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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 56442 mal)

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Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #15 am: 23.08.2013, 21:50:09 »
Die Marseillaise, die im Hintergrund über den Place Blanche schallte, klang in der Art, in der ihre Sänger sie vereint vortrugen, tatsächlich wie eine Kriegserklärung an das eigene Land. Aber nach den Entwicklungen und Geschehnissen des letzten Tages und der letzten Nacht, war es für Sébastien nicht verwunderlich, dass die einfachen Leute sich nun endlich aufrafften, um gemeinsam etwas zu bewirken. Der Krieg und die Belagerung der Stadt hatten so vielen so viel abverlangt, den Armen mehr noch als den Reichen. Doch Gerechtigkeit war auch nun nicht zu erwarten. Die Unterdrückung der Arbeiterschaft ging weiter und weiter. Wen konnte es da wundern, dass man sich dies nun nicht mehr gefallen ließ?
Auch Sébastien trug dieses blutige Lied in seinem Herzen, wenn er auch nicht nach Gewalt um der Gewalt und der Rache willen lechzte, sondern für eine gute und gerechte Sache einstehen wollte, die er in diesem Aufstand sah. Nur ein gemeinsamer Wunsch nach Veränderung würde eine solche ermöglichen – und stieß ein Aufbegehren mit Worten auf taube Ohren, musste zu anderen Mitteln gegriffen werden.

Wie auch François musste sich Sébastien jedoch immer mehr anstrengen, um allen Worten ihres Gesprächs aufmerksam folgen zu können. Dass Charles auf einmal sagte, eigentlich Carl von Lüt-… wie auch immer zu heißen, verwirrte seinen vom Alkohol benebelten Verstand zusätzlich. Die Erklärung für Charles' frnzösisch klingende Vorstellung, obwohl Sébastien darüber die Stirn runzelte, erschien ihm logisch. Dennoch wusste er nicht, ob er Charles‘ – Carls – Unaufrichtigkeit, auch wenn dieser sich nun dafür entschuldigte, gutheißen sollte oder nicht.
Sébastien war sich ohnehin noch immer unsicher, was er von den beiden ihm Fremden halten sollte. Paul Zeidler war ein guter Mann, immerhin ging es François wegen dessen Behandlung anscheinend um einiges besser und auch ihm, Sébastien, hatte der Arzt geholfen. Allerdings schien der ältere Herr, wie auch Charles – Carl von Lüt-… Lutjenbourg? –, den beiden kampferprobten Freunden ihre Überzeugung und ihren Sieg madig machen zu wollen.
„Warum sollten wir das tun?“, entgegnete Sébastien, denn Thiers Paris nach dem Erreichen ihrer Ziele wieder zurückzugeben, würde seiner Ansicht nach alles wieder zunichtemachen, was sie bis dorthin bewirkt hätten.
„Wir vertreiben Thiers doch nich‘, um ihm und dem and‘ren Pack dann doch wieder zu erlauben, über uns zu bestimmen. Das, was’se hier auf dem Platz seh’n, Messieurs, ist nur passiert, weil Thiers sich um uns nich‘ schert. Ich geh‘ sogar noch weiter und sag', dass er ein Verräter an seinen eig’nen Landsmännern ist, weil er sich nich‘ nur nich‘ um uns kümmert, sondern auch noch Soldaten schickt, um uns kleinzukriegen. Thiers wird sich sicher nich‘ verdrängen lassen woll‘n, aber ich denk‘, wenn er  sein Amt behalten will, wird er den Forderungen des Zentralkomitees – damit uns‘ren Forderungen, Monsieur – nachkommen müssen. Wird er das freiwillig tun?“ Sébastien glaubte nicht daran, allerdings war der Sieg der Nationalgarden am vergangenen Tag ein Triumpf gewesen. Wie man hörte, war Thiers mit seiner Regierungs- und Beamtenschar nach Versailles geflohen, und das bedeutete für Sébastien, dass das Zentralkomitee das Ruder in der Hand hielt.
„Wir zwei beide“, sagte er François und sich, „können erstmal sowieso nich‘ sagen, was das Zentralkomitee machen wird und wie Thiers reagiert, aber’s wird kommen, wie’s François gesagt hat: Wir Arbeiter steh‘n nun für uns ein, erheben uns und werden emanzipiert – und wenn’s den Reichen nich‘ passt, sollen’se fortbleiben.“
« Letzte Änderung: 23.08.2013, 21:50:44 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #16 am: 26.08.2013, 14:20:36 »
Paul überlegte kurz, wie er dem Fremden antworten sollte. Es konnte in diesen Tagen Probleme bereiten, wenn man sich als Deutscher offenbarte. Andererseits wollte er auch nicht unhöflich sein und bestreiten konnte er seine Herkunft, wegen seinem leichten, deutschen Akzent, doch nicht. „Da haben Sie Recht, ich komme aus Jena. Das kennen Sie doch sicherlich. Ich bin nach der Revolution von '48 nach Frankreich gekommen, als sich die Hoffnung nicht erfüllte. Das ist alles schon recht lange her und ich lege keinen Wert auf meine Herkunft mehr,“ sagte er.

Paul fühlte sich unbehaglich. Er erkannte, dass die Situation ungünstig war. Die beiden Männer vor ihm waren erfüllt von Euphorie und Weinbrand und wenig zugänglich für seine Worte. Er fragte sich, wie viele anderen Pariser in dieser Stimmung waren und als ob ihm jemand antworten wollte, wurde irgendwo gräuslich schräg die Marseillaise angestimmt. „Wie viele meiner eigenen Leute werden wohl zu den Waffen greifen? Das Schlimme ist, dass man in dieser Situation tatsächlich glauben kann, mit Gewalt etwas Besseres erreichen zu können. Das lässt darüber vergessen, dass sie nach einem Sieg – sollten sie ihn gegen alle Wahrscheinlichkeit erringen – eine Ordnung aufbauen müssen. Und diese Menschen sind so weit entfernt davon, ihre vielbesungene Brüderlichkeit leben zu können.

Paul räusperte sich. „Wie viele Menschen haben sie denn heute getötet? Wie viele wären sie denn bereit, noch zu töten?“, fragte er und es klang nur deshalb nicht zynisch, weil seine Stimme so kraftlos war.

"Was wird mich heute abend erwarten?", fragte er sich.
« Letzte Änderung: 26.08.2013, 14:21:36 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #17 am: 29.08.2013, 20:47:09 »
Sébastien runzelte verwundert die Stirn und lachte dann.
„Ich hab‘ doch keinen umgebracht, Monsieur… Denk‘ ich“, fügte er nach einem Zögern hinzu, denn der Klang des ersten selbstsicher geäußerten Satzes in seinen Ohren, hatte ihn dann doch dazu gebracht, zu versuchen, sich genau an die vergangene Kampfsituation zu erinnern.
„Du, François?“, wandte Sébastien sich Unterstützung suchend an seinen besten Freund, der immer mehr mit der Müdigkeit kämpfte. Jedoch war François noch wach genug dazu, um das ebenfalls mit leichter Unsicherheit in der Stimme zu verneinen.

Auf dem Platz war es wild zugegangen und Sébastien und François waren mitten in dem Getümmel gewesen. Sie hatten reagiert und funktioniert, hatten, berauscht von Schmerz, Ehrgeiz und Adrenalin einfach gekämpft, ausgeteilt und sich gewehrt. Kaum war ein Gegner getroffen weggetaumelt, war ihnen schon der nächste vor die Nase gekommen. Sébastien musste sich eingestehen, dass er wenig Übersicht über das Geschehen gehabt hatte. Er hatte sich immer nur um das gekümmert, was in direkter Reichweite geschehen war, stets mit einem halben Auge auf François, wenn dies möglich gewesen war.

„Hab‘ eigentlich mit bloßen Händen gekämpft“, meinte Sébastien schulterzuckend. Andere hatten sich improvisiert bewaffnet oder die Gegner entwaffnet, aber er hatte, soweit er sich erinnern konnte, lediglich seine Fäuste sprechen lassen – oder sich anderweitig im waffenlosen Kampf bewährt.
„Es ging alles hektisch und schnell, aber ich wüsst‘ nich‘, dass ich wen erschlagen hätt‘. Ich hab‘ auch niemanden töten woll’n. Will ich allgemein gar nich‘“, stellte er richtig, denn mordlustig war er gewiss nicht. Thiers Leute hatten ihn zwar wütend gemacht und dementsprechend hatte er auch ausgeteilt, aber nun im Nachhinein sah er seine Handlungen in einem anderen, euphorie- und alkoholberauschten Licht.
„Die ha’m ihre Lektion auch so gelernt. Ich bin nich‘ unnötig grausam. Genug sind gestorben im Krieg und während der Belagerung. Doch wir ha'm getan, was nötig war. Wir ha’m die Kanonen verteidigt und uns.“
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #18 am: 04.09.2013, 12:46:26 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:15 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François schaubte missbilligend als Paul Zeidler danach fragte, wie viele Menschen sie am heutigen Tage getötet hätte und für seinen Zustand versah er seine Gestiken und nickende Zustimmung mit gewisser Vehemenz, als Sébastien betonte, dass sie keinen Menschen getötet hätten. Er fühlte sich sofort ermuntert, ebenfalls ein paar Worte dazu verlieren. Er räusperte sich, holte tief Luft und ließ einige Momente vergehen, um sich zusammeln. Es war klar, dass er seine Wut runterschlucken musste.
"Halten's uns für Mörder?`Ausgerechnet von 'nem Pfaff als Mörder gebranntmarkt zu werden. Unding. Heute sind nicht viele Menschen gestorben. Nein. Ein paar haben kassiert, und zwei Generale haben sie an die Wand gestellt und erschossen. Viele Soldaten sind aber übergetreten, haben die Befehle, die Menge mit Gewalt zu vertreiben, abgelehnt. Ja, sind sogar von den eigenen Männern festgesetzt wurden, diese Generäle. Ja, sind sogar von den eigenen Männern standrechtlich füsiliert wurden, diese Generäle. Danach hat es Tumulte gegeben und viele Regierungstruppen flohen. Da haben sich ein paar unredlich benommen. Und dann haben wir uns mit ihnen unredlich benommen. Aber der Mann neben mir ist benamst Sébastien und nicht Kain, und ich François und nicht Kain. Wir haben niemanden getötet. Zwei Männer sind tot, soweit ich gehört habe. Blut is' wohl geflossen. Vielleicht sind noch mehr gestorben. Sicher sind mehr gestorben. Manche sind vor Kraftlosigkeit gestorben, andere vor Schreck. Wohl aber wurde keiner von uns zu Tode geprügelt oder erschossen. Es ist, wie Sébastien sagt. Sind genug im Krieg gegen die vermaledeiten Teutschen gestorben. Aber wenn wir für Frieden töten müssen, ich würd's tun. Nicht jeden und nicht ohne Grund. Aber wenn sie nach dir schießen, musst dich wehren. Wenn Sie dich niederschießen, kannst du nicht mehr für Freiheit kämpfen. Und wir sind nicht wichtig genug, dass unser Tod schon symbolisch ist. Also müssen wir uns wehren. Ja, so ist's doch. Wenn man mir auf die Backe gibt, kann ich die zweite Backe hinhalten. Aber wenn man mir auf die Nase gibt, kann ich die zweite nicht hinhalten. Habe ja nur eine Nase. Und so ist das mit dem Leben. Was im Überfluss da ist, kann ich geben, aber nicht mehr. Und es gibt nur eine Freiheit, ein Leben. Deswegen nimm' ich es auch nicht einfach so. Aber wenn man nach mir Blei spuckt, will ich wütend werden."

