Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:11 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)
Die Predigt Pauls fand in einem klammen Gebäude statt, welches der Pater Grouès, ein altes und doch geschätztes Mitglied Montmatres für diesen Zweck zur Verfügung stellte. Das mitten in die Rue de Doutes gedrängte Haus war mit grauem, rissigen Rauhputz versehen wurde und diente seit einer Weile für kleine Gottesdienste, obwohl es kein klassisch geweihtes Gebäude war. Es vollführte schon seit Jahren die Funktion einer kleiner Kapelle, obwohl es die Bausubstanz, und schon gar nicht die Akustik, nicht wirklich zuließ
[1]. Paul Zeidler kämpfte also nicht nur mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch noch mit seiner eigenen Stimme. Mit der Hitze in dem Raum, dem Lärm der Straße und vor allem mit der Erwartungshaltung der anwesenden Menschen. Durchaus waren die meisten Besucher dieses Ortes Protestanten, was sie zu Pater Groués und Paul Zeidler führte, in einem Viertel der Stadt, welches vor allem katholisch geprägt war. Das hatte an sich nicht viel zu bedeuten, da französischer Katholizismus
[2] eine andere, wenn auch existierende Verbindung zum Petrusstuhl hatte. Aber Frankreich kämpfte noch immer seinem tragischen Erbe die Hugenotten betreffend
[3]. Diese alten Verwerfungen waren im Alltag nicht an der Sache spürbar und doch begegnete man Protestanten doch häufig mit gewissen Ressentiments. Die katholische Kirche erlebte in Frankreich in den Zeiten der Kreise sogar eine gewisse Renaissance, wie zuletzt die Marienerscheinungen der Bernadette Soubirous
[4] im Jahr 1858 und der folgende Ansturm der Wallfahrer auf Bernadettes Heimatort Lourdes
[5] bewies. Diese Gefühl des Aufschwunges bekamen auch realen oder auch nur gedachten Feinde der katholischen Kirche zu spüren. So erklärte sich, warum Paul Zeidler nicht in einer Kirche predigen konnte, und warum diese Veranstaltungen sogar mit gewissen Argwohn betrachtet wurden
[6]. Paul Zeidler kämpfte somit also nicht nur gegen den Lärm, gegen die Hitze, mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch gegen Neider, katholische Missionare, die kritischen Stimmen wider den Protestantismus und dann gab es eben noch jene Bürger auf den Straßen, die Sakristei
[7] und Straße getrennt sehen wollten, eine Position, welche sich im Antiklerikalismus
[8] eben auch in den protestantischen und katholischen Strömungen fand. Die wenigsten mochten auch nur erahnen, von wie vielen Parteien und Konfliktfeldern Paul Zeidler sprach, wenn er dazu aufrief, seine Feinde anzunehmen.
Der Raum war klassisch schmucklos, wie es in vielen protestantischen Häusern der Fall war, die sich in stark reformatorischer Traditionen sahen und sich den kunsthistorisch katastrophalen, aber reformatorisch sehr konsequenten Bilderstürmen
[9] verbunden sahen. Pater Groués war ein solcher Ikonoklast
[10], der die Sprache und das Wort Gottes in den Vordergrund stellte und nicht die sinnliche Verführung durch Bilder. Weiße Wände wurde in einen Kontrast gesetzt durch die dunklen Holzstühle und Holzbänke, die aufgestellt wurde. Ein Kruzifix hing an der Wand, welche die Besucher hinter Paul Zeidler anstarren mochten, darunter der einfache Holztisch mit einer aufgeschlagenen, großen und unhandliche Ausgabe der Heiligen Schrift. Es roch nach Suppe, nach Schweiß und feuchtem Gemäuer. Von draußen schwappten die Geräusche des endenden Tages herein. Sich unterhaltende Menschen, vorbeiratternde Kutschen. Irgendwo spielten in der bereits eingetretenen Dunkelheit Kinder und schrien vor Vergnügen und hier und da auch vor Ärger. Und auch der Raum selbst, der nur den Ausgang und drei geschlossene Türen vorwies und wohl eigentlich einst die Ausstellungsfläche eines Ladens gewesen war, bebte in dieser beinahe greifbaren Unruhe. 