignoriert wurden, obwohl sie diese Art der ausgelassenen Feier erst ermöglicht hatten. Von irgendwo drang der Ruf "Vive la révolution!" an die Ohren von Paul, Sébastien und François. Wie immer war er alsbald von den Leitbildern einer jeden Revolution in den letzten 80 Jahren begleitet. "Liberté, Égalité et Fraternité!" Es waren Ideale und Worte, mehr noch nicht, auch wenn der letzte Tag wohl recht nahe dran war...
 1. Place Blanche
 2. Montmartre
 3. Belleville
 4. 
 5. 
 6. Boulevard de Clichy - Hieß auch mal Boulevard des Martyrs
 7. Füsilier
 8. Ich überlasse dir die Wahl, ob und wie stark du verletzt bist.
 9. Garde National
 10. Marie Joseph Louis Adolphe Thiers
 11. Chanson
« Letzte Änderung: 05.08.2013, 12:29:27 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #1 am: 05.08.2013, 20:14:08 »
Der Kampf der letzten Nacht war der wohl bisher härteste gewesen, den Sébastien in seinem Leben hatte bestreiten müssen. Die durch den aufgezogenen, morgendlichen Nebel und seine Sitzposition etwas eingeschränkte Aussicht auf den Place Blanche, die er in diesem Moment hatte, ließ auch keinen Zweifel daran, dass er mit dieser neuen Erfahrung nicht allein war. Blut setzte sich im spärlichen, flackernden Licht der Laternen dunkel vom restlichen Untergrund ab, wie auch die Körper von Verletzten und teils auch Toten. Hier und da drang ein schmerzerfülltes Stöhnen oder Gejammer an Sébastiens Ohren, viel präsenter waren jedoch der Gesang und die übrigen Geräusche der Musik und Feierei, die gedämpft über dem frühmorgendlichen Montrematre lagen.

Auch sein bester Freund François Durand und er waren guter Stimmung. Das Hochgefühl war trotz der auch vielen schrecklichen Bilder, die der letzte Tag mit sich gebracht hatte, noch nicht verklungen. Ja, sie hatten gesiegt und das hatten sie sich verdient. Was die Zukunft bringen würde, war noch ungewiss, aber sie hatten geholfen, eine Grundlage für eine bessere zu legen. Sie hatten etwas in Gang gesetzt, was wohl weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen würde. Es war ein blutiger, dreckiger Kampf gewesen, doch Sébastien hatte sich dem Adrenalinrausch hingegeben. Als es vorbei gewesen war, hatten François und er sich mit einer Flasche Brandwein an einer Hauswand am Rande der Kampfstätte niedergelassen und hatten sich seitdem nicht von der Stelle gerührt.
François seinerseits hatte Tränen vergossen und lauthals geklagt – sein schlaff herabhängender Arm, den er sich nun hielt, sah auch alles andere als wie eine harmlose Verletzung aus –, aber inzwischen schwiegen er und Sébastien Seite an Seite, während der Inhalt der Flasche, die sie sich teilten, zusehends zur Neige ging.
François‘ Gesicht war blutverschmiert, geschwollen und blau angelaufen, sein Hemd zerrissen und sein Körper verkratzt – Sébastien wollte nicht wissen, wie er selbst aussah. Atmen konnte er nicht, ohne dass es in seiner Brust zerrte, auch wenn er glaubte, dass seine Rippen noch ganz waren. Nachgesehen hatte er nicht, auch wenn er das vermutlich sowieso nicht richtig hätte beurteilen können. Er hatte in der letzten Nacht nicht wenige Schläge und Tritte einstecken müssen, aber François hatte es wohl härter erwischt. Neben den vielen Stößen und Hieben war Sébastien gekratzt und geschubst worden, er hatte einige Schnittverletzungen davontragen müssen – ein Witzbold hatte ihm sogar in die Wade gebissen. Trotzdem er sich gut bewährt hatte, gab kaum eine Stelle seines Körpers, die verschont geblieben worden war. Er spürte noch immer eigenes, getrocknetes Blut in seinem Gesicht, an seinen aufgeplatzten Fingerknöcheln und an seinen aufgeschlagenen Knien, zudem war auch fremdes Blut an seiner Kleidung zu sehen. Diese war ähnlich, aber nicht so stark mitgenommen wie die seines Freundes.
Insgesamt schienen Sébastiens Verletzungen oberflächlicher Natur zu sein – zumindest tat er diese größtenteils ungesehen als solche ab –, jedoch schmälerte dies die Schmerzen,  die diese verursachten, keineswegs. Ungeachtet davon hatte sich in Sébastien aufgrund seiner Stimmung eine gewisse Gleichgültigkeit breitgemacht – auch wenn er François hin und wieder einen besorgten Seitenblick zuwarf. Er war zufrieden mit sich und seiner Leistung.
Sich aufgerafft, um Hilfe für seinen Freund zu suchen, hatte er sich bisher jedoch noch nicht. Zu zweit genossen sie das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte und dabei doch alles zum Ausdruck brachte, was sie empfanden. François grinste vor sich hin, Sébastien trank einen weiteren Schluck Weinbrand und versuchte dabei zu verhindern, dass dieser ihm am Kinn hinablief. Seine Lippen waren geschwollen, genauso wie andere Bereiche seines Gesichts. Etwas beschränkte dies Sébastiens Sicht, doch das hinderte ihn nicht daran, mit dem Hinterkopf an die Wand gelehnt seine Umgebung zu betrachten.

Als Sébastien die Flasche sinken ließ, fiel ihm eine Gestalt auf, die sich in ihre Richtung bewegte. Sein Blick verweilte einen Moment lang mit eher beiläufigem Interesse auf dem bärtigen älteren Mann, der sich aus dem wabernden Morgennebel schälte, bis er merkte, dass dieser François und ihn ebenfalls entdeckt hatte und sie beide zudem auch noch zu beachten schien. Plötzlich kam Bewegung in Sébastien, denn hastig löste er seinen Griff vom Hals der Weinbrandflasche und merkte gar nicht, dass er diese dabei fast umstieß.
„Heda, Monsieur!“, rief er dem Fremden entgegen, während er sich, mit Eile und die Wand als Stütze nehmend, aufrappelte. Aufgrund der Schmerzen und des vielen Alkohols, den er getrunken hatte, um diese etwas erträglicher zu machen und ihren Sieg zu feiern, wirkte das vermutlich ziemlich unbeholfen. Doch Sébastien ließ sich davon oder auch von dem Schwindel, der ihn befiel, nicht abhalten. Leicht wankend stand er da, als er sich zu seiner vollen, nicht zu verachtenden Größe aufgerichtet hatte, und machte sogleich einen fast stolpernden Schritt zurück, sodass er sich mit dem Rücken wieder an die Wand lehnen konnte. Auch wenn der Fremde alles andere als gefährlich wirkte und auch nicht danach aussah, weiteren Ärger verursachen zu wollen, war Sébastien auf der Hut.
Seine Worte kamen, teils durch seinen Alkoholpegel, teils durch seine angeschwollenen Lippen, lediglich nuschelnd zwischen diesen hervor.
„Sie seh’n wie’n Arzt aus“, stellte Sébastien daraufhin fest, denn die Tasche, die der Mann bei sich trug, sah verdächtig nach einem Arztkoffer aus.[1] Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte: François‘ Zustand war sicher nicht der beste und Sébastien würde jede Art von Hilfe annehmen – selbst wenn diese lediglich darin bestehen würde, zwei weitere Arme zu haben, die ihn dabei unterstützten, seinen besten Freund von hier weg und zu jemandem zu schaffen, der diesen zusammenflicken konnte.
„Mein Freund…“, äußerte er mit bittendem Unterton und unterbrach sich kurz selbst mit einem Luftholen, „mein Freund is‘ verletzt. Würden’se uns helfen?“
Sébastien dachte jedoch weniger an sich selbst, sondern sorgte sich in erster Linie um François. Zwar hatte auch er einiges einstecken müssen, aber bedurften der anscheinend ausgekugelte Arm und die gebrochene Nase seines besten Freundes dringendere Versorgung – wenn die Lage nicht sogar noch schlimmer war als sie aussah. Ob Sébastien seinerseits ähnlich übel zugerichtet wirkte wie François, konnte er nur schwer beurteilen, doch besser ging es ihm, vermutlich.
„Vive la révolution!“, begrüßte dann auch François, auflachend und weiterhin mit einem seligen Grinsen im stark lädierten Gesicht, ihren Besucher und stimmte damit etwas verspätet dem vorhergegangenen Ruf zu, der über den Place Blanche gehallt war.
 1. Ich gehe davon aus, dass Paul diesen bei sich trägt.
« Letzte Änderung: 05.08.2013, 20:39:16 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #2 am: 06.08.2013, 22:57:38 »
Es kam anders. Nach dem Sieg der deutschen Truppen in der Schlacht von Sedan, der Flucht Napoleons und der Neuwahl der Nationalversammlung hatte Paul noch kurzzeitig Hoffnung auf einen baldigen Frieden gehegt. Doch die Ereignisse überschlugen sich und ein Ende der Gewalt war nicht abzusehen. Die Nationalgarde waren vergleichsweise gut bewaffnet und forderte eine Fortsetzung des Krieges. Paul ahnte in diesen Stunden bereits, dass das Blutvergießen kein Ende nehmen würde, sondern nun erst beginnen würde. Hier traten keine Armeen gegen einander an, sondern Volksgruppen.