Im Hintergrund wurde dagegen an mehreren Stellen Gebrüll laut. Kurze Befehle wurden gebrüllt oder zumindest Anweisungen. Der Gesang schwand abrupt. Die Stimmen kamen durch den Nebel näher. Irgendwann waren sie auch zu vernehmen. "Ab in die Betten, Genossen! Wir haben einen Freiheitskampf zu kämpfen." - "Stellt das Saufen ein, Paris braucht euch tapf're Recken." - "Heute ist Ruh', morgen ist Kampf, Brüder!"
Es waren Nationalgardisten, welche versuchten die trunkene Menge ins Bett zu bekommen. Und es waren auch weitere Männer unterwegs, welche die durchaus höhere Unzahl von Leichen und Geschändeten einpackten und abtransportierten. Es war schwer zu sagen, wie viele Männer und Frauen in den Tumulten umgekommen war. Die Zahl mochte irgendwo zwischen 5 und 50 liegen. Paul selbst hatte zumindest eine ganze Reihe Schwerverletzter betreut. Aber es war auch das Zeichen, dass die Nacht langsam für alle endete. Der Place Blanche hatte eine wilde Nacht erlebt und nicht mehr lange und die Nationalgardisten würden auch zu Carl, Paul, Sébastien und François vordringen und sie zum Gehen auffordern. François war müde, ihn stand ins Gesicht geschrieben, dass er auch bald aufbrechen würde.
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #19 am: 08.09.2013, 19:10:02 »
Paul schüttelte den Kopf. "Nein, für einen Mörder halte ich Dich nicht. Du bist betrunken von billigem Fussel und leicht verdienten Siegen.", dachte er und sagte: "Wenn der Aufstand weitergeht, dann wird es auch andere Tage geben. Ihr Gegner war überrascht und schlecht bewaffnet. Das war eine wilde Keilerei, in der Tat. Aber wenn er sich gesammelt hat, wie wird er Ihnen entgegentreten. Was glauben Sie? Und was ist mit Ihnen? Wozu brauchen Sie diese Kanonen? Da Sie sie nun haben, werden Sie auch benutzen. Und dann werden Menschen sterben.", sagte Paul streng. Aus dem Augenwinkel sah er die Nationalgardisten den Platz räumen. Darum beeilte er sich zu sagen: "Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das Blutvergießen sich vermeiden lässt. Kommen Sie heute Abend gegen 19 Uhr zu Pater Grouès in der Rue de Doutes." Dann nahm er sein Tasche und eilte davon.



Paul blickte auf die schwere Uhr über der Tür und wischte sich mit einem Taschentuch feine Schweißperlen von der Stirn. "Schon fast 19 Uhr. Es ist bald Zeit für die Andacht.", stellte er fest. Sein Blick wanderte durch den Raum, der bis auf den letzten Platz mit Männern besetzt war. Es waren mehr als sonst, man hatte die Suppe mit einem halben Eimer Wasser strecken müssen. Die Stimmung war angespannt, kaum einer redete mehr als einige Worte. Die Luft war verbraucht und feucht von der heißen Suppe. Jemand hatte ein Fenster geöffnet, durch das der Lärm der Straße hineinkam. Nach einigen Minuten half Paul, die Teller zusammenzuräumen und dann gab es nichts mehr, womit er den Moment hinauszögern konnte. Paul fürchtete sich etwas. Er fürchtete, dass er den Respekt der Männer verlieren könnte, dass die Stimmung umkippen konnte, es vielleicht zu einer Schlägerei kommen könnte. Grouès nickte Paul zu. Paul stand auf.

Er räusperte sich und wartete, bis er die Aufmerksamkeit aller hatte. Dann sagte er: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Friede Gottes sei mit Euch.", worauf hin die Männer mechanisch antworteten: "Und mit Deinem Geiste.".

"Herr, wir kommen vor Dich in diesen Stunden mit unserer Verwirrung und unseren Ängsten. Wir leiden unter unsere Bedrückung und der Armut. Da sind die langen Arbeitsstunden in den Fabriken und die Verluste des Krieges. Wir können nichts tun, um unsere Situation zu verbessern, so scheint es. Zwar sehnen wir uns nach dem Frieden Deines Reiches, doch wir müssen erkennen, dass wir gefangen sind in dieser ungerechten Welt. Wir wollten für uns eintreten, aber wir haben keine Stimme unter den Mächten. Wie oft haben wir es friedlich versucht? Herr, sieh in die Herzen dieser Menschen. Unsere Ohnmacht weicht der Wut; wir fragen uns, warum wir uns unser Recht nicht mit Gewalt nehmen. Die Situation ist günstig wie nie. Herr was sollen wir tun?"

Die Männer rutschten unruhig auf ihren Sitzen herum. Paul sah viele errötete Gesichter. Die Männer waren aufgerührt, doch wagten noch nicht, einzugreifen. Einige blickten misstrauisch. Sie erwarteten, dass Paul gleich mit einem jener billigen Tricks die ganze Situation wendete. Man kannte die Formen der Pfaffen. Nur Grouès blieb ruhig. Vor der Andacht hatte er Paul gut zugeredet. "Paul, Du weißt, dass Du richtig handelst. Sprich aus dem Herzen zu Ihnen. Es wird die Richtigen überzeugen und die anderen waren ohnehin nicht bereit.", hatte er gesagt - Worte, die jetzt gut taten.

Er räusperte sich noch einmal und schlug die Bibel auf: "Die Lesung für den heutigen Abend kommt aus dem Matthäus-Evangelium, Kapitel 21."

Zitat von: Mt 21
Jesu Einzug in Jerusalem
1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus
2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir!
3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf.
8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?
11 Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.

"Wollen Sie uns jetzt mit Weihnachtsgeschichten vertrösten, Pater?", rief ein vorlauter Junge von vielleicht siebzehn Jahren, der hinter zwei großen Männer halb versteckt saß.

Paul ließ sich nicht beirren. "Tatsächlich, aus mir schwer verständlichen Gründen wird die Perikope gerne am ersten Advent verlesen. Doch darum geht es mir nicht. Die Perikope erzählt nämlich nicht nur vom kommenden Messias, sondern auch von der Not des israelischen Volks. Ihr müsst Euch vorstellen, dass das Volk Israel von Mose aus der ägyptischen Knechtschaft geführt wurde. Sie erstritten sich ihren Platz in dem Land, in dem Milch und Honig fließt, wie es heißt. Weil das Herz der Israeliten aber boshaft und verstockt war, lies der Herr sie von den Fremdvölkern bedrängen. Doch immer tat ihm das Wehklagen und Schreien seiner Kinder leid und er erwählte starke Helden, die die Feinde verdrängten und den Frieden wieder herstellten."

"Und Sie, Pater? Sind Sie unser Held, der uns aus der Knechtschaft der Burgeousie befreit?", höhnte ein rotbackiger Mann.

"Nein, und jetzt sei still, Ramon. Deine Frechheit bringt Dich in Verlegenheit", gab Paul scharf zurück. "Deine Anmaßung steht für das israelische Volk. Denn kaum waren sie erretet, da fielen sie auch schon ab und buhlten um die mächtigen Fremdvölker. Der Herr macht wiederum andere Völker stark und lies sie über das Land herfallen[1]. Es gab kaum eine Zeit, in den vielen Jahrhunderten, da herrschte Israel in seinem eigenen Land. Zu Zeiten Jesu waren es die Römer, die das Land besetzt hielten. Sie zwangen den Israeliten ihre Gesetze und ihre Kulte auf. Sie erpressten ein hohes Steuergeld und es gab mindestens eine Hungersnot im Land. Die Bedrückung wird deutlich in den Rufen 'Hoasianna, Hosianna'. Das sind nämlich keine Heilsrufe, sondern es es bedeutet: 'Hilf doch!'."

"Die Menschen hofften auf den Sohn Davids, der die römischen Besatzer schlagen und den israelischen Thron wieder besetzen sollte. Sie beteten zum Herrn, dass er ihnen einen starken Feldherren senden sollte. Was musste es für ein seltsamer Anblick gewesen sein, als da der Gottessohn in die Stadt einritt: er war verlumpt und ritt auf einem Esel! Er hatte keine Armee bei sich, sondern gerade einmal eine Scharr von zwölf Jüngern. Es muss deutlich gewesen sein, dass dieser Gottessohn die Besatzer nicht schlagen würde. Warum kam der Gottessohn dann in die Welt, wenn er das Land nicht befreite?"

Paul machte eine kurze Pause, um der letzten Frage Raum zu geben. Er hatte die Männer vor sich nicht mehr im Blick, sie verschmolzen zu einer Masse ohne Gesichter. Paul versuchte nicht mehr zu überzeugen, sondern er sprach aus Überzeugung. "Der Gottessohn kam in diese Welt um den Frieden zu bringen. Der Herr hatte erkannt, dass es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben könnte, wenn das menschliche Herz keinen Frieden und keine Gerechtigkeit kannte. Die Geschichten des Alten Testaments haben es doch gezeigt. Wie oft wurde das Volk Israels aus der Not befreit - und kaum war die Not vorrüber, da folgte es wieder fremden Göttern und verging sich wieder. Also, erst wenn diese bösen Herzen versöhnt würden, würde auch ein sozialer Frieden möglich sein. Was die Versöhnung des Herzens bedeutet, dass hat Jesus in der Bergpredigt niedergelegt. Ich will Euch stellvertretend nur eine Auslegung in Erinnerung rufen:

Zitat von: Mt 5
21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.
22 Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.
23 Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
24 so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.
25 Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest.
26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

"Liebe Brüder! Ihr glaubt, dass Ihr die Gerechten seid und die momentane Stärke macht Euch kühn. Aber Ihr seid schwach und uneins. Und selbst für den Fall, dass Ihr siegen solltet, das böse Herz ist wankelmütig und verräterisch. Noch eint Euch das gemeinsame Feindbild. Doch ich schwöre Euch, wenn der letzte Feind gefallen ist, dann werdet Ihr über einander herfallen und euch gegenseitig unterdrücken, weil jeder meint, gerechter zu sein."

Pauls Stimme war im Laufe der Predigt angeschwollen und er hatte sich heißgeredet. Er spürte die Hitze im Kopf und an den Wangen. Nun aber wurde er wieder ruhiger, aber seine Stimme verlor nicht jenen eindringlichen Ton. "Versteht doch! Die Nachfolge Christi bedeutet nicht, die Ungerechten totzuschlagen. Sie bedeutet, selbst den Feind anzunehmen und zu lieben und ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Das ist aber nur möglich, wenn Ihr selbst auf dem gerechten Weg geht. Ich bitte Euch, lasst von den Kämpfen ab und lasst Euch für die Nachfolge Christi begeistern!"[2]
 1. Paul beschreibt das sogenannte Richter-Schema
 2. Wurf auf Überzeugen: Durchschnittliches Ergebnis (+1)
« Letzte Änderung: 24.10.2013, 13:14:17 von Paul Zeidler »
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Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #20 am: 11.09.2013, 23:59:45 »
Sébastien sah Paul Zeidler hinterher, der sich schleunigst davonmachte.
„‘s geht ums Prinzip“, richtete er die Antwort auf die Frage, wozu sie die Kanonen bräuchten, an den einsamen Wanderer, statt an den Arzt, da dieser offenbar nicht so sehr daran interessiert war.
„Wir ha’m die Kanonen gerettet, also gehör’n sie auch uns. Hätten wir’s nämlich nich‘ gemacht, würd’n’se nun den Preußen gehör’n – und das wär‘ nich‘ so schön.“
Ein Grinsen voller alkoholgetränkter Seligkeit schlich sich auf Sébastiens zerschlagenes Gesicht. Er bemerkte, dass die Nationalgardisten, die die Straßen und den Platz räumten, immer näher kamen.
„Au revoir, Charles! Nun ist’s wohl Zeit, heimzukehr’n, eh‘ man uns jagt.“
Lachend reichte er seinem besten Freund die Hand, um François auf die Beine zu helfen – wobei sich Sébastien aber selbst an der Hauswand abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Doch eigentlich immer, wenn er derart betrunken war, nahm er derlei Koordinationsschwierigkeiten auf andere, nicht komplett bewusste Weise wahr.
Vielleicht hatte Charles noch etwas zu sagen. Sébastien würde es sich anhören und anschließend wankenden Schrittes einen Weg nach Hause suchen. Vielleicht würde er irgendwann die Marseillaise anstimmen, obwohl er, besonders in seinem starktrunkenen Zustand, wahrscheinlich ein grauenhafter Sänger war. Sébastien war zufrieden und dieses Lied ein angemessener Abschied für den ereignis- und blutreichen vergangenen Tag.



Am Abend des gleichen Tages fand Sébastien sich in einem etwas stickigen, nach Essen riechenden Raum in der Rue de Doutes wieder. Er hatte sich unter die anwesenden Männer gemischt und sich einen Sitzplatz gesucht, von dem er aus mit mehr oder minder aufmerksamer Spannung der Dinge geharrt hatte. Kopfschmerzen und Unwohlsein plagten Sébastien seit dem Aufwachen, zudem machten sich inzwischen seine Kampfverletzungen bemerkbar. Dennoch war er auf gewisse Weise froh, hier zu sein und dem Redner, in dem er Paul Zeidler erkannte – den Arzt, der François und ihn auf dem Place Blanche versorgt hatte –, zuzuhören.

