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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 57246 mal)

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Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #30 am: 04.11.2013, 00:04:49 »
Nachdem Paul sein Gebet beendet hatte, war etwas über ihn gekommen. Paul hatte plötzlich das Gefühl von Sicherheit und Bestimmtheit gehabt und es war, als würde er eine ganz andere Realität berühren. Ein flüchtiger Gedanke streifte Pauls Bewusstsein "Wenn es einen heiligen Geist gibt, dann ist er eben über mich gekommen. Unglaublich...". Noch immer hatte er eine Gänsehaut und sein Herz war voller Ehrfurcht. "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob, deinen Gegnern zum Trotz; deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.[1]", murmelte Paul kaum hörbar in sich hinein.

Es war der Moment gewesen, von dem Paul in den kommenden Tagen zehren würde. Gerade jetzt hatte er Gewissheit erlangt, dass er diesen Weg weiter gehen würde, allem Zweifel und allen Widerstand zum Trotz.

Doch nun mischte sich unter Euphorie auch merklich die Müdigkeit. Tatsächlich fühlte sich Paul, als hätte er eine ganze Nacht hindurch geredet. Er wollte die Diskussion nun abbrechen, auch weil er annahm, dass sich die Argumente nun wiederholen würden. Er hatte gut gesprochen und jedes weitere Gerede würde seine Position nur wieder schwächen. Darum sagte er: "Nun gut, Sebastien. Was soll ich noch zu ihnen sagen, wenn sie sich schon selbst eingestehen, ein Sünder zu sein und auch weltlich und göttlich Gericht nicht fürchten? Kommen Sie morgen wieder, denn ich will sehen, ob Sie morgen noch so entschlossen sind, wie heute. Aber für heute gehört Ihnen das letzte Wort. Kommen Sie alle morgen um diesselbe Zeit wieder. Ich will sehen, dass ich eine Suppe organisieren kann. Gute Nacht!"

Damit gab Paul Grouès ein Zeichen und er verließ den Raum und stieg nach oben in seine Dachkammer, wo er sich auf den Stuhl an seinen Schreibtisch setzt und mit leerem Blick und leeren Geist aus dem Fenster starrte.
 1. Psalm 8,2
« Letzte Änderung: 04.11.2013, 00:27:06 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #31 am: 05.11.2013, 22:58:29 »
Etwas später am Abend klopfte es an Pauls Tür. Es war Grouès, der einige Schritte in das Zimmer eintrat und dann stehen blieb. Offensichtlich wartete er darauf, dass Paul etwas sagte. Doch Paul wollte nicht von sich aus anfangen, da er fürchtete, Grouès einen Grund für eine positive Bewertung zu geben. Paul wusste, dass es bei alledem gut gelaufen war, er hatte viele Leute überzeugen können. Doch etwas in ihm zwang ihn, auch immer den kleinen Misserfolg zu betonen. Und schließlich war Erfolg ja auch flüchtig und auf eine Durststrecke konnte man sich einstellen. "Du hast gut gesprochen. Ich glaube, Du hast viele zum nachdenken anregen können.", stellte Grouès fest und riss Paul aus seinen Gedanken.

"Hmm." murmelte Paul und erhob sich, um das Fenster zu schließen, "Nun ja, wir werden sehen, was die Tage bringen. Es wird sich zeigen, wie viel ich in den Menschen bewirken konnte."

"Deine Predigt hat etwas bewirkt. Du musst sie jetzt noch weiter bestärken. Du klingst aber nicht überzeugt. Wie willst Du den Menschen inspirieren, wenn Du selbst zweifelst?", sagte Grouès ungewöhnlich direkt, aber es klang nicht wie ein Tadel.

Überrascht blickt Paul auf. Das Gespräch war sehr untypisch für sie beide. "Ich denke gerade nicht über mich nach. Tatsächlich denke ich an den jungen Mann, der ein Sünder sein will."

"Wie meinst Du das? An was denkst Du?", fragte Grouès.

"Erinnerst Du Dich an die Versuchung Jesu im Matthäusevangelium?[1]" Grouès nickte. "Es ist die Prüfung Gottes bevor Jesus den Menschen offenbart wird. Jesus wird vom Geist in die Wüste geführt und vierzig Tage bereitet er sich durch Fasten auf den Satan vor. Als es ihn hungert, sagt uns die Bibel eindeutig und unwiderleglich, dass Christus Mensch war und gelitten hat, wie ein Mensch nur leiden konnte. Welche Bedeutung hätte sein Kreuzestod gehabt, wenn er nicht gelitten hätte, wie ein Mensch? Als der Satan kam, versuchte er ihn mit dem Brot. Er sagte: ' Wenn Du der Sohn Gottes bist, dann mache, dass diese Steine Brote werden'."

"Was hat das jetzt mit dem jungen Mann zu tun? Ich fürchte, ich verstehe nicht.", unterbrach ihn Grouès.

"Offensichtlich wollte der Teufel Jesus damit reizen, dass er die Anerkennung seiner Gottessohnschaft davon abhängig machte, dass Jesus die Steine in Brote verwandelte. Der Punkt ist: Ich habe nie verstanden, warum es Brote waren und nicht ein Brot. Und dann habe ich mir gedacht, dass es dem Evangelisten vielleicht um die Menschen ging. Ja, mittlerweile glaube ich, dass der Evangelist sehr genau wusste, dass dem Menschen der Magen näher ist als der Himmel. Der Satan könnte auch sagen: 'Du bist für die Menschen Gottes Sohn, wenn Du sie satt machen kannst. Denn schlimm ist es, auf Gottes Gerechtigkeit zu warten, aber quälender ist die Angst vor dem Hunger'. Aber Jesus weiß es besser. Das kommende Gottesreich verlangt eine Erschütterung des Herzens bis hinein in das tiefste Innere. Eine Umwertung aller Werte. Darum sagt er: 'Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht'. In der Bergpredigt wird der Gedanke konkret: 'Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? [...] Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.'"