Gestern hatte Paul davon erfahren, dass die Nationalgarde mehr als zweihundert Kanonen erbeuten konnten. Heute Nacht hatte es eine blutige Schlacht gegeben. Paul war von den Schüßen und Schreien geweckt worden und hatte sofort versucht, einige Männer aus der Nachbarschaft zusammengerufen. Viele konnte er nicht finden, nur wenige versammelten sich in dem kleinen Raum im ersten Stock der gemeinsamen Wohnung. Paul sammelte, was in der Eile zu erfahren war. Dann musste er eine Entscheidung treffen, auf die er nicht vorbereitet gewesen war.

Bisher war der Krieg im Projekt Exodus kein Thema gewesen, mit dem man sich auseinandergesetzt hatte. Paul hatte seine Meinung niemals zurückgehalten, dass er den Angriff Frankreichs gegen Deutschland ablehnte und dass er auf Frieden hoffte, auch zu einem hohen Preis. Lange waren die Fronten weit entfernt von Paris gewesen und die Männer um Paul waren müde, für einen Kaiser zu kämpfen, der sich nicht für sie interessierte. Nun war es anders. Die deutschen Truppen standen um Paris und die Pariser kämpften für die eigenen Interessen. Paul hatte auch unter den Seinen eine gewisse Begeisterung bemerkt.

In den wenigen Minuten, bis die Männer zusammentrafen, sammelte Paul seine Gedanken. Paul war sich sicher, dass er den bewaffneten Kampf nicht unterstützen würde. Die deutsche Revolution hatte nicht zum Frieden geführt und eine französische würde es auch nicht. „Erst wenn der Frieden in den Herzen einkehrt, dann werden der Löwe und das Lamm beisammen liegen[1]“, sagte Paul.

Wir sollten nicht an den Kämpfen teilnehmen“, hob Paul erneut an. „Wenn es eine ungerechte Herrschaft gegeben hat, dann war es die römische Besatzung des Heiligen Landes. Und wenn es einen gegeben hat, der die Macht hatte, eine ungerechte Herrschaft umzuwerfen und ein neues Reich aufzubauen, dann war es Jesus. Doch er kam nicht als himmlischer Streiter, sondern als demütiger Gottesknecht. Seinen Jüngern lehrte er die Nachfolge. Was das bedeutet ist im Doppelgebot der Liebe ausgesagt: Du sollst den Herrn lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele und Du sollst Deinen nächsten lieben, wie Dich selbst. Für uns bedeutet dies, dass wir zu denen kommen, die unserer Hilfe bedürfen – ob er Revolutionär oder Gegenrevolutionär ist.

Einige der Männer murrten und eine Tür schlug. Paul wurde unsicher, doch er bemühte sich, nicht zu schwanken. „Denkt an den Hauptmann von Kapernaum. Das war ein Besatzer und kam zu Jesus als Hilfeschender. Wenn nun der Messias diesen Mann helfen konnte, warum könnt Ihr dann nicht einmal Euren Landsleuten helfen? Der Zufall schlägt uns auf eine Seite, doch Menschen sind wir alle“.

Ich habe die Hoffnung, dass wir Gerechtigkeit bringen, wenn wir selbst gerecht werden. Darum bitte ich Euch, dass Ihr mit mir kommt, wenn ich jetzt zum Platz der Kirche gehe“.

Nach kurzer Zeit ging Paul mit vier Männern auf den Weißen Platz. Sie zerstreuten sich und versorgten die Verwundeten, so gut es ging. Währenddessen machte sich Paul Gedanken. Er würde sich vor seinen Leuten erklären müssen. Schon an diesem Abend.

Schließlich, als er einen Moment verschnaufte und sich Orientierung über den Platz verschaffte, da fielen ihm zwei Männer auf, die an der Straßenecke saßen. Die beiden waren schwer lädiert, der eine hatte eine Luxation des Schultergelenks, das erkannte Paul sofort. Er musterte sie für einen Moment, um einzuschätzen, wie sie ihm gesinnt sein möchte. Auch er war dem einen der Männer aufgefallen. Mühsam erhob sich der Mann und sprach Paul an.

Mein Name lautet Paul Zeidler und ich bin tatsächlich Arzt. Das haben Sie richtig erkannt“, sagte Paul. Es war offensichtlich, dass der Mann stark angetrunken und wahrscheinlich nicht ganz bei sich war. Paul mochte keine betrunkenen Männer. „Ihr Freund ist verwundet. Er hat sich mindestens die Schulter ausgehebelt und er muss baldig behandelt werden. Ich kann Ihnen helfen, doch das hängt davon ab.“ Paul kniete sich neben den Verwundeten und prüfte die Reaktionsfähigkeit des Mannes, indem er einen Finger vor dessen Augen bewegte. Dann begann er damit, die Rippen abzutasten und weitere Verletzungen zu begutachten.

Es hängt davon ab, ob sie einverstanden sind, dass ich Sie behandle. Sie müssen Sie wissen, dass ich Paul Zeidler bin und dass ich dem Projekt Exodus angehöre. Wir sind Christen und wir bringen Verwundeten auf beiden Seiten Hilfe. Ich hoffe, dass die Menschen Frieden suchen und ihn nicht erkämpfen wollen“.

Paul stand auf und sah den ersten Mann an. „Fürs Erste kann ich keine schwereren Verletzungen feststellen. Wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich jetzt die Schulter einrenken. Das wird Ihrem Freund starke Schmerzen bereiten“, kündigte er an.
 1. In Anlehnung an Jes 11,6 und dem darin angekündigten Friedensreich.
« Letzte Änderung: 08.08.2013, 11:42:18 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

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Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #3 am: 07.08.2013, 21:42:36 »
François schien Glück zu haben, denn der Fremde stellte sich tatsächlich als Arzt vor. Sébastien hielt den älteren Mann nicht auf, als dieser sich zu François kniete, um sich ein Bild machen zu können, jedoch warf seine Stirn kurz Falten, als dieser ankündigte, eine Bedingung für seine Hilfe stellen zu wollen. Eigentlich erwartete Sébastien, dass die nächsten Sätze, die Paul Zeidler äußern würde, eine Geldsumme beinhalten würden, die dieser für François' Behandlung zu verlangen gedachte, doch es kam anders – was Sébastiens benebelten Verstand etwas irritierte.