Joséphine, Sébastiens Frau, war bei seiner Heimkehr in den Morgenstunden – woran er sich nicht mehr erinnern konnte – erleichtert gewesen, ihn lebend wiederzusehen. Schelte und Tadel hatte sie sich – woran er sich leider allzu gut erinnern konnte – für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben, zu dem er wieder in einer zumindest ansatzweise zugänglichen Verfassung gewesen war. Sébastien ahnte, dass der Ärger noch nicht ausgestanden war, denn Joséphine mochte es überhaupt nicht, wenn er sich betrank, spielte, prügelte oder sonst nur irgendwie Spaß hatte (besonders nicht zusammen mit François, gegen den sie inzwischen aus für Sébastien unerfindlichen Gründen einen beherzten Groll hegte), und so sah Sébastien einen Vorteil dieser Veranstaltung darin, dass sie eine Alternative dazu war, sich Zuhause wahrscheinlich weitere Vorhaltungen anhören zu müssen.

Sonderbarerweise hatte Sébastien sich, obwohl nicht wenige Details der letzten Nacht wohl unwiderruflich verloren gegangen waren, an eine Einladung und eine dazugehörige Adresse erinnern können. Schlussendlich hatte er sich aufgerafft, dieser nachzukommen. Momentan wollte er sich von Joséphine und ihrem gemeinsamen Nachwuchs fernhalten. Auch wenn die Stimme Paul Zeidlers alles andere als Balsam für Sébastiens dröhnenden Schädel war, war sie jedenfalls erträglicher als eine aufbrausende Ehefrau und Kindergeplärr. Er liebte seine Familie und hing sehr an ihr, doch in manchen Situationen, so wie in dieser, bevorzugte er es, einen gesunden Abstand zu wahren.

Sébastien musste sich konzentrieren, um Paul Zeidlers Vortrag Aufmerksamkeit zu schenken und gedanklich nicht abzuschweifen. Er fand seinen Sitz unbequem, das Licht blendete ihn und eigentlich war er müde. Obwohl er Christ und gläubig war, war der Trost, den er in Bibelversen und Priesterworten fand, gering. Für Sébastien hatte es Trost schon zu früheren Zeiten wenig gegeben, denn der Gedanke daran, dass das Leid, was herrschte, selbstverschuldet und Gottes Wegweiser sein sollte, empfand er als entmutigend. Verheißungen stopften keine hungrigen Mäuler, genauso wenig wie vernünftige Worte die Bourgeoisie dazu bewegen würden, das Elend unter der restlichen Bevölkerung ernst zu nehmen und zu bekämpfen, anstatt es auszunutzen. Darüber hinaus versuchte die Regierung unter Thier, statt für das Volk einzustehen und den Arbeitern zu helfen, sie mit Waffengewalt zum Schweigen zu bringen, um bloß nicht die Klage hören zu müssen.
Wie sollten unter diesen Umständen die bösen Herzen versöhnt werden können, so wie Paul Zeidler es den Versammelten nahelegen wollte? Die Fronten waren verhärtet. Frankreich und im Speziellen Paris hatten eine solche Lage schon oft erlebt. Der Ruf nach Revolution hallte durch die Gassen der Stadt. Auch Sébastien war vom Wunsch nach Freiheit und Gleichheit ergriffen, ihm juckte Tatendrang in den Gliedern. Er merkte die Anspannung und den Unmut der Männer um ihn herum, denen es genauso zu ergehen schien.

Die Nachfolge Christi mochte demjenigen leichter von der Hand gehen, der frei von der Last und Unterdrückung war, wie sie die Arbeiter durchlebten. Satt und mit Geld wäre es einfacher, Tugend und Moral zu zeigen in diesen schweren Zeiten. Den einfachen Leuten blieb nicht viel anderes übrig als das Leben so zu nehmen wie es kam und das Beste daraus zu machen. Es war wie François vor Stunden am Rande des Place Blanche gesagt hatte (auch wenn Sébastien sich der Rede seines besten Freundes nicht genau entsinnen vermochte):
Wer nichts mehr zu geben hatte, konnte auch nichts geben. Wer sich in die Ecke gedrängt sah, neigte, sich der unschönen Realität zu stellen. Wenn man nach einem schoss, konnte man entweder christlich sein und sterben, oder an das Wohl seiner Kameraden, Frauen und Kinder denken und kämpfen. Wenn man dazu gezwungen war, sich zu wehren, musste man sich eigenhändig zur Gerechtigkeit verhelfen, auch wenn einem die Wege und Mittel zuwider sein mochten. So hielt Sébastien an seiner Meinung fest, denn Paul Zeidlers Predigt rief zu einem Aufeinanderzukommen auf, dessen Wahrscheinlichkeit und Erfolg in seinen Augen sehr gering schien. Zu sehr waren die Gemüter aller Beteiligten aufgewühlt.

Er massierte sich mit den Fingerspitzen die Nasenwurzel, kniff hinein, um seine Müdigkeit in ihre Schranken zu weisen. Hier in diesem Raum würde es vielleicht in Kürze unruhiger werden. Bisher war Sébastien ein Gast hier, ein stiller Zuhörer, doch er hatte nicht die Absicht, sich zu Wort zu melden oder auf andere Weise einzugreifen – wenn die Situation nicht gerade eskalieren würde.
« Letzte Änderung: 12.09.2013, 14:44:37 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Carl von Lütjenburg

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Une nouvelle ère
« Antwort #21 am: 16.09.2013, 01:03:42 »
"Kanonen werden Ihnen in den engen Straßen von Paris nur wenig hilfreich sein." meinte Carl zu Sébastien und seinem Freund und schüttelte den Kopf "Sie sollten die Dinger lieber loswerden, sonst bringen sie Ihnen am Ende mehr Ärger als Nutzen. Es ist wie Herr Zeidler sagt: Wenn jemand Waffen hat, dann geht man davon aus, dass er sie auch benutzen wird. Man wird demjenigen gegenüber anders auftreten, wir reden hier von Eskalation[1]. Es wird von nun an immer leichter werden Ihrem eingeschlagenen Weg zu folgen, aber schwerer ihn zu verlassen, glauben Sie mir das ruhig."

Carl sagte dies nicht, um die beiden Arbeiter zu überzeugen, es war schlicht seine eigene Einschätzung der Lage. Pauls Einladung hingegen überraschte ihn im ersten Augenblick ein wenig. Zu einem  Pater Grouès sollte er kommen, also in eine Kirche. Damit hatte er nun nicht gerechnet, denn Kirchen und Gottesdienste spielten in Carls Leben bisher eine eher untergeordnete Rolle. Als er das letzte Mal eine Kirche aufgesucht hatte, wollte er heiraten. Dennoch nahm er die Einladung freundlich an, allein die Geste einen gerade noch Fremden so offen einzuladen, machte es unmöglich abzulehnen.
Dann verabschiedete sich Carl von allen und verließ den Platz, wobei er die Gardisten dabei großzügig umging.



Carl hatte sich ein wenig umfragen müssen, um die von Paul Zeidler genannte Adresse finden zu können. So war er einer der Letzten, die sich hier einfanden. Er hatte sich unterwegs ein paar Gedanken zu Paul Zeidler gemacht, die er nun sortieren konnte, während, er darauf wartete, dass es los ging.

Da traf er in den Straßen des belagerten Paris ausgerechnet einen Deutschen, nur damit dieser ihm dann zu verstehen gab, dass ihn seine Heimat nicht mehr interessierte. Das kam Carl schon beinahe komisch vor. Nicht, dass er Paul diese Haltung verübeln würde, hatte er seine eigene Heimat doch auch verlassen und in Preußen eine neue gefunden, dennoch war Carl klar, dass er nicht viel mehr Gemeinsamkeiten mit Paul in dieser Hinsicht teilen würde. Nach den wenigen Worten, die er mit Paul gewechselt hatte, schien es ihm, dass der Mann sich - vermutlich enttäuscht - von Politik und Nationalismus abgewandt hatte und nun hoffte mit dem Glauben, die Welt zum Besseren zu formen. Entscheidend für Carl waren dabei die letzten Worte, die Paul auf dem Place Blanche an sie gewandt hatte. Paul habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich das Blutvergießen vermeiden ließe. Damit würde man vielleicht arbeiten können, denn Carl war klar, dass es ungemein schwieriger werden würde, seinen Auftrag zu erfüllen, wenn er in dieser ihm fremden Stadt auf sich allein gestellt war. Aber ob und - wenn ja - wie er Paul rekrutieren oder zur Zusammenarbeit bewegen könnte war ihm noch nicht klar.

Seine Identität als preußischer Offizier und Diplomat wollte er jedenfalls so schnell nicht preisgeben, denn auch Sébastien und François waren eine mögliche Quelle für Informationen. Er hatte sich bisher als skeptisch, aber nicht vollkommen ablehnend gegeben, einer, der vielleicht noch von der Sache überzeugt werden könnte. Allerdings war schwer einzuschätzen, ob die beiden tatsächlich Kontakte zum Zentralkomitee unterhielten oder ob sie nebenher mitliefen.

Inzwischen hatte Pauls Predigt begonnen und das zuvor allgegenwärtige Gemurmel war verstummt. Zwischen den Anwesenden konnte Carl nun auch Sébastien ausmachen, der etwas weiter vor ihm einen Platz gefunden hatte. Die Predigt schien wohl darauf ab zuzielen, den Zorn der Menschen etwas zu beruhigen und ihnen gleichsam eine Alternative zum Kampf aufzuzeigen. Die Zwischenrufe empfand Carl als verstörend, ja sogar respektlos. War dies in Frankreich so üblich? Aus seiner Kindheit und Jugend, als man ihn noch wöchentlich zum Gottesdienst geschickt hatte, kannte er das anders. Dort war es immer still gewesen und vielleicht sang man einmal ein Lied, aber hier wurde nicht nur dazwischen gerufen, mancher Wortbeitrag grenzte schon an Hohn, so kam es Carl zumindest vor.

Dass der Mensch erst Frieden erfahren könne, wenn auch sein Herz befriedet wäre interpretierte Carl dahin gehend, dass das eigene Handeln aus dem Wunsch oder Willen heraus Frieden zu schaffen, erfolgen müsse. Für ihn als Soldat hieße dies, den Krieg nicht zu führen um den Feind zu schlagen, sondern um eine langfristige Lösung mit der beide Seiten so gut wie möglich Leben konnten zu schaffen. Das ließ Carl an den letzten Krieg an dem er teilgenommen hatte denken. Der Ministerpräsident hatte großen Druck auf die militärische Führung ausgeübt, den Krieg zu begrenzen und Gustav hatte durchblicken lassen, dass es öfters Unstimmigkeiten darüber zwischen Bismarck und Moltke gegeben hatte. Auch im Rahmen der Friedensverhandlungen hatte der Ministerpräsident erfolgreich erwirkt, dass der Kaiser von der Annexion österreichischer Gebiete absah. Freilich war es schwer zu beurteilen ob Österreich aus diesem Grund den Franzosen nicht beigestanden war und es ließ sich auch nur bedingt auf Pauls Predigt übertragen, aber dennoch ging es wohl in eine ähnliche Richtung.

So wie Carl Paul verstand, empfahl er den Menschen ihren Aufstand vollständig sein zu lassen und einen friedlichen, christlichen Weg einzuschlagen. Carl hoffte, dass Paul noch etwas zwingendere Argumente dafür ins Feld führen konnte, erschien es ihm doch schwer vorzustellen, dass die Arbeiter auf diese Weise tatsächlich etwas an ihrer Situation verbessern können würden. Er selbst war der gleichen Meinung wie Paul Zeidler. Selbst wenn der ein Aufstand erfolgreich sein würde, so würde die Zwietracht dem Erfolg auf den Tritt folgen. Doch würden die Anwesenden von der Predigt erreicht werden? Inzwischen konnte Carl verstehen, dass es zwischen den Massen knisterte, die Leute hatten das Gefühl, dass es an der Zeit für etwas war, dass es der Augenblick gekommen war, an dem man etwas bewirken könnte. Wie wohlgeschliffen müssen Worte sein, um diese Stimmung zu durchdringen?