30 oder 40 Personen wären in diesem Raum schon zu viele gewesen, heute mochten vielleicht um die 60 oder sogar 70 Besucher zur Predigt gekommen sein. Die Nähe, die schiere körperliche Nähe, sorgte für Unwohlsein und Anspannung. Paul kam nicht umher zu registrieren, wie misstrauisch die Anwesenden sich beäugten. Wer war alter Republikaner? Thiersfreund? Wer war vielleicht sogar Katholik? Paul sah sogar an der Tür zum Ausgang einen Mann stehen, der fleißig mitschrieb in seinem Notizblock. Er trug einen schwarzen, schweren Mantel und nur die offene Tür mochte ihm vor dem Schicksal des unaufhaltsamen Schweißflusses retten. Wenn er nicht gerade schrieb, stützte er sich auf einen schweren Regenschirm. Seine Kleidung war monochrom, und komplette schwarz. Vom schweren Wollmantel über die Anzughose, die schwarzen Lederschuhe und sogar der Hut war in dieser Farbe. Nur von einer weißen, künstlichen Feder, deren Außenfahne in ein dunkelgrün überging. Jene umstrittene Hutform, die der gebildete, mitteleuropäische Revolutionär als Kalabreser
[11] kannte, war auch im Gebäude auf seinem Haupt platziert. Er strich über seinen blonden Schnauzer und beobachtete die Worte und Widerworte, als hätte er diesen unnachgiebigen Drang sich selbst zu beteiligen. Nach einer Weile schüttelte er sich, als würde er sich selbst aufraffen müssen und brachte sich schließlich selbst in das Gespräch ein.
"Cher Pére, verzeiht meine Einmischung.", begann der Mann, der von beeindruckendem Wuchs war. Er überragte die meisten Besucher um einen halben Kopf. Er nahm den Kalabreser ab, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass es sich nicht ziemte in einem Haus den Hut aufzubehalten, wobei blondes, gescheiteltes Haar zum Vorschein kam.
"Obzwar die Ihnen an den Lippen hängende Menge es nicht zu formulieren vermag, gibt sie Ihnen recht. Die Grundannahme des Christentums ist die Fehlbarkeit des Menschen. Die Angst vor der eigenen Sünden und noch mehr die größere Furcht vor der fremden Sünde wider einen selbst lässt sie nur einfach an Ihrem sehr bewegenden Ausweg zweifeln. Selbst das Christus für unsere Sünden starb, so die Erwartung der Versammelten, hat uns nicht dazu bewogen, als Ganzes, wenn gleich auch Einzelne, wie Ihre Person, das Wesen der Sünde besser zu verstehen oder gefeiter vor der Sünde zu sein." Sein Franzosisch war akzentlos.
"Sie können wohl nicht mehr von diesen armen Seelen verlangen, Pére. Sie leben das Ideal der Brüderlichkeit so viel mehr als die christlichen Priester, unabhängig ob Katholik, Protestant oder Anglikaner, ob Missionar oder Eremit, in ihrer Umgebung. Auch hier sind Sie eine willkommene Ausnahme, Pére. Aber wieso fordern Sie von ihnen, die schon so leben, soweit es ihre Kraft zulässt, ihr Hunger und ihre Sorge es zulässt, dass sie ihre Feinde annehmen? Sie, die sie sogar von ihren Freunden der Republik ausgenommen werden? Sicher müssen sie einen Schritt auf ihre Feinde zugehen, aber dieser muss auch ihnen entgegenkommen. Aber die selbsternannten Herren dieses Landes und dieser Stadt sind jedoch keine Citoyen[12], so schön diese Vorstellungen ist, sondern sie sind die Bourgeoisie[13]."Ein Gemurmel ging durch die überfüllten Raum. Der aufgetauchten, schwarz gekleidete Mann bediente augenscheinlich Stichworte, Schlagworte, die in jedem Stammtisch der Stadt Paris im Moment Verwendung fanden und dementsprechend nun wie glühende Scheite zwischen den Besuchern der Predigt lagen. Das Gemurmel nahm noch keine Überhand.