Er starrte den Mann einen Moment lang an, während er das Gesagte verarbeitete. Projekt Exodus, das kam ihm bekannt vor, vielleicht hatte er den Namen des Arztes ebenfalls schon einmal gehört. Französisch hörte sich „Paul Zeidler“ nicht an, am ehesten wohl deutsch, aber das sollte Sébastien in diesem Moment nicht stören, genauso wenig wie dass der Mann sich auf keine Seite stellte und sich allgemein gegen die Geschehnisse hier auf dem Place Blanche aussprach.
Sébastiens bester Freund brauchte Hilfe. Von wem, war zweitrangig, und dieser ältere Herr hier zeigte, auch wenn er die Ansichten der beiden Freunde nicht zu teilen schien, Bereitschaft dazu. François und sich selbst im Gegenzug mit ihren Namen vorzustellen, kam Sébastien gerade nicht in den Sinn, mit Absicht unhöflich war er jedoch nicht.
„Exodus… Nun, wir sind auch Christen“, antwortete er schließlich etwas verhalten und unschlüssig, was er auf diese Offenbarung erwidern sollte, und sprach dabei aufgrund seines angeschlagenen und angetrunkenen Zustands weiterhin undeutlich.
„Tun’se, was’se müssen, er wird’s schon aushalten“, war er sich sicher, doch François sah auf einmal unglücklich aus, während Sébastien mit vom Alkohol gelöster und betäubter Zunge weiterredete. Das war wohl seine offizielle Erlaubnis dafür, dass Paul Zeidler sich François‘ Schulter annehmen durfte, starke Schmerzen, die das verursachen würde, hin oder her.
„Hat‘s ja auch geschafft, sich die Schulter ausrenk‘n zu lassen, nich‘?“ Nun machte sich ein etwas gequältes Lächeln auf Sébastiens Gesicht breit.
„Sah schon nich‘ schön aus, als ich ihn von dort hinten“, mit seiner blutverkrusteten Hand machte er eine ungenaue weisende Bewegung auf eine Stelle, die irgendwo in der Mitte des Place Blanche liegen mochte, „hierher schleifen musste. War nich‘ so einfach“, erzählte er dem guten Samariter namens Paul Zeidler, der nicht danach gefragt hatte.
„Hab‘ mich gewehrt, weil’s wehtat“, kommentierte François knapp, nun wieder mit einem Grinsen auf seinem jungenhaften, zerschlagenen Gesicht, das fast so schief war wie seine gebrochene Nase – es verschwand jedoch genauso schnell wie es gekommen war, als Sébastien den nächsten Satz an den Arzt wandte:
„Soll ich ihn festhalten?“, bot er fragend an, auch wenn er nicht wusste, ob das für die Behandlung überhaupt notwendig sein würde. François würde sicher auch aus eigenem Antrieb still bleiben.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #4 am: 08.08.2013, 12:39:29 »
Paul musterte die beiden Männer. "Wie alt sie wohl sein mögen?", fragte er sich. "Sie sind bestimmt nicht älter als dreißig. Noch recht jung und idealistisch. So wie ich, damals". Der Mann trug einfache Kleidung und er sah aus, als ob er körperliche Arbeit gewohnt war. "Wahrscheinlich ein Arbeiter. Auch dieser Mann hat sich bestimmt mehr vom Leben erwartet. Ich würde schätzen, dass er auch nicht so recht weiß, wofür er kämpft. Aber er kämpft". Paul registrierte auch, dass der Fremde bemerkte, selbst Christ zu sein. Aber was hieß das schon? Paul entschied, zunächst nicht darauf einzugehen.

Paul nickte und wies auf die rechte Seite des am Boden liegenden Mannes. "Normalerweise renkt man eine Schulter mit Hilfe einer Stuhllehne ein. Aber in Hinsicht auf die Situation werde ich die Methode nach Hippokrates verwenden. Halten Sie Ihren Freund bitte fest. Falls er möchte, kann er auch auf ein Holz beißen. Das lenkt vom Schmerz ab. Ich würde es empfehlen", sagte Paul. Er kramte ein Holz aus seiner Tasche und bot es dem Mann an.

Dann ergriff Paul den Arm des Mannes und übte Zug aus. Er verlagerte das Gewicht und stellte seinen Fuß in die Achsel. Dann erhöhte er den Druck auf den Oberarmknochen aus, bis dieser wieder im Gelenk saß[1]. Die Prozedur mochte wohl recht grausam aussehen, aber es war die einzige Möglichkeit. Der Mann mochte unheimliche Schmerzen haben, aber, so wusste Paul, sie ließen ebenso schnell wieder nach. "Nun gut, der Knochen sitzt wieder im Gelenk. Ich hoffe, dass sich keine Komplikationen ergeben. Der Arm war doch eine ganze Zeit lang ausgekugelt. Jetzt da der Arm schon einmal ausgekugelt war, kann es übrigens leicht passieren, dass er bei leichterer Belastung wieder aus dem Gelenk rutscht. Er sollte sich schonen und keine Belastung ausüben - schon gar nicht kämpfen. Mindestens in den nächsten drei Wochen", erklärte Paul mit dem strengen Ton eines Arztes. Dann änderte sich sein Ton, aber auf einmal. "Sie sollten ohnehin nicht hier kämpfen. Sie sind jung und sollten damit beschäftigt sein, sich eine Existenz aufzubauen. Sind Sie verheiratet? Warum sind Sie überhaupt hier auf dem Platz?", fragte er, während er den ersten Mann untersuchte. "Bewegungsabläufe sind in Ordnung. Schürfwunden und Prellungen. Keine Brüche. Bewusstsein in Ordnung, abgesehen vom Alkohol. So weit ich sehe, ist da nichts, was nicht einfach verheilen kann", stellte Paul in Gedanken fest[2].
 1. Medizin: 4 Erfolge (ausgezeichnet).
 2. Medizin: 3 Erfolge
« Letzte Änderung: 08.08.2013, 12:56:33 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

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Menthir

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« Antwort #5 am: 08.08.2013, 22:55:16 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:07 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Der Krieg war noch nicht vorbei und doch hatten sich für Carl von Lütjenburg, dem jungen Major aus dem beschaulichen Schleswig-Holstein, die Methoden rapide innerhalb weniger Tage verändert. Vor nicht einmal etwas mehr als drei Wochen hatte er noch mitten im Feld gestanden, Befehle gebellt, nahe am Puls der Schlachten und des Krieges. Wie schwer war es doch gewesen, gleichzeitig Paris zu belagern[1] und das Hinterland zu halten. Die Pariser waren ein besonders resolutes Völkchen gewesen und schienen sich sogar von der eigenen Regierung loszusagen, um den Kampf mit eigener Faust fortzuführen. Der Kampfeswille der Pariser war lobenswert gewesen und doch kam auch dieser kam scheinbar zu einem Ende mit genügend Zermaterung durch Belagerung und das Aushungern einer ganzen Stadt. Generalmajor von Stiehle[2] ließ sich davon nicht beirren und hatte Major Carl von Lütjenburg persönlich per Brief instruieren lassen über seinen neuen Einsatz. Carl von Lütjenburg durfte die Waffe beiseite legen und mitten in das Herz dieses Moloches, der Paris beizeiten war, eintauchen. Carl war in aller Herrgottsfrühe noch unterwegs auf den Straßen von Paris. Von Stiehles Einschätzung hatte gestimmt. Der Pariser Kampfeswille war alles andere als gebrochen. Die gescheiterte Entwaffnung der Nationalgardisten durch die französische Armee hatte den Konflikt wieder auflammen lassen und dies bedrohte radikal den Vorfrieden von Versailles[3], der vor nicht einmal einem Monat geschlossen wurde.
Niemand hatte damit gerechnet, dass es nach Napoleons[4] Abdankung noch so ein Kraftakt werden würde. Und jetzt kam der plötzliche Befehl. Noch am Morgen war Carl in Drancy[5] gewesen und hatte sich mit dem Abbau der restlichen, französischen Festungsmaßnahmen beschäftigt, am Nachmittag des 18. hörte er die Nachrichten aus Paris. Gegen Abend hielt er bereits die Befehle des Generalmajors von Stiehle in den Händen, die auf sehr ungewöhnliche Art und Weise in seine Hand kamen. Gustav selbst hatte ihn aufgesucht, ihm den Brief gegeben und war kurz darauf wieder - sonderbar in Eile - wieder verschwunden und Carl war natürlich gleich aufgebrochen. In der Nacht war er angekommen und hatte die Feierlichkeiten auf dem Place Blanche mitbekommen. Er kam gar nicht darum herum, in dem einen oder anderen Lokal ein schales Bier zu trinken. Die Feierei war groß, aber Paris hatte sich noch nicht von der Belagerung erholt. Die Menschen sahen ausgemergelt aus, teils verhungert, teils zersaust und verzweifelt. Die Pariser gaben sich selbst ein bisschen Hoffnung. Von Stiehle hatte das nachvollziehen können. Wenn er die Offiziere um sich rief und den einen oder anderen Abend schon einen Wein getrunken hatte und er hörte, wie manche Offiziere vom Sterben auf dem Schlachtfeld sprachen, zitierte er Augenzeugen, um gerade den jungen Offizieren den Wind aus den Segeln zu nehmen und sie zur Ernsthaftigkeit aufzurufen. Es war so, da Carl jetzt über den Place Blanche marschierte, und die ganzen verhärmten, betrunkenen Gestalten sah, als würde er Gustavs Stimme im Kopf haben, als er seine Punkte Ende Januar vortrug, nur einen Tag vor der Aufgabe von Paris[6].