Paul machte eine Pause und beobachtete Grouès. Er war noch nicht ungedudlig geworden, ob Pauls langen Ausführungen. Paul war für Grouès' Geduld dankbar, die sich auch nun wieder zeigte. "Aber wer ist wie Jesus, wer kann mit ruhigem Gemüt sagen: 'Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat'. Ist Dein Gottvertrauen so groß? Meines ist es nicht. Und darum kann ich es dem jungen Mann kaum verdenken, dass er sich um sein täglich Brot sorgt. Ja, teuflisch, teuflisch war die erste Versuchung. Sie war die übelste von allen, denn sie wägt Glauben gegen die Sorge. Und, verdammt seien wir, wir haben uns aus unserer Unmündigkeit befreit und sind fähiger denn je, die Grenzen des Menschlichen zu verschieben. Aber ich fühle, ja ich bin überzeugt, dass wir keinen Schritt weiter gekommen sind. Das Schicksal der Menschen hängt noch immer davon ab: Glaube oder Sorge."[2]
 1. Mt 4,1-11
 2. Die Argumentation lehnt sich eng an Dostojewskis Novelle vom Großinquistor - eine großartige Anthropologie und ich glaube, dass uns die Brotfrage noch heute lähmt.
« Letzte Änderung: 06.11.2013, 23:39:12 von Paul Zeidler »
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Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #32 am: 07.11.2013, 22:07:49 »
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:25 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Während Groués und Zeidler in der Straße der Zweifel dieser Benennung zur Ehre gereichten, wurden auch die sich in alle Winde verstreuenden Beobachter und Agitatoren von diesen eingeholt. Warum hatten sie in einem - improvisierten und evangelischen - Glaubenshaus darüber gestritten? War dies der richtige Ort gewesen? Das Geflüster im Saal, von den aufbrechenden Gästen, verriet immerhin etwas über dieses Treffen. Zwischen jenen Frauen und Männern, die voller Lobes für diese außerordentliche, viele tief im Inneren treffende Rede Paul Zeidlers oder gar für seine ganze Person waren, gab es auch jene, die sich fragten, wer dieser Mann mit dem Kalabreser war. Keiner hatte ihn, Carls Ohren mochten in diesem Moment besonders gespitzt sein, jemals gesehen. Keiner konnte sich vorstellen, dass er ein Teil des Zentralkomitees sein konnte, andererseits kamen auch Zweifel daran auf, dass man ihn gesehen haben musste. Lebten in Paris nicht mehr als zwei Millionen hungernde Seelen? Wohl kaum mochte jeder Nationalgardist aus dem Gebiet Montmatres kommen. Und auch die so wortreiche Frau war Thema. Louise Michel[1] soll sie heißen. Die Gäste, welche sich nicht dem Christentum anhängig waren oder zumindest mehr den alternativen Regierungs- und Staatsgestaltungen angehörig fühlten, sprachen in ähnlichen hohen Tönen von ihr, wie die Christenmenschen von Paul Zeidler sprachen. Aber wieso hatten sich so viele Nichtchristen hier eingefunden? Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass jenes, was sich an diesem Abend hier bei Pére Groués ereignet hatte, nicht in diesem feuchten Gemäuer bleiben. Man würde darüber sprechen, man würde es weitertragen, denn in einer Sache waren sich die Gäste einig. Auch wenn der Streit für manchen nicht aufgelöst scheint, war dieser Abend ein besonderer Abend, ein erinnerungswürdiger Abend. Es war ein Abend, der nicht, unabhängig der Nahrungsversorgung durch die Männer um Paul Zeidler, ohne Bedeutung bleiben würde...

Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:09 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Sonderbares Gestammel, Gestöhne, Gebrabbel, dann vereinzelte Jubelrufe, gefolgt von Gewehrschüssen in die verregneten, ersten kalendarischen Frühlingstage. All jenes wurde abgelöst von spontanen Beifallsbekundungen, ja sogar von spontanen Tänzen und hier und da sangen die Menschen, mal weinend vor Freude, mal lachend vor eingebildetem Glück, die Marseillaise. Nicht in der Art, wie der junge Mann sie in der schicksalshaften Nacht vor einigen Tagen gesungen hatte. Nicht umgestellt, nicht die Brutalität dieses Liedgutes in den Vordergrund stellend, sondern die Bedeutung für das revolutionäre Frankreich einatmend, als wäre es ein erquickendes, regenerierendes Wasserdampfbad, in dem man Weihrauch und andere ätherische Öle inhalierte, um wieder frei atmen zu können. Kaum einer der Männer war sich der Herkunft und Geschichte der Marseillaise bewusst; wusste, dass ein gewisser Claude Joseph Rouget de Lisle[2] dieses Lied mit royalistischem Feuereifer für die Rheinarmee[3] schrieb und als dann ausgerechnet sein royalistisches Lied zum Revolutionslied wurde, selbst für seine royalistische Gesinnung im Gefängnis schmorrte und vielleicht darüber nachsinnte, wie es passieren konnte, dass sein Lied für etwas Sinnbild wurde, was er nie beabsichtigen hatte können.

Ein paar Männer kannten die Geschichte, die sich hinter Rouget de Lisle verbarg und sein Schicksal und jene Männer schauten zwischen den Jubelnden umher, auf dem Place Blanche, der nach wenigen Tagen des Regens wieder ein weißer Platz war, der seine Gefallenen schon längst wieder vergessen hatte. Es gab keine offiziellen Zahlen, obwohl die republikanische Seite um Thiers zu wissen glaubte, dass lediglich die beiden erschossenen, aus Regierungssicht exekutierte, Generale gefallen waren. Männer, die den Place Blanche geräumt hatten, sprachen von vielleicht dreißig oder vierzig Verletzten und mindestens zehn Toten. Allerdings gaben sie nur in den privatesten Gesprächen, wie im heilsamen Zwiegespräch mit Paul Zeidler, oder im freundschaftlichen Gespräch mit Sébastien Moreau, oder im dienstlichen Austausch mit Carl von Lütjenburg, preis, dass die wenigsten durch die Sicherung der Kanonen gestorben waren. Die meisten waren bei Übergriffen liderlicherer Natur gestorben, bei Vergewaltigung, Mord und Totschlag, bei zwei oder drei Plünderungen, weil Schurken ihre Stunde gekommen sahen, ihren seit der Belagerung währenden Hunger und ihre Verluste, oder ihre Triebe, auf Kosten anderer im Zuge des sich andeutenden Chaos zu kompensieren, zu befriedigen. Es hatte nicht so viele Zusammenstöße mit republikanischen Soldaten gegeben. Ihre Moral war schwach, wie man im Militärjargon zu sagen pflegte, und die meisten mieden die wenigen Nationalgardisten, welche die Kanonen sicherten, oder sie fraternisierten oder sie flohen auf den Befehl Thiers. Und die Nationalgardisten, so war man sich sicher, wenn man vertraulich miteinander sprach, waren im Chaos nicht in der Lage, von Emotionen emporgetragen, die ganze Szenerie im Auge zubehalten, oder drastischer gesagt: Viele dieser Täter versteckten sich weiter in den Reihen jener, die Revolution riefen und die jetzt, in diesem Moment, jubelnd auf dem Place Blanche und an anderen Orten dieser Zwei-Millionen-Stadt standen und tanzten und sangen.