François und Sébastien hatten es ja selbst gesagt: Wer nichts mehr hat, dem kann man nichts nehmen und Carl war klar, dass so jemand auch nichts mehr zu verlieren hatte. Die Aussicht auf mögliche Probleme in der Zukunft schreckten wenig, wenn man sich ansonsten sicheren Problemen und zwar schon jetzt gegenüber sah.

Neben ihm rutschte schon seit einigen Minuten ein junger Mann unruhig hin und her. Seine Mimik kündete davon, dass er nicht mit Paul einverstanden war, oder zumindest nicht bereit war einverstanden zu sein. Gerade wollte er den Mund machen, um Pauls Predigt zu stören, doch Carl fasste ihn fest am Arm: "Dies ist ein Gottesdienst und kein Fischmarkt." zischt er gleichermaßen leise und eindringlich hervor und hielt den jungen Mann so von seinem Vorhaben ab.
 1. Konflikteskalationsmodell

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #22 am: 16.09.2013, 17:19:18 »
Der junge Mann erschreckte sich, als Carl ihn berührte, und starrte ihn mit unverständiger Miene an. Carl erkannte, dass er recht gut gekleidet war und vermutlich dem Bürgertum angehörte. Hinter seiner Stirn schien es für einen Moment zu arbeiten, doch dann überwog der ursprüngliche Impetus. Er stieß Carls Hand zur Seite und stand auf. Er zögerte noch, dann rief er mit schwankender Stimme: "Und wer ist der neue Herr, dem wir nachfolgen sollen? Sind Sie es, Pater? Nein, Sie sind ein hundsgemeiner Verräter, ein Judas - das sind Sie." Er wandte sich an die Arbeiter im Raum, nach Zustimmung suchend. "Einen Teufel werde ich Ihnen nachfolgen! Denn Sie führen uns zurück unter die Knute der Imperialisten und in die Fabriken der Bourgeoisie. Sie sind doch mit denen im Bunde und haben Ihren Anteil doch schon erhalten. Sie versuchen unseren gerechten Zorn mit Ihrem wohlfeilen Gerede zu betäuben. Wie Marx sagte, die Religion ist Opium für das Volk. Doch sie täuschen sich, wenn sie glauben, uns mit Ihren Botschaften vom Friedensreich vertrösten können. Ich sage Ihnen 'was: Eine große Trübsal[1] steht bevor: Denn die Arbeiterschaft ist aufgewacht und hat die Waffen ergriffen. Genau in diesem Moment schmieden die Blanquisten Pläne, das Komitee ganz neu zu besetzen. Unsere Bewegung ist stark und uns eint unsere Vision von Freiheit und Brüderlichkeit, von Gerechtigkeit und Autonomie. Ja, blutig wird der Aufstand sein - aber nur kurz. Dann werden wir ein menschliches Friedensreich errichtet haben. Wir haben viel zu lange auf Ihren Gott gewartet. Jetzt nehmen wir unser Schicksal in die Hand. Die Zeit ist reif". Sein Redefluss brach ab.

Paul atmete sichtbar auf, um sich zu beruhigen. Dann antworte er mit deutlich ärgerlicher Stimme: "Zum Ersten: Ich verkünde mich nicht selbst, sondern ich verkünde den Herrn, dessen Wirklichkeit ich erfahren habe [2]. Jeden Sonntag erfahre ich ihn im Abendmahl und suche seine Wahrheit zu verwirklichen. Aber an Ihnen, mein Herr, ist alles vergeudet, wie mir scheint. Und zum Zweiten: Ich sage mitnichten, dass wir ruhig bleiben sollen. Jeder, der auf die ehrlichen Zweifel seines Herzens hört, soll sich uns anschließen. Wir werden nicht kämpfen, aber wir werden uns auch nicht auf die Seite derer stellen, die im Unrecht sind. Wir erkennen, dass wir den Zorn und den Hass und den Hochmut ablegen müssen. Wir erkennen, dass wir das, was wir für alle Menschen erhoffen erst in uns verwirklichen müssen. So wie der Herr sprach: 'Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen'[3]. Ob Bourgeoise oder General, wir werden jeden behandeln, als das Friedensreich schon jetzt verwirklicht wäre. Wir werden ein Licht sein für diese Stadt und wir werden eine tiefe Sehnsucht in den Menschen wecken. Das ist eine Revolution von unten - aber eine ohne Blutvergießen."
 1. Hinweis auf die Apokalypse - aber gegen Paul gewendet als menschlicher Heilsplan.
 2. Paul nimmt Bezug auf 2. Kor 10,12-17, wo es um die Beurteilung eines Apostels geht. Paulus zitiert Jeremia mit: »Wer sich aber rühmt, der rühme sich des Herrn«.
 3. Mt 11,29
« Letzte Änderung: 16.09.2013, 18:27:25 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Sébastien Moreau

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« Antwort #23 am: 28.09.2013, 23:14:03 »
Angesichts der angespannten Stimmung, die sich auf unerfreuliche Weise mit der schlechten Luft im Raum vereinte, war es wahrscheinlich vorherzusehen gewesen, dass nach den ersten Zwischenrufen weitere folgen würden. Für Sébastien war es wenig überraschend, dass Paul Zeidlers Worte Missfallen hervorriefen, auch wenn es ihn dennoch etwas wunderte, dass einige der Anwesenden sich hinreißen ließen, sie sofort kommentieren zu müssen. Der Rahmen dafür war alles andere als angemessen – jedoch war auch Sébastien nicht bereit, sich mit gutem Zureden vertrösten zu lassen, da das Paris jenseits der Tür nur darauf wartete, befreit zu werden. Der gestrige Tag hatte allen bewiesen, wozu die einfache Arbeiterschaft imstande war, wenn sie nur entschieden und gemeinsam vorging. Es war Blut vergossen worden und der Kampf war noch nicht vorbei, doch ließ Sébastien sich davon nicht abschrecken. Freiheit war niemals umsonst. Freiheit war kostbar. Freiheit kostete Blut – ein Preis, den viele gewillt waren zu bezahlen, und ein Tribut, den so mancher nach einem Leben in Armut und Unterdrückung einzufordern gedachte.

Schwere Zeiten würden auf beide Seiten dieser Revolution – als solche sah es Sébastien – zukommen, aber besonders auf die Menschen, die zwischen diesen Fronten vermitteln wollten. Paul Zeidlers eindringliche Predigt steckte voller bestimmt nur gut gemeinter Worte und Leidenschaft, das musste Sébastien ihm lassen,  jedoch waren Worte, die von Friedlichkeit sprachen, in Ohren von Notleidenden, die sich endlich nach Veränderung sehnten, eher ein Tropfen auf den heißen Stein oder, im Gegenteil, eher ein anfachender Luftzug für schwelende Glut als dass sie das erwünschte Ergebnis erzielten.

Trat in einem Fall wie diesem jemand auf den Plan, der sich lauthals gegen die Beruhigungsversuche aussprach und die ohnehin schon aufgebrachte Menge in ihrem Zweifel bestärkte, konnte die Stimmung schnell kippen. Es war leicht, jemandes Meinung als die eigene anzusehen, wenn sie der eigenen Auffassung ähnelte und man sich aufwiegeln ließ.

Sébastien jedoch drehte sich noch nicht einmal zu dem Mann in seinem Rücken um, der das Wort gegen Paul Zeidler erhob und diesen anfeindete. Er hatte nach wie vor nicht vor, sich einzumischen, sollte es nicht erforderlich sein. Dazu fehlte es Sébastien heute nach dem anstrengenden Kampf und der alkoholreichen, wenn auch stillen Feier zu zweit am Rande des Place Blanche an Energie sowie an Motivation. Außerdem wusste Paul Zeidler, der Gegenrede gut allein die Stirn zu bieten. Doch wie würde sich die Situation noch entwickeln?

Die Worte des fremden Sprechers gingen nicht spurlos an Sébastien vorbei. Obwohl er diesem in den übrigen Punkten nicht zustimmte, war er ebenfalls überzeugt, dass die Zeit reif war, dass das Volk sein Schicksal in die eigene Hand nahm. Sébastien würde kämpfen, sollte es notwendig sein. Dass es notwendig sein würde, hielt er für sehr wahrscheinlich. Er scheute nicht vor dem Gedanken zurück, für seine Ziele und die Zukunft seiner Kinder einzustehen. Dass dies eine Revolution ohne Blutvergießen sein würde, war auszuschließen – denn es war bereits Blut vergossen worden. Paul Zeidler mochte bemüht sein, doch für eine friedliche Lösung des Konflikts war es aus Sébastiens Sicht zu spät. Da würde auch Sanftmütigkeit und Demut einiger Weniger nichts mehr ausrichten können.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #24 am: 10.10.2013, 22:07:29 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:11 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Die Predigt Pauls fand in einem klammen Gebäude statt, welches der Pater Grouès, ein altes und doch geschätztes Mitglied Montmatres für diesen Zweck zur Verfügung stellte. Das mitten in die Rue de Doutes gedrängte Haus war mit grauem, rissigen Rauhputz versehen wurde und diente seit einer Weile für kleine Gottesdienste, obwohl es kein klassisch geweihtes Gebäude war. Es vollführte schon seit Jahren die Funktion einer kleiner Kapelle, obwohl es die Bausubstanz, und schon gar nicht die Akustik, nicht wirklich zuließ[1]. Paul Zeidler kämpfte also nicht nur mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch noch mit seiner eigenen Stimme. Mit der Hitze in dem Raum, dem Lärm der Straße und vor allem mit der Erwartungshaltung der anwesenden Menschen. Durchaus waren die meisten Besucher dieses Ortes Protestanten, was sie zu Pater Groués und Paul Zeidler führte, in einem Viertel der Stadt, welches vor allem katholisch geprägt war. Das hatte an sich nicht viel zu bedeuten, da französischer Katholizismus[2] eine andere, wenn auch existierende Verbindung zum Petrusstuhl hatte. Aber Frankreich kämpfte noch immer seinem tragischen Erbe die Hugenotten betreffend[3]. Diese alten Verwerfungen waren im Alltag nicht an der Sache spürbar und doch begegnete man Protestanten doch häufig mit gewissen Ressentiments. Die katholische Kirche erlebte in Frankreich in den Zeiten der Kreise sogar eine gewisse Renaissance, wie zuletzt die Marienerscheinungen der Bernadette Soubirous[4] im Jahr 1858 und der folgende Ansturm der Wallfahrer auf Bernadettes Heimatort Lourdes[5] bewies. Diese Gefühl des Aufschwunges bekamen auch realen oder auch nur gedachten Feinde der katholischen Kirche zu spüren. So erklärte sich, warum Paul Zeidler nicht in einer Kirche predigen konnte, und warum diese Veranstaltungen sogar mit gewissen Argwohn betrachtet wurden[6]. Paul Zeidler kämpfte somit also nicht nur gegen den Lärm, gegen die Hitze, mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch gegen Neider, katholische Missionare, die kritischen Stimmen wider den Protestantismus und dann gab es eben noch jene Bürger auf den Straßen, die Sakristei[7] und Straße getrennt sehen wollten, eine Position, welche sich im Antiklerikalismus[8] eben auch in den protestantischen und katholischen Strömungen fand. Die wenigsten mochten auch nur erahnen, von wie vielen Parteien und Konfliktfeldern Paul Zeidler sprach, wenn er dazu aufrief, seine Feinde anzunehmen.