"«Ist das eine Weihnacht! Kirchen und Restaurants sind geschlossen, letztere bis auf einige wenige, wo die Speisekarte kurz, die Rechnung dagegen sehr lang ist, und wo man gegen teures Geld seltsame Gerichte bekommt, Esel- und Mauleselfilets, Bären,- Känguruh,- Strauß,- Condor- und Antilopenbraten, d.h. wenn man es glauben will, ich aber glaube das Meiste ist Nichts als Hunde,- Katzen,- Ratten- und Pferdefleisch, weil die übrigen Thiere nicht so zahlreich vorhanden und zu teuer sind.

 (...)Katzen kosten gegenwärtig 12 bis 20 Frcs., natürlich gestohlene Waare, Ratten zwei Frcs.»

Das sind die Worte aus der Stadt, meine Herren. Sie wissen, dass diese Geschichten stimmen. Wir müssen die Belagerung bald beenden. Wir wissen zwar, dass der Fall von Paris den Krieg beenden kann, aber wir sollten uns nicht daran erfreuen, wenn wir militärische Anlagen niederschießen. Lassen Sie mich ein paar Fakten nennen. Zwar vermeiden wir möglichst viele zivile Opfer durch direkten Beschuss, jedoch fordern Hunger, Kälte und Krankheiten ungleich mehr Opfer. Im Durchschnitt sind pro Woche etwa 800 bis 1000 Tote zu beklagen. Bis in die zweite Januarhälfte hinein erhöhte sich die Zahl auf 5000. Paris kriecht auf dem Zahnfleisch, aber mit jedem Tag wird die Krankheitsgefahr größer und ich will gar nicht wissen, was passiert, wenn der Frühling kommt und die stolzen Franzosen nicht aufgegeben haben sollten. Meine Herren, hören Sie also auf Witze über die Situation zu machen und begegnen Sie dem mit dem nötigen Verstand. Sie sind Offiziere des Kaisers!"


Carl las unter einer Laterne, in aller Stille, am Rande der Straße nochmals seinen Befehl.
Ja, es stand tatsächlich da. Immerhin war es relativ warm, aber wirkliche Ansätze hatte Carl in den wenigen Stunden seiner Anwesenheit noch nicht finden können. Die meisten Männer waren besoffen, die Frauen nicht minder, und die wenigsten schienen die Situation selbst überblickt zu haben. Die Arbeiterschaft war aufgebracht, aber sie waren meist auch auf einer Stimmungswelle mitgeschwommen. Jetzt waren sie Teil des Jubels und viele schwadronierten über Wünsche und Träume, oder spekulierten wild über die Geschehnisse. Diesen Informationen war einfach nicht zu trauen und die Luft in den Gaststätten war dick, verraucht und trunkenheitsgeschwängert, hier und da sogar noch aggressiv. Jetzt war Carl nach draußen getreten, wahrscheinlich um an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen.

Nicht unweit von sich sah und hörte er einen Schmerzensschrei, der seine Aufmerksamkeit erweckte. Er sah zwei Männer, wie sie einem Dritten den Arm wieder einrenkten. Die Männer unterhielten sich. Zwei waren vom klaren Pariser Akzent her wohl Franzosen, doch der dritte Mann, der deutlich älter als die anderen beiden war, hatte augenscheinlich einen deutschen Einschlag in seinem Akzent. Er konnte den letzten Teil der Unterredung hören. Was machten die beiden jungen Männer wohl noch auf dem Platz? Sie waren beide verwundet, das war schwer zu übersehen. Vielleicht wussten sie mehr?
 1. Belagerung von Paris
 2. Gustav von Stiehle
 3. Friedens-Präliminarien zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich
 4. Napoleon III.
 5. Drancy
 6. Am 28. Januar kapitulierte Paris.
« Letzte Änderung: 08.08.2013, 23:41:19 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #6 am: 09.08.2013, 15:48:13 »
Sèbastien kletterte sofort von François hinunter und gab ihn frei, als Paul Zeidler ebenfalls wieder losließ. Auch wenn der Schmerz schlagartig abklang und sich sofort Besserung einstellte, spuckte sein bester Freund das Holzstück, das er auch während seines Schmerzensschreis verbissen mit den Zähnen festgehalten hatte, aus, um nun im ersten Moment keuchend und gequält einen derben Fluch zum Besten zu geben.

Während François erst einmal liegen blieb und den Erfolg der Behandlung prüfte, indem er seinen lädierten Arm vorsichtig bewegte, hörten sich die beiden Freunde an, was Monsieur Zeidler ihnen mitteilte. Sich mindestens drei Wochen schonen zu müssen, war sicherlich keine erfreuliche Nachricht – nicht nur, was das Kämpfen betraf, schließlich hatte François darüber hinaus auch Pflichten, die durch eine solche Einschränkung beschwerlicher sein würden.
François setzte sich auf und quittierte das Gesagte mit einem Nicken. Lieber als Worten widmete er sich dem Rest, den Sébastien noch in der Brandweinflasche übrig gelassen hatte. Der Kampf hatte nicht nur körperliche Spuren an den beiden Freunden hinterlassen, doch trotz des Rückschlags, den François erlitten hatte, da er wohl nicht mehr weiterkämpfen können würde, steckte Zufriedenheit und Tatendrang noch immer in ihren Herzen.

Sébastien ließ sich unterdessen bereitwillig untersuchen, denn Paul Zeidler schien zu wissen, was er tat. Der Alkohol hatte sein Schmerzempfinden nicht vollkommen betäubt, doch er ertrug, dass er Arzt ihn abtastete, ohne zu zucken oder einen Ton von sich zu geben. Erst als dieser das Gespräch wieder aufgriff, entfuhr Sébastien ein belustigter Laut.
„Seh’n Sie sich um, Monsieur“, sagte er euphorisch und breitete leicht wankend die Arme aus. Der Belehrungsversuch des Arztes schien an ihm abzuprallen.
„Hör’n Sie nich‘, wie Paris feiert? Wir ha’m das ermöglicht und sind geblieben und feiern für uns mit. Vive la révolution, mein Freund! Endlich tut sich was und das woll’n wir nich‘ verpassen. Auf diese Nacht ha’m wir schon lang‘ gewartet, nich‘ wahr, François?“
Der gab ein zustimmendes Brummen von sich und grinste nun wieder.
„Jawohl, ich bin verheiratet“, fuhr Sébastien darauf stolz fort, wobei ihm in den Sinn kam, dass es vielleicht langsam Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren, denn seine Frau machte sich vermutlich inzwischen ernsthafte Sorgen um ihn. Doch er ließ sich von diesem Gedanken nicht in seiner brandweinbeflügelten Rede beirren.
„Ich mach‘ das hier für meine Familie, viele mach’n das, denn wir wünschen uns ‘n gutes Leben. Wir sind’s leid, das Elend hier mit anzuseh’n, und nun werd’n wir was dagegen tun. So bau’n wir uns ‘ne bessere Existenz auf“, konterte Sébastien betonend und von seiner idealistischen Denkweise überzeugt.
„Solang‘ wir nicht frei und gleich sind, is‘ alles weitere Zeitverschwendung – und dafür lohnt’s sich, zu kämpfen. Wenn nich' jetzt, lassen wir die Chance verstreichen und nichts wird sich ändern.“
« Letzte Änderung: 09.08.2013, 16:02:37 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #7 am: 09.08.2013, 20:12:36 »
Paul tastete den betrunkenen Mann durch sein Hemd ab und bemühte sich, nicht seinen Atem riechen zu müssen. Paul waren betrunkene Männer unangenehm. Sie erinnerten ihn an seine Burschenzeit in Deutschland. Nachdem der Bierstaat[1] ausgerufen war, betranken sich die Comilitonen wie toll, was binnen weniger Stunden in einer wilden Schlägerei führte - nicht zwingenderweise unter einander.

"Sie meinen, so wie in der französischen Revolution?", fragte Paul unschuldig. "Ich verstehe nicht, bitte erklären Sie es mir. Ich verstehe nicht, warum dies der Zeitpunkt zum Kämpfen ist. Die deutschen Truppen stehen vor der Stadt und die Nationalversammlung steht gegen Sie. Welche Möglichkeiten rechnen Sie sich aus? Und was erhoffen Sie sich eigentlich? Falls Sie doch siegreich sein würden, was machen Sie dann?"

Paul nahm ein kleines Stück Tuch aus seiner Tasche und tränkte es in eine klaren Flüssigkeit. Damit tupfte er dem Mann, welcher sich noch immer nicht vorgestellt hatte, über das Gesicht. Paul entschied, dass keine Wunde genäht werden musste.