Die paar Männer, die sich das ganze Treiben anschauten, waren nicht um ihrer selbst willen an diesem Ort. Sie beobachteten die Szene für die Republik. Es waren gebildete Männer, es waren unauffällige Männer, deren Aufgabe ihnen nicht anzusehen waren, solange man nichts von ihnen wusste. Solange man sie nicht erwartete und ihre Erkennungszeichen, ihre Zeichen und ihre Art kannte und zu lesen verstand. Sie waren ein Teil der jubelnden Menge, die sich hier auf dem Place Blanche zusammengefunden hatte aus einem bestimmten Grund. Hätten sie Carl von Lütjenburg gekannt, der aus demselben Grund zurück zum Place Blanche gefunden hatte, hätten sie auch gewusst, dass der preußische Offizier mit Rouget de Lisle gewisse Gemeinsamkeiten hatte. Beide waren Royalisten im weitesten Sinne, beide waren Freunde der Militärmusik[4] und des gewaltigen Pathos und sie beide waren eigentlich, ursprünglich und im Herzen in der Gattung der Pioniere beheimatet. Ihr Schicksal unterschied sie. Die Männer, diese unerkannten republikanischen Männer, hätten sich gefragt, ob sich ihr Schicksal noch unterschied. Rouget de Lisle hatte es bis zum Hauptmann gebracht, als die Revolution seine Karriere beendete und er nur knapp der Guillotine entging. Er starb als armer Mann, trotz seiner Erfolge und seines Hauptwerkes, welches so von Rouget de Lisles Gedanken entfernt wurde. Würden diese Republikaner, wenn sie denn Carl kannten, auch denken, dass diese beginnende Revolution, auch wenn sie bisher nur eine Pariser Revolution war, dem nächstem Militär die Karriere beenden würde? Sie würden es nicht ausschließen. Sowohl Carl als auch die unerkannten Republikaner waren aus demselben Grund gekommen, und sie blickten diesen Grund an. An Hauswände waren Aushänge angebracht wurden. Auch Sébastien und Paul konnten diese Aushänge vor sich sehen. Es war eine Ankündigung, welche die Gesänge, die Tänze, die Jubelschreie und Gewehrschüsse ausgelöst hatte. Das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese ungreifbare, gesichtslose Menge von Menschen und neuen Würdenträgern hatte eine Entscheidung, an allen vorbei und doch nicht unerwartet, getroffen. Hatte es die letzten Tage Befürchtungen gegeben, dass das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese uneinheitliche Vereinigung von Bürgermilizen, einen oder mehrere Despoten hervorbringen würde, welche die Macht in ihren Händen, gestützt auf dem flammenden Willen von Revolutionären und den erbeuteten Kanonen, nicht mehr abgäbe, machte dieses Komitee nun bekannt, dass sie kurzfristig Wahlen anberaumen. Die Wahlen würde bereits am folgenden Sonntag stattfinden und es würden demokratische Wahlen sein. Die Menschen jubelten. Die Republikaner wie die Anwesenden starrten auf den Ort, an dem sich am 26. März das Schicksal dieser Stadt verändern könnte, würde. Hôtel de Ville[5]. Bis zum 24. März bis zum Spätabend mussten sich alle Interessenten, die gewählt werden wollten, melden, im Hôtel de Ville. Die Plakate, die überall auf den Straßen auftauchten, versprachen explizit, dass fast jeder sich zur Wahl stellen konnte. Thiers und seine Mannen freilich nicht. Paris war sich selbst Herr, das war die Botschaft dieser Plakate. Paris war sich selbst Herr - ja, so viel Pathos musste in dieser Stadt der Künstler und Bonvivants[6] sein - bedeutete nicht nur, dass die Stadt die auferlegten Fesseln, die sie entweder erduldete oder zu erdulden glaubte, des großen und nach der großen Niederlage ebenso geschwächten Staates abgelegt, gar gesprengt, hatte, sondern dass die Arbeiter sich befreit hatten und nun mit in die Bestimmung kamen, ihren historisch-determinierten, wie zumindest manche Denker und Arbeiter glaubten, Platz in der Geschichte einzunehmen. Die Euphorie war greifbar über den ganzen Place Blanche und sie freuten sich miteinander, die Proudhonisten[7], die Marxisten[8], andere Ideologen, die ideologisch unberührten, aber nicht minder besorgten Arbeiter, aber auch die reformistischen Republikaner, die sich noch immer darüber ärgerten, dass zwischen dem 8. und 17. Februar Wahlen stattfinden, deren Sieger Adolphe Thiers war, der zum Chef der Exekutive wurde. Alle Parteien, obwohl Thiers sich selbst als Republikaner sah, empfanden dies als Angriff auf ihre Ideen und das Erbe der Revolution, dass ausgerechnet dieser Thiers, der versuchte das Bildungswesen wieder katholisch zu machen, der den Bürgerkönig erst gestützt, dann sich gegen ihn gestellt und dann wieder die politische Linke bekämpft hatte, bei einer Wahl bestimmt wurde, von der halb Frankreich im Unklaren gelassen wurde. Ein Grund, warum die Menschen sich über die offene Verkündigung der Wahlen freuten. Sie fühlten sich, als würde ihnen eine Art Gerechtigkeit wiederfahren, die sie selbst erkämpft haben. Die sie sich in dem Moment gemeinsamer Souveränität[9] verdient hatten.

Die unerkannten Republikaner, die wahrscheinlich im Auftrag Thiers unterwegs waren, ob wissentlich oder nicht, zogen sich langsam wieder zurück. Zumindest ein Teil von ihnen. Es mochten vielleicht zweihundert oder dreihundert Menschen auf dem Place Blanche zu dieser frühen Stunde sein. Die trotz ihres Tagesgeschäftes jene Muße oder jene Notwendigkeit sahen, sich über diese Ankündigung zu freuen. Wahlen also. In diesem Tross aus Freude und Aufmunterung fuhr freilich auch die Sorge mit, als sei sie ein unverzichtbares Element jeder Bewegung, jeder Hoffnung. Sébastien bekam es dank François Durand schnell zu hören, doch auch Paul Zeidler bekam diese Worte mit, stand er doch nicht unweit der Szene nahe einer Gaststätte entfernt, sich an den letzten Sonntag und ihren Austausch erinnernd. Und so war es zwar in dieser Menge von Menschen ein Zufall, doch nach dem Carl die beiden aus der Entfernung sah, nachvollziehbar, dass auch der preußische Offizier sich in der Nähe postierte, immer noch auf der Suche nach Information. Und sie wurden ihm auf dem Silbertablett präsentiert. François begrüßte Sébastien mit einer festen Umarmung, strahlte aber nicht ob der guten Nachrichten. Einige Arbeiter hatte sich um Sèbastien formiert, sie scherzten und johlten. Argwöhnten, in ihren schmutzigen, kohleschmutzigen oder gipsweisen Kleidern, auf den Wegen zu ihren Fabriken und den Abbaustätten, wie es wohl sei, wenn sie Thiers ganz in die Knie gezwungen haben werden. Sie waren sich einig, dass Paris ein Leuchtfeuer der befreiten Arbeiterschaft sein würde und zankten freundschaftlich miteinander, wer sich wohl von ihnen zur Wahl stellen würde. Wer wohl so viel Mut hätte. Doch François wirkte aufgebracht und beunruhigt. Sèbastien wusste warum. Die anderen hörten François aufmerksam zu.
"Mein lieber Sèbastien. Ein Schritt ist getan, aber ich muss von dir Unmenschliches in diesem Moment der Freude verlangen. Sie halten uns doch den Louis[10] gefangen. Eine demokratische Wahl ist gut, aber was, wenn zu viele Menschen aus Hunger nicht ganz bei Sinnen sind und zu viele Republikaner wählen? Oder zu viele Professoren und Lehrer? Und was ist, wenn wir uneins bleiben? Sébastien, mein lieber Sébastien, ist es nicht so, dass jede Menge nicht doch zumindest eine Ordnung braucht? Dass wir einen Mann brauchen, der keine Herrschaft beansprucht, aber das Unordentliche in Ordnung bringt und uns hilft, uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren? Du weißt, mein Lieber, dass Louis diese Ordnung bei uns bringt. Wir müssen die Freude zurückstellen und etwas wagen, um Louis freizumachen! Ich habe auch einen Plan! Lass uns Louis befreien. Ja, ja, ich weiß, da sind Soldaten und viele Soldaten. Aber wenn sie uns eine wichtige Person nehmen, lass ihnen eine nehmen. Lass ihn den Pfaffen nehmen! Ihren Leuchtturm des Mutes[11]! Was sagst, mein Lieber? Wir dürfen uns freuen, ja, aber wir dürfen uns jetzt nicht in Freude verlieren. Wir müssen uns helfen. Für Louis, für uns Arbeiter! Wir dürfen uns nicht zerstreuen lassen!"