Der Raum war klassisch schmucklos, wie es in vielen protestantischen Häusern der Fall war, die sich in stark reformatorischer Traditionen sahen und sich den kunsthistorisch katastrophalen, aber reformatorisch sehr konsequenten Bilderstürmen[9] verbunden sahen. Pater Groués war ein solcher Ikonoklast[10], der die Sprache und das Wort Gottes in den Vordergrund stellte und nicht die sinnliche Verführung durch Bilder. Weiße Wände wurde in einen Kontrast gesetzt durch die dunklen Holzstühle und Holzbänke, die aufgestellt wurde. Ein Kruzifix hing an der Wand, welche die Besucher hinter Paul Zeidler anstarren mochten, darunter der einfache Holztisch mit einer aufgeschlagenen, großen und unhandliche Ausgabe der Heiligen Schrift. Es roch nach Suppe, nach Schweiß und feuchtem Gemäuer. Von draußen schwappten die Geräusche des endenden Tages herein. Sich unterhaltende Menschen, vorbeiratternde Kutschen. Irgendwo spielten in der bereits eingetretenen Dunkelheit Kinder und schrien vor Vergnügen und hier und da auch vor Ärger. Und auch der Raum selbst, der nur den Ausgang und drei geschlossene Türen vorwies und wohl eigentlich einst die Ausstellungsfläche eines Ladens gewesen war, bebte in dieser beinahe greifbaren Unruhe. 30 oder 40 Personen wären in diesem Raum schon zu viele gewesen, heute mochten vielleicht um die 60 oder sogar 70 Besucher zur Predigt gekommen sein. Die Nähe, die schiere körperliche Nähe, sorgte für Unwohlsein und Anspannung. Paul kam nicht umher zu registrieren, wie misstrauisch die Anwesenden sich beäugten. Wer war alter Republikaner? Thiersfreund? Wer war vielleicht sogar Katholik? Paul sah sogar an der Tür zum Ausgang einen Mann stehen, der fleißig mitschrieb in seinem Notizblock. Er trug einen schwarzen, schweren Mantel und nur die offene Tür mochte ihm vor dem Schicksal des unaufhaltsamen Schweißflusses retten. Wenn er nicht gerade schrieb, stützte er sich auf einen schweren Regenschirm. Seine Kleidung war monochrom, und komplette schwarz. Vom schweren Wollmantel über die Anzughose, die schwarzen Lederschuhe und sogar der Hut war in dieser Farbe. Nur von einer weißen, künstlichen Feder, deren Außenfahne in ein dunkelgrün überging. Jene umstrittene Hutform, die der gebildete, mitteleuropäische Revolutionär als Kalabreser[11] kannte, war auch im Gebäude auf seinem Haupt platziert. Er strich über seinen blonden Schnauzer und beobachtete die Worte und Widerworte, als hätte er diesen unnachgiebigen Drang sich selbst zu beteiligen. Nach einer Weile schüttelte er sich, als würde er sich selbst aufraffen müssen und brachte sich schließlich selbst in das Gespräch ein.

"Cher Pére, verzeiht meine Einmischung.", begann der Mann, der von beeindruckendem Wuchs war. Er überragte die meisten Besucher um einen halben Kopf. Er nahm den Kalabreser ab, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass es sich nicht ziemte in einem Haus den Hut aufzubehalten, wobei blondes, gescheiteltes Haar zum Vorschein kam. "Obzwar die Ihnen an den Lippen hängende Menge es nicht zu formulieren vermag, gibt sie Ihnen recht. Die Grundannahme des Christentums ist die Fehlbarkeit des Menschen. Die Angst vor der eigenen Sünden und noch mehr die größere Furcht vor der fremden Sünde wider einen selbst lässt sie nur einfach an Ihrem sehr bewegenden Ausweg zweifeln. Selbst das Christus für unsere Sünden starb, so die Erwartung der Versammelten, hat uns nicht dazu bewogen, als Ganzes, wenn gleich auch Einzelne, wie Ihre Person, das Wesen der Sünde besser zu verstehen oder gefeiter vor der Sünde zu sein." Sein Franzosisch war akzentlos. "Sie können wohl nicht mehr von diesen armen Seelen verlangen, Pére. Sie leben das Ideal der Brüderlichkeit so viel mehr als die christlichen Priester, unabhängig ob Katholik, Protestant oder Anglikaner, ob Missionar oder Eremit, in ihrer Umgebung. Auch hier sind Sie eine willkommene Ausnahme, Pére. Aber wieso fordern Sie von ihnen, die schon so leben, soweit es ihre Kraft zulässt, ihr Hunger und ihre Sorge es zulässt, dass sie ihre Feinde annehmen? Sie, die sie sogar von ihren Freunden der Republik ausgenommen werden? Sicher müssen sie einen Schritt auf ihre Feinde zugehen, aber dieser muss auch ihnen entgegenkommen. Aber die selbsternannten Herren dieses Landes und dieser Stadt sind jedoch keine Citoyen[12], so schön diese Vorstellungen ist, sondern sie sind die Bourgeoisie[13]."

Ein Gemurmel ging durch die überfüllten Raum. Der aufgetauchten, schwarz gekleidete Mann bediente augenscheinlich Stichworte, Schlagworte, die in jedem Stammtisch der Stadt Paris im Moment Verwendung fanden und dementsprechend nun wie glühende Scheite zwischen den Besuchern der Predigt lagen. Das Gemurmel nahm noch keine Überhand. "Keiner von uns ist so unchristlich im Sinne, wie Dante es in seiner berühmten Komödie beschreibt, also so unchristlich, dass er die Zukunft vorherzusagen wagte[14]. Aber der Zweifel an dem Erfolg, wenn wir alleine den Frieden predigen und nach ihm leben, sei erlaubt, Pére. Frieden ist eine kulturelle Konstruktion und kein Naturzustand. Frieden ist etwas, was mit Stärke erhalten werden muss. Doch wenn der Schwache sich nicht wappnet, kann er keinen Frieden leben. Er wird ausgenutzt werden. Liegt darin nicht das furchtbare Schicksal von uns Proletariern? Wir wollen doch nur Frieden. Wir wollen doch nur, dass unsere Familien nicht verhungern. Dass aus unseren Kindern etwas wird. Dass wir neben den Krankheiten, der vielen Arbeit, den schweren Kohledämpfen der Fabriken auch etwas Sonnenlicht und Hoffnungserfüllung erleben dürfen. Und weil wir diesen Frieden immer wollten, weil wir den Konflikt gescheut haben, hat die Bourgeoisie doch erst uns so sehr ausnehmen können. So wie die falschen Priester des Katholizismus uns einst ausgenommen haben, tun es nun die Priester des Kapitalismus!" Seine Stimme war immer energischer geworden und sein Gesicht verzog sich jetzt. "Sie halten uns im künstlichen Zustand ihres Friedens, nicht unseres Friedens! Und darin liegt das furchtbare Schicksal gegen das wir uns erheben müssen. Erst wenn wir durch den Klassenkampf die Diktatur des Proletariats[15] errungen haben, der Arbeiter also die Herrschaftsstruktur unserer Gesellschaft durchbrochen hat, und er den Frieden dann aus seiner neuen Stärke will, kann es wirklich einen Frieden für den Arbeiter und damit für ein Gros geben! Friede ist eine Absicht von Stärke. Ebenso wie Gnade ein Zeichen von Stärke ist. Doch wir sind in einem Zustand der Schwäche. Wir sind, wie Ihr sagtet, Pére, in einem Zustand, dass wir momentan nur einen gemeinsamen Feind haben, und doch noch uneins sind. Doch Paris wird ein Fanal sein. Zeigen, dass die Arbeiterschaft über einen Aufstand hinaus zusammenhält. Aus diesem Aufstand aus ein paar Kanonen wird eine Revolution einer Stadt werden und dann wird es darüber hinauswachsen. Denn der Arbeiter entdeckt langsam seine Stärke. Sein Verstand, so ungebildet der Träger dessen auch manchmal sein mag, lässt ihn das zunehmend erkennen. Dazu brauch er keinen Hirten, der ihn weiter zum Schafe hält."