Nach einer Weile deutete Paul verholen auf einen Mann, der offensichtlich ohne festes Ziel über den Platz ging. Er hatte ihn sehr lange nicht bemerkt. "Dieser Mann war nicht unter den Combatanten und ich denke auch nicht, dass er wegen den Verwundeten hier ist. Haben Sie eine Idee, wer er sein könnte?", fragte Paul leise.
 1. Der Bierstaat war eine parodistische Institution unter korporierten Studenten im 19 Jh.
« Letzte Änderung: 09.08.2013, 20:13:22 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

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Carl von Lütjenburg

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« Antwort #8 am: 10.08.2013, 00:18:01 »
Als Gustav von Stiehle Carl seine neuen Befehle aufgetragen hatte, hatte sich der Major endlich dazu durchgerungen seiner Frau zu schreiben und schon ein paar Zeilen zu Papier gebracht. Diese Situation war symptomatisch für die Ehe Carls und Louisas - es war ihnen seit der Hochzeit stets wenig gemeinsame Zeit beschieden gewesen und oft genug wurde diese durch Carls Pflichten zusätzlich verkürzt. Und wenn dies mal nicht der Fall war, hatte Louisa einen Termin oder eine Verpflichtung. Gustav hatte eines Abends vor Straßbourg[1] gemutmaßt, Carl führe lediglich eine eher unregelmäßige Korrespondenz mit jemandem, mit dem er rein zufällig verheiratet sei. Es war nicht einfach gewesen darüber zu lachen, aber es traf auch ein Stück weit die Wahrheit.

Tatsächlich verbrachte Carl Heinrich von Lütjenburg in den letzten Jahren wesentlich mehr Zeit mit seinem Trauzeugen, Generlmajor von Stiehle, als mit seiner eigenen Frau. Seit dem Vorabend des deutsch-dänischen Krieges war er an der Seite seines Freundes gewesen und hatte an allen bedeutenden Schlachten und Verhandlungen im Rahmen der letzten drei Kriege[2] teilgenommen. Von den Düppeler Schanzen[3] über Königgrätz[4] bis in den Spiegelsaal von Versailles[5]. Und jeder Sieg übertraf den vorigen an Ehre und Ruhm in vorher für unerreichbar gehaltenem Maße, doch all diese Errungenschaften verblassten am 18. Januar, als Carl der Gründung des deutschen Reiches beiwohnen durfte. Noch immer war es schwer zu begreifen, was dort tatsächlich geschehen war, als Wilhelm die Kaiserwürde empfing. Ein deutsches Volk unter einem Kaiser - von nun an und für immer.
Carl war dort in der Menge der Würdenträger untergegangen und seine eigene Bedeutsamkeit war nichtig neben solchen Männern wie Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck, doch hatte er bei aller Ehrfurcht nicht vergessen, dass auch er alles in seiner Macht stehende getan hatte, damit dieser Tag Wirklichkeit werden konnte, von dem er schon so lange geträumt hatte.

Auch wenn seit dem schon zwei Monate vergangen waren, hatte Carl erst gestern Abend darüber schreiben können. Der 18. Januar 1871 hatte ihn so nachhaltig überwältigt, dass es einige Zeit brauchte, bis er seine Empfindungen und Erlebnisse zu Papier bringen konnte. Doch dieses Papier befand sich nun in einer Innentasche an seiner Brust. Gustav hatte ihn vom Schreiben abgehalten, als er die neuen Befehle persönlich überbrachte und dann ohne viele Worte und offensichtlich in Eile wieder verschwand. Dies war nicht nur merkwürdig, es beunruhigte Carl auch zu tiefst. Wenn Gustav in Eile war, warum brachte er die Befehle dann persönlich zu Carl? Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass er niemanden dafür zur Verfügung hatte, dem er genug Vertrauen entgegenbrachte. Doch was konnte er weiter daraus schließen? Nichts greifbares zumindest und so hoffte Carl, dass er seinem Freund hier in Paris tatsächlich am besten helfen können würde, während er den Brief wieder zusammenfaltete und zu dem unvollendeten Text an seine Frau schob.

Er hatte von Stiehles Rat beherzigt und auf seine Uniform verzichtet und trug zivil, Kleidung die den Umständen, in denen er sich bewegte angemessen war. Zwar nicht die Kluft eines Arbeiters, aber genauso wenig die eines preußischen Diplomaten, der er ja eigentlich war. Doch von seinem Status wollte er so wenig Gebrauch wie möglich machen, sein französisch war sehr gut, so dass selbst für jemanden, der den deutschen Akzent heraushören würde immer noch die Möglichkeit bestand, dass er einfach ein deutschstämmiger Einwohner dieser Stadt war.

Der Schmerzensschrei eines Mannes riss Carl unwillkürlich aus seinen Überlegungen. Sofort erblickte er die zwei Männer, die  - so wurde ihm nach einigen Augenblicken klar -  einen Dritten zu verarzten schienen. Der Patient und einer der Helfer waren sehr jung und sahen mehr als nur mitgenommen aus, während der andere älter aber unversehrt wirkte. Der Alte sprach mit einem deutschen Akzent, zusätzlich konnte Carl einige Worte über Kampf und Revolution aufschnappen, so dass er neugierig wurde. Diese Leute schienen über das Stadium des Feierns schon hinaus zu sein und reflektierten wohlmöglich die Geschehnisse der letzten Nacht. Vielleicht könnte er hier endlich einen Ansatz für seine Ermittlungen finden?

Noch einmal blickte er über den verwüsteten Place Blanche und fühlte sich an so viele Schlachtfelder erinnert, die ganz genauso ausgesehen hatten, während er auf die drei Männer zu ging. Er bedauerte die gefallenen Soldaten, die er selber in den Wochen zuvor geschlagen und getötet hatte. Sie hatte ihre Heimat verteidigt und nun erhob sich ihre Heimat gegen sie. Bis hierher war Carl der Meinung, dass die Pariser Kommunarden ihre Situation verkannten. Sie hatten keine Chance gegen die Preußen und mit einer möglichen Fortführung des Krieges würden sie ihr Los nur verschlimmern und zu allem Überfluss ihre großartige Stadt opfern. Doch mahnte er sich auch zu Vorsicht, die Situation nicht zu unterschätzen, schließlich war sie der Grund seiner Anwesenheit.

"Messieurs, excusez-moi. Ich hörte Ihren Schrei, Monsieur, geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?", fragte Carl die drei Männer mit nicht gänzlich gespielter Anteilnahme, immerhin galt der Krieg nicht der französischen Bevölkerung und von Stiehles Worte über die Lage in der Stadt hatten ihn nachhaltig beeinflusst. "Charles, meine Name ist Charles Lutjenbourg." Stellte er sich vor und befand, dass sein Name französisch ausgesprochen auch ganz französisch klang, sogar gar nicht mal schlecht. 
 1. Belagerung von Straßbourg
 2. Deutsche Einigungskriege
 3. Düppeler Schanzen
 4. Königgrätz
 5. Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles

Sébastien Moreau

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« Antwort #9 am: 11.08.2013, 00:04:35 »
Sébastien wunderte sich ein wenig darüber, dass Paul Zeidler seine Äußerungen hinterfragte. Das nahm ihm merklich den Wind aus den Segeln, aber nur für den kurzen Moment, den er brauchte, um erst einmal seine Gedanken zu sortieren. Er runzelte die Stirn, jedoch nicht nur deswegen, denn womit auch immer der Arzt sein zerschlagenes Gesicht abtupfte: es brannte in den Wunden. Sébastien ließ diese Prozedur stillhaltend über sich ergehen und antwortete währenddessen, auch wenn er unbewusst, denn der Brandwein hatte sein aktuelles Bewusstsein und Denkvermögen durchaus angegriffen, nicht auf alle Fragen explizit einging:
„Oui, oui“, bestätigte er, „genau wie in der französischen Revolution. Auf die Regierung können wir uns nich' verlassen“, erklärte er, „denn die is' gegen uns. Die hört sein Volk nicht an, sondern will's schwächen und schickt Soldaten, um uns einzuschüchtern, hat man ja gestern geseh'n“, bezog er sich auf die Geschehnisse des letzten Tages. Seine Stimme war etwas ernster geworden.
„Ha'm wir nicht schon genug gelitten, auch ohne, dass uns're eig'nen Landsmänner auf uns schießen? Wir woll'n Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und all das wird uns verwehrt.
Doch Paris gehört uns Parisern, nich' Thiers oder den Preußen“
, fand Sébastien, „und ich werd' 'nen Teufel tun, tatenlos zu bleiben, wenn ich auch meinen Teil dazu beitragen kann, um das klarzustell'n.“ Seiner Ansicht nach waren nicht nur die Außenpolitik ein Problem, sondern die Gesellschaft an sich.
„Ich will nicht zulassen, dass es so weitergeht. Alles is' knapp und teuer und mit Pech sinkt der Lohn weiter – wie soll ich so meine Kinder füttern? Ich will mein Schicksal selbst bestimmen und das nich' Leuten überlass'n, die sich nich' um unsereins scher'n. Genau in dieser Nacht hat sich unser Geschick gewandt. Der erste Schritt is' getan, Monsieur, nun wird sich die Lage von uns Arbeitern bessern, Sie werden's seh'n, und dann wird's bald auch Frieden geben. Ich hoff's.“ Auch wenn Sébastien den Vorfrieden von Versailles nicht guthieß, zog er Zeiten des Friedens gegenüber denen des Kriegs grundsätzlich vor. Die Belagerung von Paris hatte viel Leid über die Bewohner der Stadt gebracht. Doch der Alltag auch ohne Krieg brachte Leid für viele mit sich.