Manche Leute um den Mann, der noch immer die Spuren der zurückliegenden Scharmützel deutlich im Gesicht trug, wie die blaue Nase um die Bruchstellen seines Nasenrückens., wandten sich erschüttert ab, während andere ihre Zustimmung laut bekundeten, Männer und noch mehr Frauen zeigten ihre Zustimmung. Zu seiner Überraschung sah Sébastien in diesem Moment auch die willensstarke, grimmige Frau, die ihm schon bei seinem Besuch bei Paul Zeidler aufgefallen war. Sie schien besonders davon begeistert, einen Katholiken an der Stola[12] zu packen.
Erwartungsvoll blickte der beste Freund Sébastien an, trotz der Verletzungen mehr als kampfeswillig. Manche Männer und Frauen gingen fort, andere befeuerten ihre Zustimmung immer weiter. Und irgendwo dazwischen mochte die noch unerkannten Republikaner stehen, sich abwenden oder jubeln, nur um der Farce willen.
 1. Louise Michel
 2. Claude Joseph Rouget de Lisle
 3. Französische Rheinarmee
 4. Ich verweise auf Carls unterschiedlichen Musikthemen.
 5. Hôtel de Ville
 6. Bonvivant
 7. Proudhonismus
 8. Marxismus
 9. Souveränität
 10. Gassenwissen (gut) +3 oder Gelehrsamkeit (gut) +3, um zu wissen, wer gemeint ist.
 11. Gelehrsamkeit (gut) +3 oder Gassenwissen (passabel) +2, um zu wissen, wer gemeint ist.
 12. Stola
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #33 am: 16.11.2013, 18:11:23 »
Sébastien ließ es sich an diesem Morgen nicht nehmen, mit den anderen Arbeitern, die sich auf dem Place Blanche versammelt hatten, die erfreuliche Ankündigung zu feiern. In drei Tagen bereits, am 26. März, würde gewählt werden und von diesem Moment an würden die Arbeiter ihre eigenen Herren sein. Sie würden selbst ihre Regierung stellen, die ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht länger ignorierte. Sébastien wusste, dass Thiers‘ Tage gezählt waren. Der Kampf war noch nicht vorbei und gewonnen, doch der Sieg lag in nicht mehr in allzu weiter Ferne.

Sébastien konnte es nicht unterdrücken, ob der ausgelassenen Stimmung ebenfalls zu breit zu lächeln und sich an den Scherzen zu beteiligen, doch als er endlich seinen besten Freund François erblickte, holten Sébastien die Realität und die Sorgen ein, die auch an ihm nicht vorbeigingen. Dazu genügte ein Blick in François‘ lädiertes, aber trotzdem noch immer sehr jungenhaft wirkendes Gesicht. So sehr Sébastien sich freute, seinen Freund zu sehen, und dessen begrüßende Umarmung ebenso fest erwiderte wie sie ihm gegeben wurde, machte sich auch in ihm leichtes Unbehagen breit, das wohl am ehesten mit einer Mischung aus Besorgtheit und Rastlosigkeit beschrieben werden konnte, die Sébastien auch François anmerkte. Den Grund für die Stimmung seines besten Freundes kennend, hörte Sébastien diesem aufmerksam zu, als François ihm seinen Plan vorschlug.

François‘ Sorge war begründet: die Geschehnisse der letzten Tage hatte viele verängstigt und verunsichert, und obwohl sie sich nun gemeinsam jubelnd, lachend, singend und tanzend freuten, waren sie nicht eins. Genauso wie die Revolution der Arbeiter ein gemeinsames Ziel brauchten, dem sie entgegenstreben konnten, brauchten sie auch einen gemeinsamen Weg dorthin.
Sébastien erinnerte sich an den alten Fischer, der sich in der Diskussion, die während Paul Zeidlers Predigt ausgebrochen war, zu Wort gemeldet hatte. Dieser hatte die Annahme geäußert, dass sich die falschen Männer an die Spitze der Revolution setzen und sie für ihren eigenen, persönlichen Vorteil missbrauchen könnten. In François‘ Wahl war diese Befürchtung allerdings mit eingeflossen.
Der besagte Louis hingegen – Louis Auguste Blanqui,[1] der berühmt-berüchtigte Revolutionär, der sich derzeit in Gefangenschaft befand – war zweifellos der beste Mann, um den Arbeitern den richtigen Weg zu weisen.
François lag damit, dass sein bester Freund wusste, dass Louis das Chaos beseitigen würde, nicht falsch. Louis würde ihnen der Leuchtturm sein, den François für Thiers‘ Männer nicht ohne Berechtigung im Pfaffen sah. Bestimmt war es nicht so riskant, sich Georges Darboy[2] – niemand geringerem als dem Erzbischof von Paris, denn wen sonst sollte François meinen? – anzunehmen, als zu versuchen, an den Soldaten vorbei direkt an Louis heranzukommen.

Dennoch war auch François‘ Plan war ein Wagnis. Vielleicht war es wahr, was Sébastien im Zorn Paul Zeidler gegenüber geäußert hatte: Vielleicht fürchtete er weder ein göttliches noch ein weltliches Gericht. Aber vielleicht wollte er auch nur, dass es so wäre, und er unterdrückte seine Bedenken. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass er auch nur in eine Situation kommen würde, in der er vor die Wahl gestellt wurde, sich zu entscheiden, ob er irgendjemanden entführen wollte. Davon, dass es sich dabei um einen Priester und ausgerechnet um den Erzbischof handeln würde, ganz zu schweigen. Sébastien war Katholik und, wenn auch dem Klerus nicht sonderlich zugeneigt, regten sich leichte Skrupel in ihm, mit einem Geistlichen derart umzuspringen.
Diese Skrupel waren jedoch nicht laut genug, um die zustimmende Menge um ihn herum zu übertönen. Louis musste frei sein – zum Wohl aller und zur Sicherung ihrer Revolution. Sébastien ließ sich von der Begeisterung um ihn herum und dem Kampfeswillen seines besten Freundes anstecken. Besonders die entschlossene Frau, die sich ebenfalls bei seinem Besuch bei Paul Zeidler zu Wort gemeldet hatte und Sébastien mit ihrer Anwesenheit hier überraschte, erschien sehr enthusiastisch.