Jetzt nahm das Murren überhand. Der junge Mann neben Carl von Lütjenburg brüllte wütend auf und sprang auf. Er fühlte sich von dem Unbekannten bestärkt. Seine Faust reckte er hoch über den Kopf. Er rief die dieser Tage so häufig gehörten Schlagworte. "Liberté, Égalité, Fraternité"
Paul erkannte, dass so mancher, der sogar häufig seinen Predigten zuhörte, merklich, fast enttäuscht den Worten des Unbekannten Beachtung schenkte. Viele fühlten sich als friedliche Bürger, die ausgenutzt und verachtet wurden, obwohl sie einfache Männer, Familenväter oder Mütter waren und einfach auf ein zufriedenes Leben hofften. Die Kommunisten und Sozialisten dieser Tage musste nur noch ernten. Pauls Aufgabe der Vermittlung war viel schwerer. Diese Saat musste scheinbar noch gesät werden. Paul spürte, wie die Stimmung langsam aber sicher kippte. Er sah an einer Tür den alten Pére Groués stehen, wie er sich mit einem Taschentuch die Stirn tupfte und selbst betrübt reinschaute. Sein Blick schien zu sagen: Wie konnte es soweit kommen, dass die Kommunisten einen in seinem eigenen Haus anfeinden?
Carl, Sebastién und Paul sahen, wie immer mehr Sitznachbaren in ausgiebigen Disput übergingen, welcher nicht immer von vorsichtiger Wortwahl geprägt war, sondern von Beleidigung und der gereckten Faust des Unmutes. Die Stimmung wurde nun eine explosive Mischung, alles was noch fehlte, war ein einzelner, unglücklicher Funke...
 1. Das ist im katholischen Frankreich nicht unüblich gewesen, dass Protestanten an heimlichen oder unscheinbaren Orten predigten, welche le désert („Einöde/Wüste”) genannt wurden. Eine weitere Erklärung siehe in der übernächsten Fußnote.
 2. Kurzer Absatz zur katholischen Kirche in Frankreich
 3. Gemeint ist hier im Speziellen die Pariser Bluthochzeit, besser bekannt als Bartholomäusnacht - Allerdings hat Frankreich ein sehr problematisches Verhältnis zum Protestantismus durch die Neuzeit. So wird 1598 im Edikt von Nantes Katholizismus als Staatsreligion festgelegt, Protestantismus aber grundsätzlich wieder erlaubt, was sich aber mit dem Edikt von Fountainebleau 1685 wieder ändert, und welches den Protestanten ihr kirchliches Existenzrecht in Frankreich nahm und weitreichende Folgen hatte für ganz Europa. Die kulturelle Erinnerung ist bis heute in Frankreichs Umgang mit Religion spürbar.
 4. Bernadette Soubirous
 5. Lourdes
 6. Siehe Pauls Intergrund in Bezug auf die Zeitungsberichte zu der Sekte Projekt Exodus. Unter Umständen haben eure Charaktere davon gelesen.
 7. Sakristei
 8. Antiklerikalismus
 9. Reformatorischer Bildersturm
 10. wörtlich bedeutet es: Bildzerstörer
 11. Heckerhut
 12. Citoyen
 13. Bourgeoisie
 14. Das ist ein Bezug auf Dante Aligheris berühmte Göttliche Komödie, in der immer das Ideal des Contrapasso gilt, oder was wir besser als poetic justice kennen. Für jene, die wagen, die Zukunft vorhersagen zu wollen gilt also: "for example, fortune-tellers have to walk with their heads on backwards, unable to see what is ahead, because that was what they had tried to do in life."
 15. Diktatur des Proletariats
« Letzte Änderung: 10.10.2013, 22:22:17 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #25 am: 21.10.2013, 17:11:21 »
Sébastien hatte sich bisher zurückgehalten, denn er hatte sich wirklich nicht in den aufkommenden Disput einmischen wollen. Nicht nur allein des Respekts gegenüber der Rahmenbedingung einer Predigt wegen, sondern auch weil er Paul Zeidler für dessen Hilfe dankbar war und sich (was im Grunde genauso viel Gewicht hatte wie diese beiden Punkte zusammen) Sébastiens körperliche und geistige Verfassung vom Alkoholrausch noch nicht erholt hatte. Der Schmerz pochte nun sogar noch mehr durch seinen Schädel, da die versammelte Menge immer aufgewühlter wurde und sowohl der Lärmpegel derjeniger, sich mit ihren Sitznachbarn unterhielten, als auch derjeniger, die laut zu allen sprachen, ein für Sébastien beinahe unerträgliches Maß annahmen.
Er selbst rutschte unruhig auf seinem Sitzplatz herum, während er die Worte des Fremden mit dem Kalabreser vernahm und seine eigene Entschlossenheit, sich nicht einzumischen, mehr und mehr bröckelte. Die Rede des Mannes stachelte Sébastien an, so wie sie die Menge anstachelte, und so rieb er sich seine schwitzigen Handflächen an seiner Hose ab und erhob sich, nachdem der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch den stickigen Raum gehallt war.
Zu schnell, denn Schwindel überkam ihn.
„Recht haben Sie, Monsieur!“, versuchte Sébastien, die murrende und diskutierende Menge zu übertönen, und nickte seinem Vorredner mit dem Kalabreser zu. Er beabsichtige, frei heraus seine Meinung zu sagen, so wie er es fast immer zu tun pflegte.
Im ersten Moment noch leicht wankend stand er da, seinen Schwindel zumindest im ersten Ansatz überwindend, bevor er weitersprach. Sébastiens Erscheinung zeugte von dem Kampf, den er Seite an Seite mit seinem besten Freund François bestritten hatte, denn sein Gesicht war noch blau und geschwollen und die verkrusteten Verletzungen an seinen Fingerknöcheln waren zu sehen, als er sich beim Sprechen gestikulierend den Anwesenden zuwandte.
„Der gestrige Kampf war erst der Anfang von etwas Großem“, war er übezeugt. „Viel zu lange hat unsereins die Unterdrückung hingenommen und das Leid. Wir einfachen Leute, wir haben nicht viel, doch wir haben einander. Wir sind vereint in dem Wunsch nach einem besseren Leben – einem guten Leben – für uns, unsere Frauen und unsere Kinder. Es gibt nicht einen unter uns, der nicht unter dem Krieg gelitten hat und unter der Belagerung durch die Preußen, sei es durch verlorene Liebste, Nachbarn und Freunde oder durch Krankheit und Hunger, den man am eigenen Leib gespürt hat. Dennoch haben wir weitergemacht und geschuftet, es blieb uns ja keine andere Wahl. Wir haben uns unsere Existenz hart erarbeitet und dies hier: es ist nichts anderes. Schon unsere Vorfahren haben Unrecht und Ungleichheit erlebt und sind dagegen angetreten. Wer, wenn nicht wir Pariser, soll wissen, wie man Barrikaden errichtet und in den Straßen kämpft? Ehrliche Männer und tapfere Frauen haben Blut und Leben gelassen, in den Revolutionen, die es bereits gab, und dieser Preis mochte ein hoher gewesen sein, doch der Gewinn war umso größer. Warum soll nicht auch dies eine Revolution sein? Die Geschehnisse des Krieges verlieren an Bedeutung, wenn wir unsere Augen öffnen und den eigentlichen Feind in unseren Landsmännern sehen, die unsere Brüder sein sollten, doch uns stattdessen zu ihren Füßen kriechen lassen. Nicht Gott macht die Welt zu einem ungerechten Ort, sondern die Menschen, die in ihr leben, und so können es auch nur die Menschen sein, die wieder für Gerechtigkeit sorgen! Frieden – wahrer Frieden – kann nur mit Feuer erkauft werden, denn es ist wahrlich der Frieden, den wir uns ersehnen, den die Bourgeoisie fürchtet und bekämpft. Seht, sie wollten uns die Kanonen nehmen, die wir gerettet haben, damit wir sie nicht gegen sie verwenden! Sie fürchten sich vor uns und dem Klassenkampf, weil sie wissen, dass wir viele sind und der Erfolg uns deswegen beschert sein wird, wenn wir erst einmal nicht mehr uneins sind!“
Fast war es Sébastien so als würde nun er eine Predigt halten. Er war kein sonderlich gebildeter Mann und es auch nicht gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, doch für sein Anliegen fand er immer geeignete Worte, die er äußern konnte. Die Menge war aufgebracht und er war sich bewusst, dass er die Situation nicht besser machen würde. Doch es gab Dinge, die ausgesprochen werden mussten. Es gab Dinge, die getan werden mussten.
„Ich war dort, auf dem Place Blanche“, fuhr Sébastien nach einer kurzen Pause fort. „Ich habe zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern den Feind in die Flucht geschlagen.“
Nun blickte er Paul Zeidler an, auch wenn seine Worte noch immer für alle gedacht waren.
„Sagt Ihr mir, Pater, dass es eine Sünde ist, das, was mir lieb und teuer ist, zu schützen – sollte es nur mein eigenes Leben sein, wenn man auf mich schießt? Soll ich demjenigen, der mit dem Bajonett nach mir sticht, versuchen, in Freundschaft die Hand zu reichen, selbst wenn ich mich dadurch bewusst in Klinge und Tod stürzen und meine Familie in Trauer und Hunger zurücklassen würde? Das Friedensreich ist ein schönes Konzept, Pater, doch wenn man mit Waffengewalt auf mich zugeht, kann ich nur weichen, was ich nicht mehr will, oder mich wehren, was ich gestern getan habe und auch heute und morgen tun werde, sollte ich mich dazu gezwungen sehen. Dabei sind es seltener die offensichtlichen Waffen, mit denen die Bourgeoisie die Arbeiterschaft im Zaum hält. Es ist das Geld, das sie hat und das uns fehlt, die harte Arbeit, die wir verrichten, während sie sich amüsieren, und es ist der Hunger, den unsere Kinder leiden, den sie aber nicht kennen. Diesen Zustand können wir nur ändern, indem wir uns erheben! Geld und Macht sollte nicht denen gehören, die sich auf Kosten anderer noch reicher und noch mächtiger machen, während die besagten anderen, wir, betonte er, „immer weiter ins Elend rutschen!“
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #26 am: 23.10.2013, 21:02:09 »
Paul wurde ein wenig schwindlig. Zu seiner Erregtheit mischte sich Nervosität und so etwas wie diese Unsicherheit, die man für gewöhnlich vor einem öffentlichen Auftritt hat[1]. "Kann man den nach Beginn eines Auftritts noch nervöser werden?", fragte er sich beiläufig. Er konnte nicht sofort antworten, starrte in die Menge, um weitere Worte ringend. Er wollte sich nicht die Blösse geben, unbedacht oder töricht in seinem Eifer und seiner Nervosität zu antworten. Er richtete seinen Blick durch das geöffnete Fenster und erhaschte einen Blick zum Himmel.

"Großer Gott! Hier steht Dein demütiger Diener. Mich treibt nichts anderes als Dein Wort und meine Liebe zu meinen Brüdern. Mir gehen die Worte aus, darum - bitte - schenke mir Deinen Geist und lasse mich nicht zuschanden gehen. Amen." betete er[2].

"Liberté, Égalité, Fraternité", sprach Paul laut die Schlagworte aus, um die Aufmerksamkeit der Masse wieder zu erhalten. "Ohne es zu bedenken, sprechen sie diejenigen Werte aus, die genau so unwahrscheinlich sind, wie das Streben nach dem Gottesreich. Ich möchte sie erinnern, dass es die Worte der Revolution von 1789 waren. Erinnern Sie sich, was passiert war. Erinnern Sie sich an den Schrecken der Revolution. Damals war das einfache Volk aufgestanden, um gegen die Feudalherren zu kämpfen. Und sobald die Revolutionäre einen echten Vorteil erstritten hatten und sich die Frage nach Neugestaltung stellten, da wurde die Uneinigkeit der Revolutionäre offenbar. Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit ließen sich nur herstellen, indem jeder hingerichtet wurde, der diesen Zielen im Wege stand. Sie kennen die Bilder, sie haben sie nicht selbst gemacht, aber sie sind fest eingebrannt in ihr Gedächtnis. In Paris zerbrach das Fallbeil unter den vielen Genicken. In Nantes wurden in wenigen Wochen hunderte in der Loire ersäuft. Und in Lyon haben die Verurteilten erst ihr eigenes Grab schaufeln und sich dann in einer Reihe aufstellen müssen, bevor sie von einer Kanonenkugel zerfetzt wurden. Die Geschichte hat es gezeigt, also werde ich Ihnen sagen, dass Sie auch in den kommenden Wochen hunderte von ihren Brüdern und ihren Mitstreitern niedermetzeln müssen - das heißt, wenn Ihr Aufstand nicht sofort wieder von den Truppen vor der Stadt niedergeschlagen wird. Kommen sie mir also nicht mit diesem hanebüchernen Unsinn, dass nur wenige sterben werden und auch nur von denen, die es wirklich verdient hätten. Das Blut wird nicht mehr von Paris' Straßen abzuwaschen sein. Auch diese Zeit kennt ihre Robespierres, ihre Carriers und ihre Fouches.[3]"

"Monsieur, Sie werden jetzt sicherlich einwenden wollen, dass die Französische Revolution die Ständeordnung abgeschafft und Rechte der Menschlichkeit errungen hätte. Ich widerspreche Ihnen da gar nicht. Doch was sind das für Rechte? Geht es den unteren Leuten nun besser? Wenn dem so ist, was wollen Sie alle hier? Sie sprachen es selbst an, Monsieur, von Natur aus ist es ein Krieg aller gegen aller.[4] So heißt es auch in der Bibel. In der Genesis steht geschrieben: 'dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar'[5]. Darum sage ich, die Lösung liegt nicht darin, dass ein Rechtsstaat über den Menschen kommt, welches jede Boshaftigkeit durch Gesetz und Strafe erstickt. König Salomon war mit aller göttlichen Weisheit nicht im Stande, die Boshaftigkeit der Menschen zu unterdrücken. Und das mosaische Gesetz konnte es mit seiner drakonischen Härte auch nicht. Also, wenn sie das vollendete Reich Gottes auf Erden wollen, dann geht das nur durch das menschliche Herz."

"Also lassen sie unser Herz neu ergründen. Wir sehen die Notwendigkeit vor uns. Ich bin zutiefst von dem Elend und der Not betroffen. Mein Herz blutet, wenn ich das Leiden sehe. Doch ich lasse mich nicht zur Boshaftigkeit hinreißen. Ich will aufstehen und helfen, mit dem, was ich geben kann. Und ich will meine Stimme laut werden lassen gegen jede Ungerechtigkeit, egal wen sie trifft. Besser als Ungerechtigkeit zu tun, ist es, Ungerechtigkeit zu leiden, sagen die Philosophen. Ich aber sage Euch[6]: Wenn Ihr eintretet für Eure Brüder und gemeinsam die Ungerechtigkeit anklagt, dann wird das Gottesreich zu Euch kommen. Ich habe den Traum, dass das ganze Paris aufsteht und sich vor die Fabriken stellt und sagt: 'Für eine unwürdige Existenz arbeite ich auch nicht'. Wie viele wollen sie entlassen? Und wer wird für sie arbeiten? Wir wollen sehen, wie schnell die Löhne ansteigen werden. In der Zwischenzeit werde ich mein möglichstes tun, um die Brüder mit Essen zu versorgen. Und ich hoffe, dass sich viele anschließen werden. Ich träume von einer neuen Brüderlichkeit."

Dann wandte er sich dem jungen Franzosen erneut zu. Seine Frage war nur allzu verständlich, doch Paul war es nun wichtig um das Prinzip. Im fiel eine Pointe ein und er sagte: "Und was soll ich zu ihrer Frage sagen? Im Krieg gibt es keinen Soldaten, der gerecht wäre. Ein jeder, der am Krieg teilnimmt, macht sich des Hasses auf seinen Bruder schuldig. Ihr habt gehört, Ihr sollt nicht töten! Also frage nicht, was zu tun sei, wenn das eigene Leben bedroht ist. Lauf davon, Du Narr! Wenn Du aber nicht davonlaufen kannst und es entweder Dein Leben ist oder das des anderen, dann verteidige Dich - und hoffe auf die Gnade Deines Herrn, denn Du hast Dich versündigt. Rechne aber auf eines nicht, wenn Du eines Tages vor dem Richtstuhl stehst. Rechne nicht damit, dass Du gerecht gesprochen wirst, wenn Du Dich in Not in einem Krieg verteidigst, denn Du selbst gewollt und selbst begonnen hast. Denn Notwehr gibt es in einem gewollten Krieg nicht. Zwei Wege liegen vor Dir - einer zum Unheil. Wähle mit Bedacht."
 1. Gemeint ist Lampenfieber. Aber das Wort dürfte es zu dem Zeitpunkt noch nicht gegeben haben.
 2. Wurf auf Führungsqualität: Überirdisches Ergebnis (+10)
 3. Bedeutende Gestalten der Französischen Revolution, die mittelbar oder unmittelbar mit Massenexikutionen in Verbindung gebracht werden konnten.
 4. Paul hatte die Äußerungen des Kalabresers so verstanden, als dass er sich an Hobbes' Leviathan anlehnten. Er nimmt das Argument auf
 5. Gen 6,5
 6. Hier und auch im nächsten Absatz lehnt sich die Form an die Bergpredigt in Mt 5-7 an. Jesus legt das Gesetz aus, indem er mit den Worten "Ihr habt gehört" auf bekannte Normen des Jüdischen Gesetzes zurückgreift und sie, eingeleitet durch die Worte "Ich aber sage Euch", radikalisiert.
« Letzte Änderung: 24.10.2013, 13:32:01 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Carl von Lütjenburg

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Une nouvelle ère
« Antwort #27 am: 25.10.2013, 22:08:00 »
Carl hielt unwillkürlich die Luft an, als der Mann mit dem Kalabreser geendet hatte und beredtes Schweigen von Paul Zeidler zu vernehmen war, so dass ein weiterer Franzose das Wort ergriff - es war Sébastien, vom Place Blanche. Dennoch behielt er den alten Prediger weiter im Auge, der scheinbar etwas brauchte, um sich einen Plan zurecht zu legen.