"Keiner von uns ist so unchristlich im Sinne, wie Dante es in seiner berühmten Komödie beschreibt, also so unchristlich, dass er die Zukunft vorherzusagen wagte[14]. Aber der Zweifel an dem Erfolg, wenn wir alleine den Frieden predigen und nach ihm leben, sei erlaubt, Pére. Frieden ist eine kulturelle Konstruktion und kein Naturzustand. Frieden ist etwas, was mit Stärke erhalten werden muss. Doch wenn der Schwache sich nicht wappnet, kann er keinen Frieden leben. Er wird ausgenutzt werden. Liegt darin nicht das furchtbare Schicksal von uns Proletariern? Wir wollen doch nur Frieden. Wir wollen doch nur, dass unsere Familien nicht verhungern. Dass aus unseren Kindern etwas wird. Dass wir neben den Krankheiten, der vielen Arbeit, den schweren Kohledämpfen der Fabriken auch etwas Sonnenlicht und Hoffnungserfüllung erleben dürfen. Und weil wir diesen Frieden immer wollten, weil wir den Konflikt gescheut haben, hat die Bourgeoisie doch erst uns so sehr ausnehmen können. So wie die falschen Priester des Katholizismus uns einst ausgenommen haben, tun es nun die Priester des Kapitalismus!" Seine Stimme war immer energischer geworden und sein Gesicht verzog sich jetzt.
"Sie halten uns im künstlichen Zustand ihres Friedens, nicht unseres Friedens! Und darin liegt das furchtbare Schicksal gegen das wir uns erheben müssen. Erst wenn wir durch den Klassenkampf die Diktatur des Proletariats[15] errungen haben, der Arbeiter also die Herrschaftsstruktur unserer Gesellschaft durchbrochen hat, und er den Frieden dann aus seiner neuen Stärke will, kann es wirklich einen Frieden für den Arbeiter und damit für ein Gros geben! Friede ist eine Absicht von Stärke. Ebenso wie Gnade ein Zeichen von Stärke ist. Doch wir sind in einem Zustand der Schwäche. Wir sind, wie Ihr sagtet, Pére, in einem Zustand, dass wir momentan nur einen gemeinsamen Feind haben, und doch noch uneins sind. Doch Paris wird ein Fanal sein. Zeigen, dass die Arbeiterschaft über einen Aufstand hinaus zusammenhält. Aus diesem Aufstand aus ein paar Kanonen wird eine Revolution einer Stadt werden und dann wird es darüber hinauswachsen. Denn der Arbeiter entdeckt langsam seine Stärke. Sein Verstand, so ungebildet der Träger dessen auch manchmal sein mag, lässt ihn das zunehmend erkennen. Dazu brauch er keinen Hirten, der ihn weiter zum Schafe hält."Jetzt nahm das Murren überhand. Der junge Mann neben Carl von Lütjenburg brüllte wütend auf und sprang auf. Er fühlte sich von dem Unbekannten bestärkt. Seine Faust reckte er hoch über den Kopf. Er rief die dieser Tage so häufig gehörten Schlagworte.
"Liberté, Égalité, Fraternité"Paul erkannte, dass so mancher, der sogar häufig seinen Predigten zuhörte, merklich, fast enttäuscht den Worten des Unbekannten Beachtung schenkte. Viele fühlten sich als friedliche Bürger, die ausgenutzt und verachtet wurden, obwohl sie einfache Männer, Familenväter oder Mütter waren und einfach auf ein zufriedenes Leben hofften. Die Kommunisten und Sozialisten dieser Tage musste nur noch ernten. Pauls Aufgabe der Vermittlung war viel schwerer. Diese Saat musste scheinbar noch gesät werden. Paul spürte, wie die Stimmung langsam aber sicher kippte. Er sah an einer Tür den alten Pére Groués stehen, wie er sich mit einem Taschentuch die Stirn tupfte und selbst betrübt reinschaute. Sein Blick schien zu sagen: Wie konnte es soweit kommen, dass die Kommunisten einen in seinem eigenen Haus anfeinden?
Carl, Sebastién und Paul sahen, wie immer mehr Sitznachbaren in ausgiebigen Disput übergingen, welcher nicht immer von vorsichtiger Wortwahl geprägt war, sondern von Beleidigung und der gereckten Faust des Unmutes. Die Stimmung wurde nun eine explosive Mischung, alles was noch fehlte, war ein einzelner, unglücklicher Funke...