Sébastien musste für seine Antwort, die François sichtlich hoffend erwartete, nicht lang überlegen. Er schenkte seinem besten Freund ein entschlossenes Lächeln und legte ihm mit bekräftigendem Nachdruck seine Hand auf die Schulter.
„Deine Worte könnten nicht wahrer sein, François! Wir dürfen uns vom ersten Erfolg nicht blenden lassen. Wir dürfen ihnen Louis nicht überlassen, so viel ist gewiss, denn wir brauchen ihn nun. Ein Tausch – so wird es uns gelingen, ihn zu befreien!“, war Sébastien sich sehr sicher. Es würde funktionieren. In seinen Augen funkelte nun Tatendrang.
„Wenn du es wagen willst, mein Freund, bin ich an deiner Seite. Du weißt, du kannst auf mich zählen!“
 1. Louis Auguste Blanqui
 2. Georges Darboy
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #34 am: 24.11.2013, 19:41:49 »
Die Tage seit der Predigt in der Straße des Zweifels zogen an Pauls Geist vorbei, wie die Landschaft, wenn man aus einem Zug auf die Landschaft schaut. Paul arbeitete unentwegt und gönnte seinen Augen kaum Schlaf. Am Morgen sammelte er die Verwundeten und Betrunkenen von der Straße, am Vormittag stand er in der Küche und putzte Suppengemüse, am Nachmittag hausierte er und versuchte die Dinge zu bekommen, die er in den Tagen benötigte, nämlich Nahrung und Medizin, am Abend hielt er eine Andacht mit seinen Unterstützern und wen es von der Straße in das Haus verschlug und in der Nacht bereite er Bittschriften und Predigten vor. Doch so viel er auch tat, es schien als arbeiteten Zeit und Schicksal gegen ihn. Er hatte nicht genug Mitarbeiter und auch an Gütern konnte er nur sehr wenig versammeln[1].

An jenem Morgen lehnte er an der Wand einer Gaststätte, während er darauf wartete, dass ein Mitarbeiter im Restaurant Vorräte erbettelte. Er hatte sich einen Moment erbeten, um zu verschnauffen und um zu beobachten, was auf dem Platz vor sich ging. Er betrachtete die Plakate, die die Wahlen ankündigten. Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Der Ausgang der Wahl konnte sehr viel bedeuten. Wenn die Mehrheit für die konservativen Kräfte stimmte, dann würde der Aufstand vielleicht beendet werden. Wenn die Marxisten oder Blanquisten gewannen, dann würde der Konflikt eskalieren. Wie die Mehrheitsverhältnisse waren, das wusste Paul nicht. Er hatte in den vergangenen Wochen zu sehr mit einzelnen gearbeitet, als dass er wusste, was die vielen wollten. Dieser Gedanke brachte ihn aber auf einen anderen, nämlich dass manche Gruppen in den kommenden Tagen versüchen würden, gewaltsamen Einfluss zu nehmen - versuchen würden, Mitbürger einzuschüchtern, so dass sie ihr Wahlverhalten änderten. Paul fragte sich, wie frei die Wahl wohl sein würde.

Als er so nachdachte, erblickte er ein vertrautes Gesicht ganz in seiner Nähe. Es war das von Sébastien, der sich mit einem Mann beriet. Paul hatte nicht vorgehabt, sie zu belauschen, aber sie gaben sich auch keine Mühe, sich zu verbergen. Was sie besprachen, klang dunkel und nach Bandenkrieg. Paul konnte sich denken, welchen Louis sie meinten. Doch wer der 'Pfaffe' sein würde, das war ihm nicht klar. Für einen Moment erschreckte er sich, dachte, dass er selbst gemeint sein könnte. Doch das war unwahrscheinlich, beruhigte er sich, denn er arbeitete nicht für die andere Seite und war zu wenig bekannt, um in dem Konflikt von Bedeutung zu sein. Es musste ein bedeutsamer Geistlicher auf der Gegenseite sein, den sie da zu entführen gedachten. Also ein Katholik, schloss Paul für sich.

Paul beschloss, den beiden Männern noch etwas zuzuhören und erst dann zu beschließen, was er tun würde.
 1. passabler Wurf auf Führungsqualität (+2)
« Letzte Änderung: 25.11.2013, 11:09:49 von Paul Zeidler »
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Menthir

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    • Enwe Karadâs
Une nouvelle ère
« Antwort #35 am: 02.12.2013, 20:59:51 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:11 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Die Antwort Sébastiens ließ François deutlich ruhiger werden, seine Mimik entspannte sich und seine ganze Art derart, dass er sogar die rechte Hand locker in die Hosentasche steckte und die Spannung etwas verlor. Er strahlte jetzt über das ganze, so gezeichnete Gesicht und umarmte seinen Waffenbruder, seinen Gesinnungsbruder mit einiger und doch lässiger Inbrunst. "Sehr gut, Bruder. Ich habe auch schon die richtigen Männer beisammen. Wir können uns heute Abend schon treffen." Er strahlte voller Zuversicht und Vorfreude und zwinkerte sich sogar eine Träne der Erlösung weg. "Ich habe das fast alles schon vorbereitet. Ich habe tüchtige Männer und eine tüchtige Frau zusammen, die uns helfen werden. Wir können uns auf sie verlassen. Die haben ein Renommee von hier bis St. Petersburg für jenes, was sie für die Arbeiter in ganz Europa schon getan haben!" Wenn das Gespräch zwischen den dort stehenden Revolutionären nicht schon interessant genug war, verspürte Carl bei den folgenden Worten wohl jenes, was ein Hannoverscher Schweißhund[1] verspüren durfte, wenn er das Blut des gejagten Tieres witterte und es nun das verwundete Schalenwild stellen sollte. Und diese Spur führte, wie der Zufall es so wollte, von seiner Heimat bis nach Paris. So musste der Braunschweiger sich damals gefühlt haben. "Kennst du, mein lieber Sébastien, das Ehepaar Lavalle? Sehr verständige Menschen mit jeder Menge Erfahrung. Ich werde sie dir heute Abend vorstellen. Wir treffen uns nahe der Barrikade am Boulevard de Clichy[2] und suchen dann spontan eines der Lokale aus. So um acht."