Sébastien hingegen hatte sich inzwischen heiß geredet und sprach nun in flammendem Pathos, dabei in die gleiche Kerbe wie der Hutträger hauend, die Menschen auf das, was vor ihnen läge, einschwörend. Der junge Mann, war ein gutes Beispiel dafür, dass ein Arbeit nicht zwangsläufig dumm, ungehobelt und ungebildet sein musste. Doch sein Vorredner stellte Sébastien trotzdessen deutlich in den Schatten. Der schwarz Gewandete schien sehr gut zu wissen wovon er da sprach und seine Worte schienen viel eher die eines Politikers oder Diplomaten als die eines Arbeiters zu sein. Auch das, was er sagte, war bemerkenswert: Dantes Divina Commedia, eine gewisse Einsicht in die christliche Glaubenslehre und dennoch sah er sich offensichtlich ebenfalls als zum Proletariat zugehörig. Auftreten und Kleidung des Mannes standen in so krassem Gegensatz zu dem Gesagten, dass sich Carls Argwohn zu rühren begann[1]

Beide Männer sprachen vom Frieden und vom Kampfe und das Frieden nur durch Kampf herbeigeführt werden könne. Carl wusste als Soldat nur allzu gut, dass man Frieden durch Kampf erzwingen kann, doch war dies die einzige Möglichkeit? Vor etwas mehr als sieben Jahren hatte er selbst miterlebt, dass auch andere Wege beschritten werden konnten, mochten sie nun redlicher sein oder nicht. Doch was war Frieden an sich wert, wenn es unklar ist, ob er von Dauer sein wird?
Wenn man die Gedanken des Schwarzen weiterspann, würde Frieden für eine längere Zeit keine Rolle spielen. Paris solle ein Fanal sein, die Revolution solle mit dieser Stadt nicht enden. Sprach dieser Mann für das Zentralkomitee und war er vielleicht Teil desselben?

Inzwischen hatte Herr Zeidler wieder das Wort erhoben. Offensichtlich hatte er seine Worte mit Bedacht gewählt, zumindest Carl hatte den Eindruck, dass Paul die Argumente seiner Gegner präzise aufgriff und demontierte. Und was er sagte war nicht so einfach von der Hand zu weisen. Die Frage nach dem Erfolg der letzten in Verknüpfung mit der Notwendigkeit der - vielleicht - bevorstehenden Revolution ließ Carl beinahe bejahend nickend.
Doch so schwer es den Revolutionären falle würde dieses Argument zu entkräften so schwer würde es Herrn Zeidler fallen, seine Ideen als wahrscheinliche Alternative anzupreisen. Zu zwingend war es oftmals im Leben, als dass man stets handeln konnte wie man denn wollte. Weglaufen kam für Carl natürlich niemals in Frage, aber ungeachtet dessen, war es an sich selten eine gute Lösung. Und wie viele Männer hatten schon Einfluss auf einen Krieg, wenn sie ihn denn wollten. Carl hatte es einmal in der Hand gehabt und sich für den Krieg entschieden. Wenn er Paul glauben würde, dann würde ein Gott bald über diese Tat urteilen. Aber was würde dieser zu den anderen Kriegen sagen? Wenn Carl einfach gegangen wäre, würde kein Gott sondern ein Kaiser über ihn richten. Der Gott war weit weg und vielleicht eine Spekulation, aber der Kaiser war gewiss. Welche Wahl hat der Soldat im Felde also? Und wie viele Soldaten töten schon aus Hass auf den Feind? Das ist vielleicht zu Beginn der ersten Schlacht so, doch früh genug geht es vor allem darum zu Überleben. Töte den Anderen oder er tötet dich. Was Paul verlangte war nicht mehr und nicht weniger, als dass alle Soldaten in die Luft schießen sollten, darauf vertrauenden, dass die Männer der Gegenseite es genauso halten würden.

Doch Pauls Vorschlag war keinesfalls ein Weglaufen, sondern eine Veränderung der Strategie. Gewaltloser Widerstand, der allerdings eine viel stärkere Mobilisierung der Arbeiter erforderte. Der Teil, der momentan zum Kämpfen bereit war umfasste sicherlich nicht die Gesamtheit der Arbeiter Paris. Viele mochten sympathisieren, aber aus den verschiedensten Gründen nicht auf die Straße gehen und sicherlich gab es auch jene, die anderer Meinung waren. Für eine Massenarbeitsniederlegung, mussten jedoch so gut wie alle Arbeiter erreicht werden, schätzte Carl. Auf die eine oder auf die andere Weise, es schien als würde es in Paris sehr bald noch wesentlich unruhiger werden, als es jetzt schon war.
 1. Gespür: +3 (gut)

Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #28 am: 30.10.2013, 00:06:41 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:16 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Die Stimmung war aufgeheizt. Viele Menschen an einem zu kleinen Ort, die Geschehnisse der letzten etwa dreißig Stunden spiegelten sich in den Gesichtern, in den Augen, in Gestik und in Wort. Es war ein chaotischer Haufen, der dort zusammengetreten war und der sich unterschiedlichlichen Ansichten anhängig fühlte. Kurz schien der Mann mit dem Kalabreser diesen gemeinsamen Funken, der sie alle unter den geflügelten Worten zu verbinden schien, entzünden zu können, doch ehe sich die Ereignisse überschlagen konnten, ehe dieser Funke in ein Feuer übergehen und sich in der Stadt verteilen konnte, schritt Paul Zeidler mit seinen Worten ein. Verblüfft über die Wortgewandtheit des Mannes, verstummten die meisten Störenfriede plötzlich und nahmen, wie zur Ordnung gerufen, wieder Platz. Die vielen kleinen Streitgespräche verstummten, und alle hörten den Worten des charismatischen, alten Mannes zu.

Lediglich ein anderer alter Herr mit kurzem, fein rasierten Bart und einer grauen Baskenmütze in der Hand, stützte sich, vom Alter gebeugt, auf seinen Stab. Er kraulte seinen kurzen Bart und profitierte davon, dass nun Ruhe in den großen Raum eingekehrt war, da seine Stimme ebenfalls vom Alter belegt war. Seine Augenlider waren fast geschlossen und hingen schlaff herab, ließen seine braunen Augen wie kleine, kaum sichtbare Knöpfe wirken, Gesicht war von Altersflecken gezeichnet. Seine kräftige Nase und sein Akzent ließen ihn als Südfranzosen erkennen. Wahrscheinlich kam er ursprünglich aus der Gascogne[1]. "Der geehrte Pére hat wohl recht.", begann er zögerlich. "Ich bin kein Mann vieler Worte und lediglich ein alter Fischer, aber wohl bin ich so alt, dass Napoleons Ende als kleiner Junge erlebte[2] und anhand meiner Eltern erlebte, wie die von ihnen geliebte Revolution von einem Gewaltherrscher ausgenutzt wurde. Dann war ich jung und töricht und war bei der Februarrevolution[3] dabei, hatte ich doch den Veränderungswillen meiner Eltern geerbt." Er lachte leicht auf, als würde er sich an eine Anekdote erinnern und als würde ihm seine Naivität gerade auffallen. "Dann ist, nein hat, Napoleon III.[4] sich dieser Revolution bemächtigt und den an sich friedlichen Bürgerkönig Louis-Phillipe[5] ersetzt, mit blanker Hand und mit eiserner Hand hat er uns in Niederlagen geführt. Ich teile die Befürchtung, dass auch dieses Mal sich die falschen Männer, jene mit dem gefährlichen Ambitionen, sich an die Spitze der Revolution setzen und die schönen, so traumhaft schönen Ideale durch die persönlichen Wünsche überambitionierter Männer untergraben. Das ist doch leider das Schicksal rein politischer Ideen."
Zustimmendes Gemurmel, die Revolutionsgeschichte Frankreichs wurde von manchem glorifiziert. Für einen Moment wurde dies deutlich in diesem Raum. Paul, der die Gräuel der Revolution selbst schilderte und der alte, namenslose Fischer, der darauf verwies, wozu die letzten beiden Revolutionen wurden. Europas Revolutionäre träumten von den französischen Revolutionen. Wusste sie, was sie da träumten?

Der Mann mit dem Kalabreser verzog das Gesicht, als die Stimmung sich nach den eindrucksvollen Worten gegen die Revolutionäre im Raum drehte. Die Worte Paul Zeidlers gefielen ihm ganz und gar nicht und der Argwohn war ihm deutlich im Gesicht abzulesen, dennoch bewahrte er eine gefasste Stimme. "Chapeau, cher Pére! Sie sind ein typischer Teutscher. Nur die Teutschen führen die Geschichte so meisterlich als politische Argumente, ohne die Historie zu verstehen. Wie sagt man so schön: Historisches Denken macht aus Zeit Sinn. Wie gern wird dies genutzt, gerade von Christenmenschen, einen religiösen Sinn darin zu sehen. So werden diese empfundenen und vielleicht tatsächlichen Katastrophen als Aufforderung zu Buße und Einkehr verstanden. Im Horizont christlicher Heilsgeschichte werden diese Erfahrungen, dass die gewohnte Welt aus den Fugen gerät oder in Revolution versinkt, gerne als Anzeichen künftigen Heils, der Wiederkehr Christi und der Einrichtung einer neuen und besseren Welt gedeutet, oder? Diese widerfahrenen Schicksalsschläge, diese erlittene Zeit, soll so geistig bewältigt, dieses durchlebte Leiden derart ausgehalten und das Leben mit neuem, christlichen Sinn gefüllt werden. Ja, Pére, wir haben ihre Worte schon in ihrem Sinn verstanden. Sie reden wie ein römischer Agitator, auch wenn Sie sich Worten wie Liebe und Nähe annähern. Sie reden wie jene, welche diese gefährlichen Ambitionen haben. Als könnten Sie aus ihrer Weltansicht eine bessere Welt gründen. Sie machen sich derselben Verbrechen schuldig, derer Sie die Sozialisten und Kommunisten gerade anklagen. Sie missbrauchen historische Argumente, die Sie selektiv nutzen, um ein falsches Bild von uns Revolutionären darzustellen. Sie nennen nur die Robespierres[6], damit verzerren Sie absichtlich das Bild von uns. Verzeihen Sie mir, wenn ich auf diese Art der Argumentation nicht einlassen möchte, sonst würden wir - und das hilft keinem von uns - über den vierten Kreuzzug[7] streiten oder über das Konzil von Nicäa[8]. Gleichzeitig sehe ich an diesem Ort nicht, dass eine weitere Argumentation lohnt. Sie beginnen ihren Streit mit den Worten, dass sie Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit für so unwahrscheinlich wie das Gottesreich halten, und am Ende werben sie doch wieder dafür, als würde dies Ganze nur aufgrund christlicher Partizipation gehen. Wenn Sie der Revolution als moralisches Gewissen von Nutzen sein wollen, cher Pére, will ich mich gerne nochmal an Sie wenden. Aber verzeihen Sie mir, dass ich Sie nicht an ihren Worten messen werde. Wenn Sie Ihren Worten, die Sie gerade geäußert haben, Taten folgen lassen und danach noch selbst sagen können, dass Sie nicht der Herr dieser Bewegung sein müssen, dann will ich Ihnen glauben. Ich werde Ihre Worte nämlich nicht an den Taten früherer Christen messen, sondern an Ihnen." Er lupfte den Hut. "Ich empfehle mich. Aber eines will ich zum Abschluss klarstellen. Sie missverstehen meine Äußerung des Naturzustandes. Der Krieg alle wider alle ist genauso kein Naturzustand, wie es der Zustand des Friedens ist. Aber das heißt nicht, dass wir nicht, mit genügend Vorsicht das eine oder das andere konstruieren können." Und verschwand dann schnellen Schrittes aus der Tür, während das Gemurmel wieder begann. Sébastien konnte noch sehen, wie der Mann ihm ein Zwinkern und ein Kopfnicken zuwarf, ehe er sich in das Getümmel der Stadt verabschiedete.