Als Paul Zeidler auf einen einzelnen Mann aufmerksam machte, der über den rotgefärbten Place Blanche ging, folgte Sébastiens Blick der unauffälligen Geste des Arztes. Der Fremde war ihm zuvor nicht aufgefallen.
Er schüttelte verneinend den Kopf, als er gefragt wurde, ob er eine Idee habe, wer der Mann sein könnte.
„Noch nie geseh'n“, murmelte Sébastien, ebenfalls mit gesenkter Lautstärke. Das war aber nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches, denn Paris war groß und voller Unbekannter. Jedoch schien Paul Zeidler den Fremden für ungewöhnlich für einen Ort wie diesen zu halten. Damit mochte der Arzt Recht haben. An anderen Tagen – oder in anderen Nächten – wäre dieser Unbekannte auf dem Place Blanche wohl nicht aufgefallen, doch nun war der vernebelte, blutgetränkte Platz wohl kein passender Ort für einen Spaziergang.

Vielleicht hatte der Fremde gemerkt, dass er bemerkt worden war, denn daraufhin sprach er die Gruppe an, wandte sich im Speziellen an François, der mit seinem Schrei wohl Aufmerksamkeit erregt hatte, und stellte sich als Charles Lutjenbourg vor.
„Nein, ‘s geht schon wieder“, antwortete François, der inzwischen wieder an die Hauswand gelehnt saß und den Brandwein geleert hatte, auf das Hilfeangebot. Und als wenn er dies beweisen wollen würde, zeigte er sich an dieser Stelle etwas weniger wortkarg als zuvor.
„Ich heiß‘ François Durand“, stellte er sich vor. „Sehr anständig von Ihnen, doch der Doktor hat alles im Griff. Mir geht’s gut soweit“, befand er, auch wenn das, objektiv betrachtet, gar nicht sein konnte, so zugerichtet wie er aussah. Doch vermutlich trugen der zusätzliche Alkohol und die wieder eingerenkte Schulter dazu bei, dass François sich schon erheblich besser fühlte als vor wenigen Augenblicken.
„Seh’n Sie sich gleich noch meine Nase an, Monsieur?“, wollte er aber vom Arzt wissen und blickte zu diesem auf.
„Das hübsche Gesicht is‘ alles, was er hat“, kommentierte Sébastien witzelnd über die scheinbare Ungeduld seines besten Freundes und grinste. Obwohl François so jungenhaft aussah, war er unbedeutend jünger als, in etwa zwei Jahre. Besonders Gewehrkolben des Soldaten, der François im Gesicht getroffen hatte, hatte jedoch erheblichen Schaden angerichtet. Sicher war es für François nicht nur unangenehm zu sehen, dass seine gebrochene Nase nicht mehr mittig in sein Blickfeld ragte.
„Ich bin Sébastien Moreau“, stellte Sébastien sich mit einem Nicken nun ebenfalls vor, auch, um das gegenüber Paul Zeidler nachzuholen. „Sie scheinen nich‘ hier zu sein, um zu feiern, Monsieur“, sagte er dann an Charles Lutjenbourg gerichtet, denn Paul Zeidlers Bemerkung bezüglich dieses Mannes hatte ihn zum Grübeln gebracht. Monsieur Lutjenbourg schien weder angeschlagen oder gekratzt noch betrunken zu sein – zumindest bei Weitem nicht so sehr wie François, Sébastien und die Feiernden, die man im Paris um sie herum lärmen hörte.
„Ha’m’se sich verlaufen?“, fragte Sébastien, ohne einen unfreundlichen Ton anzuschlagen, denn er war eher neugierig als misstrauisch. Was hatte es mit dem nächtlichen Spaziergang dieses Herrn auf dem blutroten, Weißen Platz wohl auf sich? Vielleicht war Charles Lutjenbourg seinerseits von Neugier hierhergetrieben worden, schließlich hatte sich hier Großes ereignet.
« Letzte Änderung: 11.08.2013, 00:10:19 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Carl von Lütjenburg

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« Antwort #10 am: 12.08.2013, 00:00:45 »
"Feiern? Ich? Nun ganz sicher nicht, Monsieur. Allerdings kommt man nur schwer darum herum, bei dem ausgelassenen Volke. Ein Wunder, dass es überhaupt noch Bier gibt in Paris." In Carl Stimme schwang ernst mit und er musste das nicht einmal spielen. "Sehen Sie, die Straßen hier sind blutgetränkt, Chaos und Uneinigkeit herrscht in der Bevölkerung und die Stadt ist noch immer belagert. Entschuldigen Sie, aber mir ist dabei nicht zum Feiern zu Mute."

Ein Krieg würde immer auch auf Kosten der Zivilbevölkerung geführt werden. Wäre Carl dieser Umstand nicht klar geworden, dann hätte er ihn innerhalb der letzten Jahre zwangsläufig erfahren müssen. Doch sollte man, nach Carls Meinung darum bemüht sein diese Kosten unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Auf diese Weise interpretierte er unter anderem seine Befehle. Wenn er seinen  Auftrag erfolgreich ausführen konnte, würde dies auch der Stadt Paris und ihrer Bevölkerung zu Gute kommen.

Er eine verbeulte, blecherne Dose aus der Innentasche seines Mantels. Sie hatte offensichtlich schon einiges miterlebt und bisher auch überstanden. Als Carl den Schnappmechanismus öffnete und die Dose aufklappte, strömte fast augenblicklich der Geruch von Tabak in die Nasen der Anwesenden und ein Bündel Zigaretten kam zum Vorschein. Carl hielt die Dose den anderen Männern anbietend hin und nahm sich dann selbst eine Zigarette. Zündhölzer wurden hervorgeholt und bald tat Carl den ersten Zug.

"Nehmen Sie es mir nicht übel. Ich sorge mich lediglich um die Vorgänge in der Stadt, genau deshalb bin ich hier." Blauen Dunst ausatmend blickte er über den Platz und machte mit der zigarettehaltenden Hand eine Geste, die seine Umgebung umfasste. "Und wie es scheint geht hier nichts Gutes vor. Wenn draußen Tote liegen und drinnen die Menschen feiern heißt das nur selten etwas Gutes. Gab es hier überhaupt noch etwas für Sie zu tun, Herr Doktor?" fragte er den älteren Mann interessiert.

Bis hierhin war Carl ganz zufrieden mit sich. Es bedurfte keiner ernsthaften Lügen und im Grunde sprach er sogar die Wahrheit. Auch wenn er nun schon länger für Gustav von Stiehle tätig war und somit einiges an Erfahrung in offener und geheimer Diplomatie sowie in sämtlichen Formen des Kundschaftens gewonnen hatte, war es ihm noch immer ein Graus wie am ersten Tage, wenn er nicht offen Farbe bekennen konnte. Doch im Gegensatz zu früher, hatte er nun eingesehen, dass dies oft genug notwendig war und hatte sich damit arrangiert so gut er konnte. "Kann jemand mir jemand von Ihnen berichten, was genau hier geschehen ist?"

Paul Zeidler

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« Antwort #11 am: 12.08.2013, 20:06:45 »
"Paul Zeidler ist mein Name. Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.", stellte sich Paul dem fremden Mann vor. Mit einer Geste und einem höflichen Lächeln lehnte er die Zigarette ab. Doch er war sehr an dieser Person interessiert. Paul registrierte den leichten deutschen Akzent von Charles, dann die langezogene Narbe auf seiner Wange und als der dies bedachte, da kam Paul darauf, dass 'Lütjenburg' nach Norddeutschland wies. "Der Mann ist kein gebürtiger Franzose", dachte sich Paul. "Er sprach auch so, als ob er nicht zu dieser Stadt gehörte, und hat auch nicht recht erklärt, aus welchem Grund er hier ist. Ist er schon vor längerer Zeit emigriert oder kam er in Kriegszeiten?"