Paul und Carl konnten von ihren Positionen besser sehen, wie sich ein kleiner Mann mit Hakennase, gekleidet in einen dunklen Regenmantel und dicker angezogen, als der Tag es wahrscheinlich nötig machte. Er hatte Sébastiens Worte und jene von François mit einiger Ausdauer angehört und jetzt trat er vor und riss die Ankündigung, vor der sie standen einfach herunter. Wütend trampelte der Mann, der nicht viel größer als fünf Fuß war und vom Alter und vom Hunger gezeichnet auf diesem Papier herum. "Putain de merde[3]! Das darf doch nicht wahr sein!" Wütend fuchtelt er mit seinem Gehstecken vor den beiden jüngen Männern herum. "Wie oft hat die Jugend geklagt, dass die Alten sie in den Tod treiben würden. Nennt die neue Jugend es nun Gerechtigkeit, wenn sie die Alten und Schwachen in den Tod treiben können? Ich bin ein alter Mann, verdammt nochmal." Als hätte er das Bedürfnis, dies immer noch beweisen zu müssen, obwohl sein vom Alter gezeichnetes Gesicht aussagekräftig genug war, schob er seine Manschetten den Unterarm hoch und zeigte seine runzelige Haut und die Altersflecken, die seinen Handrücken und die Handgelenke zierten, als habe er sich die schwer verdient. So schien es der alte Mann zumindest zu sehen. Er trug weiß-silbrige Stoppeln in seinem Gesicht, er hatte sich an diesen Morgen noch nicht rasiert. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Weg sich eine Zeitung, vielleicht die Le Temps[4], zu kaufen, in der er sicher auch erfahren würde, dass die Wahl stattfinden würde. "Seid doch froh, dass ihr die Wahl habt, junge Menschen. Wie lange wollt ihr uns sonst noch am Tropf halten für eure kindische Ambitionen?" Er seufzte aufgesetzt und machte sich auf von dannen zu marschieren, nicht ohne wütend auf die Ankündigung zu spucken. Wütend klaubte François die Reste des zertretenen Aushangs auf und stellte sich dem Alten in den Weg. Die Situation zeigte, wie angespannt Paris trotz dieser Wahlankündigung war. Da waren jene, die jetzt sagten, dass sie erst recht um ihr Recht streiten musste, dass sie erst jetzt die Chance bekamen, dass Fortitüde der Schlüssel zu diesem Erfolg war. Und dann waren da jene, welche so viel gelitten hatten in den letzten Monaten, dass sie sich einfach nur noch nach Frieden sehnten, welchen Namen dieser Friede auch tragen mochte, welcher Ideologie oder welchem Realismus dieser auch folgte.
"Nicht so schnell, alter Mann.", François baute sich vor dem kleinen, vom Alter gebückten Mann, der im Gegenzug unwirsch mit der Hand wedelte. "Was ist, Jüngling? Willst mir drohen? Willst mir erzählen, was ihr nicht alles für die Chance gelitten habt. Dass ihr im Gegensatz zu den Alten auf den Barrikaden gestanden habt, und sogar die Damenzimmer mitgenommen habt? Erzähl keinen Blödsinn, Junge. Die Frauen unter euch sind wohl die einzigen mit gewisser Courage, weil die sich ihr Recht nehmen. Aber ihr Jouvenceax[5]? Ihr tut geradezu, als seid ihr immer engagiert, als seid ihr immer in brass[6]. Nichts seid ihr, und wenn ihr viel arbeitet, glaubt nicht, dass ihr mehr arbeiten würdet als wir Alten. Glaubt mal nicht, dass euer Los leichter ist. Dass euch Hunger mehr belastet? Ihr seid in dem Alter, in dem unsere Söhne und Töchter sind, die wir erst gegen Preußen und nun für eure Revolutionen verlieren. Ihr bereitet uns einfach mehr Kummer, als ihr uns Stolz bereitet. Burschen seid ihr. Macht Sinniges mit eurer Zeit, aber hört auf euer Leben und unsere für dumme Ideen zu vergeuden." Sébastiens bester Freund war einen Moment überrumpelt und der Alte mit seiner fisteligen und doch entschlossenen Stimme, begann ihn einfach zur Seite zu schieben. Doch François hörte, wie viele junge Männer und auch einige Frauen, Mädchen zu tuscheln begannen und der alte Mann ihn jetzt wohl zu ignorieren gedachte. Sébastien, Paul und Carl konnten von ihren Positionen gut sehen, wie die Zornesröte ins Gesicht stieg und Sébastien wusste, dass sein Freund, sein Bruder im Geiste so impulsiv war, wie er selbst[7]. Sébastien spürte auch, wie es ihn zu übermannen drohte[8].

Ein Ruck ging durch die umstehenden Menschen. Die Aggressivität und die Unsicherheit der letzten Tage war wieder zu spüren. Was auch immer hier gesah, es entstanden Funken. Und das, obwohl ein kühler Wind über den Place Blanche wehte. Die Luft roch nach sich anbahnenden Regen. Ein paar junge Menschen fingen im Hintergrund an zu pöbeln. Sie riefen die so häufig fallenden Schlagworte, als könnte man sich und sein Gewissen an ihnen festketten. Ein paar ältere Männer stellten sich zusammen und näherten sich dem Alten, der François verbal angegriffen hatte. Dieser Konflikt war zu einem gewissen Teil auch einen Generationenkonflikt. Und schon wieder bahnte sich Gewalt an. Als wäre Paris gar nicht im Griff der Preußen, oder im Griff von Republikaner oder im Griff von Revolutionären. Es war so als habe die Gewalt die Willkür geheiratet und zusammen verunsicherten sie nun die Straßen dieser so geliebten, dieser so gehassten Stadt: Paris.
 1. Hannoverscher Schweißhund
 2. Boulevard de Clichy
 3. Bedeutet so viel wie: Verdammte Scheiße!
 4. Le Temps
 5. Jünglinge
 6. In brass sein bedeutet sowas wie: In Arbeit versinken, im Stress sein.
 7. Gespür (+3), um zu wissen, wie François reagieren wird. Samuel bekommt +2 auf den Wurf, da er François so gut kennt.
 8. Ich spiele deinen Aspekt Meine Faust, mein Freund an. Entweder musst du jetzt dementsprechend handeln und bekommst dafür einen Schicksalspunkt (weil es dir deutlich ein Nachteil in der Szene sein kann) oder du zahlst einen Schicksalspunkt und darfst frei handeln.
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #36 am: 05.12.2013, 22:08:36 »
François schien mehr als zufrieden mit Sébastiens Antwort zu sein und erleichtert, dass diese so ausgefallen war wie sie ausgefallen war, zudem. Der Tatendrang seines besten Freundes war ansteckend und regte dazu an, sich auszumalen, wie sie gefeiert werden würden, die tapferen Leute, die Louis befreit haben würden. Diese Aktion würde ihrer Revolution den nötigen Halt geben – ein Fundament legen für alles Weitere, das kommen mochte. Selbstverständlich sagte Sébastien zu, heute Abend zum genannten Zeitpunkt am genannten Treffpunkt zu sein. Er freute sich schon darauf, das Ehepaar Lavalle kennenzulernen, und auch die anderen, die François erwähnt hatte.