Das Gemurmel hielt jedoch nicht lange vor, denn eine Frau stand auf. Ihr dunkles Haar, welches von ersten grauen Strähnen durchzogen war, war in der Mittel gescheitelt und reichte ihr ansonsten bis fast auf die Schultern. Ihr schmales und doch rustikales Gesicht wurde von tiefen, dunklen Augen geprägt, die von buschigen Augenbrauen beherrscht waren. Ihre Augen blickten traurig drein und ihr breiter Mund zuckte aufgeregt. Die Frau mochte vielleicht um die vierzig Jahre alt sein. "Ich gebe dem jungen Mann dort drüben recht.", sagte sie mit kraftvoller Stimme und zeigte auf Sébastien Moreau. "Ich selbst bin Lehrerin und Krankenpflegerin, doch geboren wurde ich als einfache Magd. Ich habe in dieser autokratischen Welt der Bonapartisten[9] jeden Schritt, jeden Franc, ja jeden Centime hart erarbeiten müssen und wohl härter als jeder Mann in diesem Saal! Ich habe wie alle Arbeiter hier das harte Leben gelebt und erlebe es, seit die Preußen uns aushungerten, noch intensiver, all dieses Leid, diese Sorgen. Die Idee eines Streikes ist schön, doch wie soll ganz Paris dies überleben mit Thiers Soldaten vor der Tür. Nein, der junge Mann hat Recht! Lasst uns selbst nach den Worten des Pfaffen Sünder sein, wenn unsere Kinder ein besseres Leben haben. Ich will nicht gerecht sein, wenn dies den Tod meiner Brüder und Schwestern bedeutet. Wer kann sowas törrichtes sagen[10]? Nur jemand, der nichts zu verlieren hat! Sie machen es sich leicht, Herr Pfaff!", sie war wütend und Paul konnte sehen, wie manche sie anschauten mit einer gewissen Ehrfurcht. Sie hatte etwas, was die Menschen in ihren Bann zog. "Ihr macht es euch leicht, der ihr wohl nur nach Gott trachtet. Ihr alle stellt euch vor, auch noch die zweite Backe hinzuwerfen, in das Bajonett des Feindes. Ihr könnt alle nur noch Gott treffen und euch damit rühmen, dass ihr gerecht wart, ob ihr nun gelaufen seid oder ins Bajonett gefallen seid. Wir jedoch haben Kinder, haben Hunger, wollen Leben. Wir wollen kein Lebtag leiden, um irgendwann in einem nächsten Leben dafür belohnt oder bestraft zu werden. Wir wollen jetzt - und jetzt heißt in diesem Moment - eine gerechtere Welt für unsere Kinder, für unsere Männer, für uns Frauen. In der wir Frauen Ärzte werden können, in der unsere intelligenten Kinder die gleichen Chancen bekommen, wie die tumben wie intelligenten Kinder des reichen Bürgertums. In der wir Frauen über unser Schicksal bestimmen dürfen und mit gleichem Recht wie alle Männer ausgestattet sind. In der wir Frauen auch Päpste und Bischöfe und Vikare werden können. In der wir nicht nur die Geburtsmaschine des Heilbringers sind, sondern selbst Heilsbringer sein können. Und dazu brauchen wir die Kanonen, weil sie uns ohne - dazu müssen wir sie nicht nutzen - nicht anhören werden. Dazu brauchen wir Barrikaden, weil sie uns ohne ignorieren werden. Dazu brauchen wir Streiks, um die Fabrikanten an unser Leid zu gewöhnen. Dazu brauchen wir einen starken Magen und Opferbereitschaft. Schöne Worte und Nächstenliebe sind schön, aber wir müssen aus dem System ausbrechen. Wir müssen. Wir schulden es unseren Kindern, ob wir nun in des Pfaffen Auge Sünder sind oder nicht!"
Langsam wurden die kritische Stimmen wieder lauter, doch es waren nach Pauls Rede deutlich weniger. Waren vorher vielleicht knapp mehr als die Hälfte gegen ihn gewesen, war der Widerstand auf eine handvoll Besucher zusammengeschrumpft. Erwartungsvoll blickte die Frau nun zu Sébastien, mit traurigem, wie stechendem Blick.
 1. Gascogne
 2. Er meint die Schlacht bei Waterloo 1815 und Napoleons darauffolgende Verbannung nach St.Helena
 3. Februarrevolution 1848
 4. Napoleon III.
 5. Louis-Phillipe
 6. Maximilien Marie Isidore de Robespierre
 7. Vierter Kreuzzug - Er zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er nicht bis nach Jerusalem kam, sondern in der Plünderung der christlichen Stadt Konstantinopel endete, gegen den Protest des Papstes allerdings.
 8. Erstes Konzil von Nicäa
 9. Bonapartismus
 10. Sie meint den berühmten Satz: Fiat iustitia et pereat mundus!
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #29 am: 02.11.2013, 19:48:28 »
Es war beinahe schon beängstigend, wie gut Paul Zeidler die Menge im Griff hatte. In einem Moment wirkte der alte Mann fast schon verunsichert, im nächsten zog er die aufgebrachte Menge in seinen Bann. Es kehrte wieder Ruhe im Raum ein und Sébastien vernahm mit gemischten Gefühlen, was der Priester zu sagen hatte. Wieder versuchte der Deutschstämmige, die geäußerten Argumente mit Gegenargumenten und Bibelworten zu entkräftigen – und stellte sich dabei nicht wenig geschickt an. Doch Sébastien vernahm dieses Vorgehen mit aufkeimendem Groll. Mit angespannten Zügen und gerunzelter Stirn reagierte er auf die verurteilende Missbilligung, die Paul Zeidler zeigte, vielleicht gerechtfertigt, mochte man meinen, doch der junge Arbeiter sah das anders. Er fühlte sich zu Unrecht auf die Täterseite gestellt. Er war ein Opfer der Gesellschaft – ein Opfer, das sich entschlossen hatte, keins mehr zu sein, und für seine Frau und Kinder für eine bessere Zukunft einzutreten. Es war eine Schande, dass er sich dafür rechtfertigen musste.
Es mochte sein, dass er selbst die vergangenen Revolutionsbewegungen idealisierte und romantisierte, doch war eine Revolution genau das, was die Arbeiter nun brauchten. Sie hatten nun die Gelegenheit dazu und sicher würde diese verstreichen, wenn sie nicht genutzt wurde.
Sébastien erwiderte das Zwinkern und Kopfnicken des Kalabreserträgers mit einem Nicken seinerseits, bevor er sich noch die Rede der älteren Französin anhörte, die sich ebenfalls als ziemlich charismatisch erwies. Zufrieden nahm er auf, dass sie ihm Recht gab.
„Ich stimme der Dame zu“, meldete Sébastien sich wieder zu Wort, nachdem die Frau gesprochen hatte. Auf ihre betonte Stellungnahme zur Gleichstellung von Mann und Frau ging Sébastien nicht ein, er nahm ihre Worte jedoch als Stütze für seine Argumentation.
„Sie reden zu uns wie ein Beobachter, Pater, nicht wie ein Betroffener. Wenn ich reich wäre und keine Sorgen hätte, dann könnte ich wohl sehr tugendhaft sein. Doch ich kann nicht nur für mich selbst entscheiden, ich habe Verantwortung für meine Familie zu übernehmen. Bei allem, was ich tue, kann ich sie nicht vergessen. Und was für ein Ehemann und Vater wäre ich denn, wenn ich zulassen würde, dass sie weiterhin in diesem Elend leben muss? Sie haben Ihre Gemeinde hier, die Ihren Rat sucht, doch haben Sie auch eine Frau und Kinder, deren Existenz davon abhängt, dass Sie sie versorgen?“, fragte er, ohne eine Antwort wirklich hören zu wollen. Er redete einfach weiter.
„Ich kann meine Liebsten nicht mit Bibelworten vertrösten, denn davon werden sie nicht satt! Nun sind meine Kinder zu klein, um zu verstehen, doch irgendwann, wenn auch sie wissen, was in diesen Tagen hier geschehen ist und noch geschehen wird, werden sie mich fragen: ‚Papa, wo bist du gewesen, als du die Chance hattest, unser Schicksal zum Besseren zu wenden?‘ Und ich will ihnen nicht antworten müssen: ‚Ich habe mich erst ausharrend versteckt und bin dann weggelaufen, als der Feind näher rückte, weil ich Angst um mein Seelenheil hatte.‘ Das ist der Weg ins Unheil für mich“, griff Sébastien Paul Zeidlers Aussage, dass einer seiner möglichen Wege ins Unheil führen würde, auf.
„Der Teufel soll mich holen“, äußerte er kühn, aber sehr ernst, „wenn ich im Austausch dafür erreiche, dass meine Familie ein gutes Leben führen kann! Ich fürchte ihn nicht! Jedes weltliche und jedes göttliche Gericht soll mich doch dafür verdammen, dass ich ein Sünder bin, denn ein Sünder will ich sein, wenn die Alternative dazu ist, weiter in Krankheit und Elend zu leben und meine Kinder leiden zu sehen! Denn sagten Sie mir nicht, dass es mir wie Hiob[1] ergehen und ich am Ende belohnt werden werde, wenn ich das Leid voller Gottvertrauen und Demut auf mich nehme. Viel zu oft habe ich diese Geschichte gehört und als tröstlich empfand ich sie noch nie. Welcher Trost ist es, nach dem Verlust von allem, was mir lieb und teuer ist, wieder die Sonne zu sehen? Niemand kann mir ersetzen, was mir genommen wurde, denn was ich vielleicht wiedererhalte, wird das nicht Gleiche sein wie zuvor. Niemand wird mir die Zeit wiedergeben, die ich mit Reden und Nichtstun oder Weglaufen vergeude, während ich meine Brüder und Schwestern im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit unterstützen könnte. Niemals würde ich es mir verzeihen, würde ich meine Familie oder einen Kameraden verlieren, nur weil ich aus Furcht, mich zu versündigen, gezögert habe! Ich bin kein Mörder, Pater, doch wenn es heißt mein Leben oder das meines Gegners, werde ich mich dafür entscheiden, mich zu verteidigen.“
Sébastien hatte sich ein wenig in Rage geredet und schnappte nun nach Luft, bevor er fortfuhr:
„Ich wähle mit Bedacht, Pater!“, betonte er, nun wieder etwas beherrschter, aber noch immer aufgebracht, denn dass seine Entscheidung für eine Revolution leichtsinnig sein könnte, sah er nicht. Nicht im Geringsten.
„Nach all dem Krieg will ich einen weiteren wählen, wenn er es ist, auf den endlich Frieden folgt und wahre Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit. Revolutionen haben Blut gekostet und in der Vergangenheit die falschen Menschen um ihre Ideale gebracht, das streite ich nicht ab, doch wie kann man sich hinter diesem Argument verstecken, wenn man nicht weiß, wie es dieses Mal sein wird? Wenn wir es nicht versuchen, haben wir schon verloren! Dabei sind das einzige, was wir verlieren wollen, unsere Ketten.[2] Thiers hat gemerkt, dass wir daran rütteln, und geflohen ist er wie ein Hase, wie man hört!“, äußerte Sébastien mit beißendem Spott und dies als gutes Zeichen sehend. Er hatte nicht viel Respekt für den Übergangspräsidenten Adolphe Thiers übrig, wozu die gestrigen Geschehnisse auf dem Place Blanche nicht wenig beigetragen hatten. Schließlich waren es Thiers' Truppen gewesen, die die Kanonen hatten beschlagnahmen wollen, und seine Generäle, die befohlen hatten, das Feuer auf die aufgebrachte Menge zu eröffnen.
„Nun werden wir die Ketten entzweireißen! Wir haben so viel zu gewinnen! Die Zeit der Arbeiter ist gekommen! Wir haben es satt, nur zu leben, um zu arbeiten, damit wir unsere Familien versorgen können, und dass selbst das nicht ausreicht. Wir wollen unser Leben leben können, ohne Angst um unsere Familien haben zu müssen. Und ohne selbst hungern zu müssen. Warum sollten wir nicht fähiger sein als Napoleon oder Thiers? Es ist nicht Macht, die wir uns wünschen, sondern Gerechtigkeit und Glücklichsein!“
 1. Hiob
 2. Anlehnung an: "Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben dafür eine Welt zu gewinnen." (Karl Marx)
„Liberté, égalité, fraternité!“

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