"Seit wann sind Sie in Paris?", fragte Paul unumwunden.

"Ich gehöre jenen Christen an, die sich zum Projekt Exodus rechnen. Wir unterstützen die Konflikte nicht, doch wir sorgen uns um die Verwundeten", offenbarte sich Paul. "Wenn Sie wissen möchten, was hier geschehen ist, dann müssen Sie Monsieur Moreau befragen. Er hat in dieser Nacht hier gefochten. Er soll Ihnen berichten, was hier genau geschehen ist. Und ich bin auch sehr interessiert, denn ich verstehe auch nicht so recht, was diese Bewegung erreichen will. In Paris stehen den Aufständischen der Nationalgarde, außerhalb der Stadt den deutschen Truppen gegenüber."

Paul seufzte und richtete seinen Blick zu Sebastien. "Ich verstehe nur zu gut, dass Sie die Missstände der capitalistischen Gesellschaftsordnung nicht weiter tragen können. Jeden Tag sehe ich die Not. Die Menschen verelenden und die Familienbanden reißen ab. Ist es die Hoffnungslosigkeit, die zum Kampfe treibt? Doch ich weiß nicht, ich sehe keine Aussicht auf einen Sieg. Nur noch mehr Blutvergießen", endete Paul mit einem leichten Kopfschütteln.

"Ich muss mir Ihre Nase nicht ansehen, Minsieur. Es ist offensichtlich, dass sie gebrochen ist. Der Bruch scheint mir nicht verschoben zu sein und wird wieder zusammenwachsen. Sie können mich in diesen Tagen noch einmal besuchen, wenn sich der Bruch verschiebt, aber ganz gerade wird Ihre Nase wohl nicht mehr. Ich kann kaum etwas für Sie tun.", antwortete Paul noch auf die Bitte von Francois.

"Berichten Sie uns bitte", forderte Paul Sebastien auf.
« Letzte Änderung: 12.08.2013, 20:14:23 von Paul Zeidler »
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Sébastien Moreau

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« Antwort #12 am: 14.08.2013, 17:31:52 »
Sébastien hing an Charles‘ Lippen. Je mehr dieser redete, desto bewusster wurde ihm, dass etwas an Charles‘ Aussprache war seltsam war – seltsam genug, um darauf zu schließen, dass Charles Lutjenbourg wohl nicht aus Paris kam. Aber bevor Sébastien sich nähere Gedanken zu diesem Thema machen und versuchen konnte, Charles‘ Akzent einzusortieren, ließ er sich von der dargebotenen Zigarette ablenken. Dankend nahm er an, wie François auch, und lauschte rauchend den übrigen Worten, die Charles äußerte. Offenbar war dieser wirklich aus Neugier auf dem Place Blanche herumspaziert, wenn sich dessen Verständnis und Begeisterung für die Umstände auch in Grenzen hielten. Auch Paul Zeidler hatte offensichtlich bemerkt, dass Charles Lutjenbourg nicht aus Paris stammen mochte, und Sébastien fiel dieser Gedanke wieder ein, als der Arzt den Neuankömmling offen fragte, seit wann dieser in der Stadt sei.

Schweigend verfolgten Sébastien und François die Situation, auch wenn letzterer leise murrte, da Paul Zeidler ihm seine Nase nicht wieder die in ursprünglich mittige Position zu rücken vermochte.
Dann, als der Arzt schlussendlich Sébastien bat, zu erzählen, was genau hier auf dem Platz vorgefallen war – auch wenn sich Sébastien wunderte, dass die beiden Fremden dies nicht schon längst wussten –, sah er sich dazu bereit.
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, und stieß den Qualm in aller Gemütlichkeit wieder aus, bevor er mit den Schultern zuckte.
„Thiers‘ Soldaten kamen und wollt‘n die Kanonen mitnehm‘n, die wir im Krieg vor den Preußen gerettet ha'm und die nun im Besitz der Nationalgarde sind. Da war‘n viele nich‘ begeistert von und lehnten sich dagegen auf. Man befahl den Truppen, auf die Leute zu feuern, um den Weg freizumach‘n, doch stattdessen ha’m‘se ihre eig‘nen Generäle erschossen, die das verlangt ha‘m. So hat’s begonnen. ‘S Ergebnis seh’n’se, Messieurs. Nun sieht der Place Blanche nich‘ mehr ganz so weiß aus.“
Dann sah er Paul Zeidler und Charles Lutjenbourg stirnrunzelnd an. Die beiden schienen wohl wirklich fremd hier zu sein, selbst wenn allein ihr Akzent das nicht schon verraten hätte, denn ihre Herzen schlugen nicht wie die eines Arbeiters aus Montmantre. Andernfalls würden sie nicht nach Beweggründen oder dergleichen fragen. Sie hätten nachvollziehen können, wovon er sprach, und es auch verstanden.
„Das Kämpfen muss sein, anders geht’s nich‘. Ich versteh‘ nich‘, was Sie daran nich‘ versteh’n“, gab Sébastien zu, denn die Verhältnisse sollten seiner Auffassungsgabe nach doch eigentlich offensichtlich sein. Seine geschwollenen Lippen machten ihm nach wie vor das Sprechen schwer.
„François und ich“, schloss er seinen Freund mit einer Geste in dessen Richtung ein, „wir glauben an den Sieg. Nich‘ Hoffnungslosigkeit treibt uns an, sondern das Geg’nteil.  Wir seh’n hier uns’re Chance, was zu bewirken, Messieurs“, erläuterte er.
„Genau deswegen feiern die Menschen, sie jubeln und freu’n  sich darüber, dass sich nun alles zum Bess’ren wendet.“ Seiner Stimme war anzuhören, dass auch er davon überzeugt war. Von dem Zweifel seiner Gesprächspartner ließ er sich nicht beeinflussen.
„Sie streben nach Gleichheit und Brüderlichkeit – und die wird’s nich‘ geben, wenn’s keine Revolution gibt. Nich‘ bei ‘ner Regierung, die die Nationalgarde ihres eig’nen Volks schwächen will, um’s still zu halten. Zeit, die Toten zu betrauern, bleibt noch genug. Noch ist’s nich‘ vorbei“, prophezeite er.

Aus Sébastien sprachen noch immer die Euphorie und die Befriedigung, die auf das bestandene Gefecht gefolgt waren. Die Schmerzen, die der viele Alkohol in seinem Kreislauf nicht vollends zu überdecken vermochten, sah er als nichts Negatives an. Sie waren Früchte seiner Arbeit und Kampftrophäe zugleich, denn sie bewiesen ihm, dass er einen guten Kampf hinter sich gebracht hatte, obwohl er auch hatte einstecken müssen. Und er würde auch weiterhin seinen Beitrag leisten, da war er entschlossen. Wenn dies weitere Gewalt beinhalten würde, sollte es erforderlich sein. Er fand, er hatte sich bisher bewährt, obwohl in der vergangenen Schlacht niemanden getötet hatte, vermutlich. Das wäre auch gar nicht in seinem Sinn gewesen.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #13 am: 19.08.2013, 00:49:43 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:11 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François hatte nur kurz und heftig geschrien, doch als die Schulter wieder im dafür vorgesehenen Gelenk eingerastet war, ließ der Schmerz für den jungen Franzosen schnell nach. Dieser massive, reißende Schmerz wurde ersetzt durch ein dumpfes Drücken, welches fast schon eine Wohltat war. Sie hatten die Männer Thiers vom Montmartre vertrieben und hatten diese schönen, teuren, sorgsam geschmiedeten Krupp[1]kanonen an sich genommen und sie sich nicht nehmen lassen. François' Gesicht zeigte einen gewissen Stolz, jetzt da seine Schmerzen etwas nachließen, doch der Alkohol hatte auch ihn benebelt, was seine Sprache auch etwas schwerer machte. "Ich bin ja kein Prophet und so, aber ich sage euch, ja, ich sage euch, dass wir, dass die Arbeiter, jetzt die nächsten Tagen den Thiersabschaum verdrängen werden und regieren werden. Genau! Wir einfachen Menschen werden, wie Sébastien gesagt hat, regieren. Das bedeutet nicht, dass jeder von regieren kann. Zu viele sind wir dazu. Und doch wird unserer Wille endlich einbezogen. Die General...Generaldings der Nationalgarden...ähm...Zentralkomitee natürlich, wird sich diese...Vorbemu...Bevormundung nicht mehr lange gefallen lassen, weil das können sie ja auch nicht, weil wir Arbeiter uns das nicht mehr gefallen lassen. Seit Jahrhunderten sind wir die Fußabtreter der Reichen! Erst waren es Könige, die sich nicht um uns scherten und uns nur für Saat und Krieg brauchten, und nun sind es die Faktoristen, Kaufmänner und Fabrikbesitzer, die uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Aber die Zeit ist nun - zumindest für Paris - vorbei und es ist so geschehen, wie Sébastien sagt. Die Arbeiterschaft muss sich erheben. Die IAA[2] hat uns die Augen geöffnet. Und das ist gut so. Und es ist so, wie sie sagen: Sie stehen für den Schutz, den Fortschritt und die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse ein, weil die Arbeiterklasse selbst gelernt hat Verantwortung zu übernehmen."
Die Worte hatten François einige Kraft gekostet und auch wenn er seine Worte mit einigem Nachdruck aussprach, branntweingeschwängert, wurde sein Blick allmählich leerer. Seine Überzeugung konnte seine Müdigkeit nicht mehr verbergen, doch noch blieb er sitzen und versuchte angestrengt dem Gespräch zu folgen.