Doch der sich aus der Menge lösende Alte störte die wiedergewonnene Freude und François‘ Entspannung, die sich soeben erst eingestellt hatte. Aber nicht nur er, sondern auch Sébastien sah mit aufkommender Wut mit an, wie runzlige Narr mit dem Aushang umsprang – dem Grund, warum die Arbeiterschaft der Stadt Paris feierte: es würde Wahlen geben. War allein die Misshandlung dieses bedeutsamen Fetzen Papiers schon eine grobe Beleidigung ihrer Sache, war das Gefluche, das Gemecker und der Spott des alten Mannes der Unverschämtheit die Krone auf. Dass François sich in seiner Ehre offenbar ausreichend verletzt fühlte, dass ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg, war für Sébastien wenig verwunderlich. François fühlte sich gedemütigt und der vom letzten Kampf noch gezeichnete, junge Arbeiter mochte es gar nicht, vor Menschen gedemütigt zu werden. Sébastien kannte seinen besten Freund gut genug, um sich sehr sicher zu sein, dass dieser gereizt genug war, um kurz davor zu sein, nicht nur dem Alten eine zu verpassen, sondern auch die Tuschler mit Gewalt zum Schweigen zu bringen.

Sein eigener Körper stand ebenfalls unter Anspannung, die Hände hatten sich zu Fäusten geballt, und Hitze brannte auf seinen Wangen. Es fehlte Sébastien nur noch ein kleiner Anlass, um aus der Haut zu fahren – und es war scheinbar kaum zu vermeiden, dass man ihm diesen auch lieferte. Unruhe machte sich breit und Aggressivität lag schwer über der Menge und als Sébastien einige ältere Männer ausmachte, die sich zusammenrotteten und auf sie zukamen, war es um seine ohnehin schon bröckelnde Selbstbeherrschung geschehen. Der sich anbahnenden Bedrohung annehmend, um seiner brodelnden Wut Luft zu machen und François den Rücken freizuhalten – Sébastien wollte seinem Freund den dreisten Alten gern überlassen –, stapfte er schnurstracks auf die offensichtlich Streit Suchenden zu, wobei er einfach jeden wegdrängte, der ihm dabei im Weg stand. Dann schlug unvermittelt zu.[1] Für Diskussionen oder einen Austausch von Beleidigungen war er nicht in der passenden Stimmung. Niemand brauchte von ihm erwarten, dass er es einfach hinnahm, sich beleidigen und bedrohen zu lassen.
Alter schützt vor Torheit nicht.
Und auch nicht vor Sébastiens Zorn.
 1. Ich spiele Meine Faust, mein Freund aus. Der Wurf hierzu folgt.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Carl von Lütjenburg

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« Antwort #37 am: 06.12.2013, 00:25:56 »
Carl stand im kalten Regen auf dem Place Blanche und sah versonnen über die Köpfe der Menschenmassen hinweg in die Ferne. Für den Beobachter wirkte er wohl wie jemand der, dem Strom der Menschen auf den Platz gefolgt war und nun von der veränderten Situation immer noch etwas überfordert war, doch tatsächlich hatte Carl die Situation recht schnell erfasst und plante sein weiteres Vorgehen.

In den letzten Tagen hatte er -  in Ermangelung einer guten Spur - Paris weiter erkundet, sich mit dem Gelände vertraut gemacht und versucht Anhaltspunkte zu finden, die ihm bei seinem Auftrag weiterhelfen würden. Doch dieser Moloch von Stadt war noch unübersichtlicher als Carl ohnehin schon erwartet hatte, woraus resultierte, dass er sich wohl nicht mehr in der Stadt verlaufen würde, aber eine wirkliche Kenntnis seines Einsatzortes konnte er noch nicht sein Eigen nennen. Die Suche nach Hinweisen verlief nicht zuletzt deshalb, aber auch aus dem Grund, dass er kaum über nennenswerte Kontakte in der Pariser Bevölkerung verfügte, sehr schlecht. Also kehrte er häufig zum Stab zurück um sich dort mit Informationen zu versorgen, was allerdings nicht mehr als ein Notnagel darstellte. Schließlich wurde er in die Stadt geschickt um herauszufinden, was die Armee nicht ohne Weiteres in Erfahrung bringen konnte. Doch gänzlich unnütz war es sicherlich nicht. Unter anderem hatte Carl erfahren, dass der Sohn General Lecomtes in der Stadt war, wenn er diesen aufspüren konnte, würde er so vielleicht Zugang zu in der Stadt verbliebenen Republikanern erhalten.
Nach seinen Informationen war es nicht gesagt, dass die Sozialisten die Wahl schon gewonnen hatten und es schien noch viele unentschlossene zu geben. Also konnte jede Veränderung der Situation die Wahl signifikant beeinflussen. Zum Einen war dies ein Grund zur Hoffnung für Carls Arbeit und ebenfalls eine Gelegenheit für ihn, auf der anderen Seite brachte es ihn vor ein Dilemma. Sollte er versuchen Gefahren abzuwenden, die die Wahl für Thiers und damit Preußen ungünstig beeinflussen würden, oder sollte er seine Zeit darauf verwenden seinerseits Impulse zu initiieren?

Alle Gefahren abwenden zu wollen war ein unmögliches Unternehmen, dass war Carl klar. Genauso offensichtlich war es, dass man immer im Vorteil war, wenn man selbst agieren konnte und nicht darauf beschränkte auf sich entwickelnde Situation reagieren zu wollen. Dennoch wurde er zunächst dazu gezwungen zu reagieren anstatt selbst zu handeln:

Selbstverständlich hatte er Sébastien und François in seiner Nähe bemerkt und konnte einen großen Teil ihres Gesprächs mithören. Bisher waren die beiden, seine einzige Verbindung zu den Arbeitern und Sozialisten, allein deshalb hatte er sich entschlossen ein Auge auf sie zu haben. Die beiden wollten eine Geisel nehmen, um einen der Ihren frei zu pressen, soviel hatte er verstanden, aber die Menge war zu laut, als das Carl die Namen der Personen erhaschen konnte. Allerdings hörte er einen Namen, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: Lavalle!

Die Lavalles waren ein Paar von Mördern und Söldnern, mit denen er sich im Vorfeld des Krieges gegen die Dänen herumschlagen hatte müssen. Dabei hatten sie einen Studienfreund Carls sowie mehrere Soldaten und einen weiteren Studenten erschossen und einen schwedischen Geschäftsmann und einen holsteinischen Adligen zu erpressen versucht. Zwar konnte der Schaden, den diese Kriminellen damals verursacht hatten in gewissen Grenzen gehalten werden, doch waren sie weitgehend unversehrt davongekommen. Kurzum: Carl hatte mit den beiden noch eine Rechnung offen. Allerdings war er klug genug ihnen nicht - wie er es damals versucht hatte - schnurstracks entgegen zulaufen. Er brauchte dringend Verbündete in dieser Stadt, das war ihm nun endgültig klar. Die Lavalles würden ihn sicherlich wiedererkennen, also würde es von nun an deutlich gefährlicher für ihn sich in der Gegenwart von Sébastien und François aufzuhalten und es schien ihm nicht mehr ratsam, sich den Arbeiten zum Schein anzuschließen, um mehr über ihre Pläne zu erfahren. Damit blieb ihm im Augenblick eigentlich nur Paul Zeidler. Der Alte hatte deutlich gemacht, dass er mit der Deutschen Sache nichts mehr gemein hatte, aber dennoch hatten er und Carl ähnliche Motive. Sie beide versuchten dem Blutzoll, den die Revolution unweigerlich fordern würde, entgegenzutreten.