Im Hintergrund kamen halb vom Nebel verschluckte Laute. Es war eine jüngliche Stimme, die von Alkohol getränkt und dennoch leicht war, und eine jugendliche Frische versprühte, obwohl sie ein sehr blutiges, jedem Franzosen wohlbekanntes Lied[3] sang. Die Stimme war des Gesanges kundig, und vermochte es, seine eigene Emotion und eine Spur von Sarkasmus in diesem Lied wiederklingen zu lassen. Er sang zwei Strophen, aber nicht in der so vorgesehenen Reihenfolge.

"Tremblez, tyrans, et vous perfides
L’opprobre de tous les partis,
Tremblez! vos projets parricides
Vont enfin recevoir leurs prix!
Tout est soldat pour vous combattre,
S’ils tombent, nos jeunes héros,
La terre en produit de nouveaux,
Contre vous tout prêts à se battre!

Allons enfants de la Patrie,
Le jour de gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
L’étendard sanglant est levé.
Entendez-vous dans les campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans vos bras
Égorger vos fils, vos compagnes."
[4]

Die Stimme verschwand wieder irgendwo im Nebel, in irgendeiner der umtriebigen Kneipen. Der Wind war still an diesem Morgen und gab dem Nebel allen Platz. Jetzt, wo sich alles legte und die Geräusche in den Morgenstunden langsam weniger wurden, glaubte man noch die Ausdünstungen des Tages zu riechen. Die Angst der Soldaten, welche geradezu standrechtlich erschossen wurden, so sie die beiden hingerichteten Generale zu verteidigen trachteten, der Urin, der Geruch von Blut und von Erbrochenem. Keiner mochte sagen, wie viele Tote es wirklich gegeben haben mochte. Wahrscheinlich war die Anzahl nicht so hoch gewesen, und viele Soldaten hatten sich fraternisiert mit den Aufständigen, und doch hatte es Schlägereien gegeben, doch hatte es Morde gegeben und irgendwo hinter all diesem schillernden Schleier aus den alten Schlagworten Liberté, Égalité, Fraternité waren auch die schlimmen Schicksale verborgen. Auch wenn Sébastien und François voller Stolz waren, hatte Paul Zeidler heute auch schon gesehen, wie Männer eine zu Tode geschundene, junge Frau mit einer Decke abdeckten und sie vom Place Blanche trugen. Der Place Blanche war auch nicht mehr weiß, weil der junge Aufstand schon früh seine Unschuld verloren hatte. Und auch Carl von Lütjenburg hatte die Leiche eines zu Tode getrampelten Kindes gesehen, welches irgendwie zwischen die Fronten gelangt sein musste. Es waren grausame Bilder, welche diese zwielichtig-fröhliche Stimmung der Arbeiter noch nicht zu trüben vermochten. Nichts war geschafft und dennoch fühlte es sich für viele wie eine Befreiung an, wie der kühle Regen nach einem reinigendem Gewitter. Doch wer genau darauf achtete, spürte, dass die Wetterfront längst nicht vorüber gezogen war, dass nach dem kurzen Regenguss die Luft wieder schwül wurde. Es war abzuwarten, was letzte Nacht wirklich alles passiert war und welches Auswirkungen es haben mochte.
Irgendwo im Hintergrund ertönte unklar aus dem Fenster eines Gebäudes die junge, männliche Stimme noch einmal die vierte Strophe der Marseillaise singend, peu à peu stimmten schwächere, kräftigere, passend und disharmonische Stimmen mit ein und gemeinsam schmetterten sie die Nationalhymne Frankreichs über den Place Blanche.

Es klang wie eine Kriegserklärung an das eigene Land.

 1. Alfred Krupp
 2. Internationale Arbeiterassoziation
 3. Marseillaise
 4. Die junge, männliche Stimme singt erst die 4. und dann die 1. Strophe der Marseillaise -
Übersetzung (Anzeigen)
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Carl von Lütjenburg

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Une nouvelle ère
« Antwort #14 am: 20.08.2013, 16:24:36 »
Car stieß den bläulichen Zigarettendunst durch die Nase aus und lächelte entschuldigend, als Paul ihn danach fragte, wie lange er schon in Paris sei. Carls Französisch war ausgezeichnet, wie es sich für einen Offizier gehörte, aber natürlich nicht mit dem eines gebürtigen Parisers zu vergleichen.

"Ah, man hört es mir noch immer an, nicht wahr?" entgegnete er Paul in freundlichem Tonfall, "Ich bin erst seit ein paar Jahren hier und komme ursprünglich aus Holstein, wenn Ihnen das etwas sagt, und heiße eigentlich Carl von Lütjenburg. Bitte verzeihen Sie, es lag mir fern Sie zu täuschen, es ist nur so, dass die Dinge hier mit einem französisch klingenden Namen häufig leichter von Statten gehen und so stelle ich mich schon seit Längerem auf diese Weise vor." sagte Carl gespielt spitzbübisch und zwinkerte Paul zu.

"Ihr Handeln scheint mir das erste Vernünftige zu sein, dass hier in den letzten Stunden geschehen ist, Herr Zeidler. Projekt Exodus, sagen Sie? Ich kann nicht sagen, dass ich davon schon gehört hätte, allerdings bin ich in solchen Dingen auch nicht sonderlich gut informiert. Aber, sagen Sie, Herr Zeidler, Sie scheinen mir ebenfalls ein Zugezogener, so wie Ich zu sein, stimmt das?" fragte Carl interessiert. Paul Zeidler war auf jeden Fall ein Mensch, den er nicht hier zu treffen erwartet hatte. Die verwundeten Soldaten zu versorgen war eine gute Sache, aber dies sollte nach Carls Meinung nicht auf Religion sondern auf Pflichtgefühl den eigenen Kameraden gegenüber fußen. Leider konnte man aber bisher nicht sagen, dass dies auf französischer Seite besonders gut funktionierte, während die Preußen schon gute Erfahrungen mit den neuen Rotkreuz-Gesellschaften machen konnten[1].

Die Worte von Sébastien und François beeindruckten Carl, so dass er zunächst nichts darauf erwiderte. Er war nicht aufgrund des Inhalts allein beeindruckt, sondern wenn er den Inhalt mit seiner Umgebung - dem blutenden Place Blanche - verglich. Die beiden jungen Arbeiter waren zwar betrunken, aber dennoch schien es Carl, als wären sie durchweg gewillt viel Leid unter der Pariser Bevölkerung in Kauf zu nehmen, um ihre Hoffnungen verwirklicht zu sehen. Wenn diese Beiden für die gesamte Arbeiterschaft Paris' sprachen, dann war das sehr bedenklich und von Stiehle hatte gut daran getan jemanden hierher zu schicken. Am liebsten hätte Carl gefragt, ob das, was auf dem Platz geschehen war "Verantwortung übernehmen" bedeutete, aber er hielt sich zurück und gab sich zunächst skeptisch.
"Und danach? Ich meine, Sie können ja kaum davon ausgehen, dass man Ihnen Paris einfach so überlassen wird, nur weil Sie es für den Augenblick kontrollieren. Sicherlich setzen Sie auf eine diplomatische Lösung, um Thiers mehr Rechte abzuringen und geben Paris dann zurück, vermute Ich mal." argwöhnte Carl und gab sich harmlos.
 1.  Wirken der Rotkreuzgesellschaften im Deutsch-Französischen Krieg

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