In diesem Augenblick erkannte Carl, dass sich die beiden Arbeiter offensichtlich dazu bereit machten einen Mann anzugreifen, der zuvor heftig mit ihnen diskutiert hatte. Der Mann war alt und wohl nicht einmal eine Herausforderung für auch nur einen der beiden jungen Franzosen, doch bauten sie sich beide vor dem Alten auf, wutschnaubend und mit roten Gesichtern.
Verärgert schüttelte Carl den Kopf. Kannte dieses kulturlose Pack denn keine Grenzen? Ehe er sich versah, hatte er sich einen Weg durch die Menschen gebahnt, die zwischen ihm und den Streitenden standen. Doch er schaffte es nicht rechtzeitig zu den Arbeitern zu gelangen. Sébastien hielt seinem Freund den Rücken frei und war seinerseits zum Angriff gegen Umstehende übergegangen, die dem Alten beigepflichtet hatten. Hastig bemühte sich dr preußische Offizier zwischen die beiden Arbeiter und den Alten zu gelangen, vor den er sich schützend postierte.
 "Das ist das Gesicht Ihrer Revolution? Einschüchterung der Alten, die schon so viel für dieses Land gegeben haben und Prügel für jene die anderer Meinung sind? Sie klagen die Unterdrückung an, die Ihnen zu Teil wird und üben sich zugleich selbst als Tyrann..." Carl machte keine Anstalten seinerseits zu kämpfen oder handgreiflich zu werden, seine Körpersprache machte jedoch klar, dass er weitere Handgreiflichkeiten nicht zulassen würde.
« Letzte Änderung: 11.12.2013, 22:57:36 von Carl von Lütjenburg »

Paul Zeidler

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« Antwort #38 am: 11.12.2013, 21:44:02 »
Paul war erschüttert, als er mit ansehen musste, wie der junge François den Alten bedrohte und auch Sébastien schon drauf und dran war, eine Schlägerei zu entfachen. "Himmel, wenn er schon keine Ehrfurcht vor Gott und dem Himmlischen Gericht hat, dann doch wenigstens vor den irdenen Vertretern oder den Alten. Ich sage, dieser Mann ist verdorben von Jugend an und fern von allem was gut und heilig ist. Diesen vergisst Gott schon...", entfuhr es Paul. Schnell trat er neben von Lütjenburg und den Alten. "François! Sébastien! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Sie irren und machen sich schuldig!"
« Letzte Änderung: 11.12.2013, 22:46:54 von Paul Zeidler »
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Menthir

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« Antwort #39 am: 12.12.2013, 00:33:29 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:12 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Ein ausgetrockneter Sommerforst brauchte manchmal nur einen zufälligen Funken, um sich zu entzünden. Manche Bauernhäuser brannten samt ihrer Ställe lichterloh, weil ein an sich erfahrener oder ein zu unerfahrener Landwirt zu wenig Geduld hatte und das Heu zu feucht und zu früh einbrachte, einlagerte und es sich einfach selbst entzündete[1]. Und so war es wohl auch mit menschlichen Ideen in ihrem Spannungsverhältnis mit der Realität. Wenn die Idee spät geäußert wurde, vielleicht zu spät, reichte manchmal nur ein Funke, um eine Gesellschaft zu entzünden und die Flammen als Gleichnis für die Gewalt, welche durch die Gesellschaft brandete, zu sehen. Wenn sie jedoch zu früh eingebracht wurden, mochten sie wirkungslos sein oder scheinen, und dann eine Kette von Ereignissen hervorbringen, welche zu einer gesellschaftlichen Selbstentzündung führte. War Paris ein trockener Wald oder feuchtes Heu?

Sébastien holte aus und spürte wie im umgebenden Gedränge sein Schlag, obwohl der Erfahrung entspringend, durch einen Schubser etwas an Kraft verlor und seinem Gegenüber eine Parade ermöglichte. Sein Kontrahent, den er sich ausgeguckt hatte, war ein hagerer Mann mit dreckiger Haut und den ansetzenden grauen, strähnigen Haaren als Erkennungsmerkmal verblassender Jugend. Dieser war dem alten Mann sofort zu Hilfe geeilt und Sébastien sah an der unregelmäßig kantigen Nase und die Schwielen auf den Fingerknöcheln des Mannes, dass er seine Probleme in solchen Situationen ähnlich wie Sébastien löste. Es war sicher eine gute Entscheidung, ihm so zuvorzukommen. François hatte das Gedränge verursacht. Sofort als Sébastien den aufrückenden Störenfrieden entgegenpreschte, entlud sich all der Frust, der sich in dem jungen Mann aufgestaut hatte. Ein Schlag schnellte empor, ein Schrei des alten Mannes war zu hören, als ihm die Faust auf die Nase raste und das Blut schnell zu strömen begann. Die jungen, pöbelnden Männer, welche sich Sébastien und François angehörig fühlten, drängten schnell nach vorne und Sébastien spürte das Gedränge in seinem Rücken. Von vorne drängten jene älteren Herren, aber auch einige junge Männer hervor, und versuchten gewaltsam, ebenso drängend wie dringend, zu dem alten Mann zu gelangen, der es wagte, sich mit dem Blanquisten anzulegen. Irgendjemand stieß Sébastien den Arm in die Hüfte, er verzog den Schlag leicht. Sein Kontrahent blockte mit dem rechten Unterarm, Sébastien hatte mit einiger Kraft getroffen. Der Mann würde es am nächsten Tag spüren, doch es war eben nicht das ansonsten ungeschützte Kinn. Ein Treffer, der den Mann sicher schnell zu Boden geschickt hätte.

Mehr Gedränge kam auf, Unbeteiligte warfen sich dazwischen, Schläge wurden ausgetauscht. Ein paar Fäuste flogen, aber eben Unbeteiligte warfen sich dazwischen, hielten Männer und Jungen und auch zwei Frauen, an den Armen, an den Hüften, stellten sich davor, versuchten die Schläge abzuhalten. Manche von ihnen aßen ein, zwei Schläge. Sébastien erkannte, wie auch Paul Zeidler und dieser Charles Lutjenbourg sich dazwischen drängten und zwar direkt vor ihn. Der hagere Mann erkannte die Öffnung innerhalb von Sébastiens Deckung und versuchte zuzuschlagen. Auch er wurde vom Gedränge und von Carl von Lütjenburg, der sich dazwischenschob, etwas abgelenkt[2].

Als Carl und Paul und andere an sich Unbeteiligte sich dazwischenschoben, um ihre Männer, Freunde und Kinder von Torheiten abzuhalten, hielten die um sich geworfenen Fäuste für einen Moment inne. Kurz brachte man ein wenig Luft zwischen die Streithähne, sah, dass es insgesamt um die dreißig Rangelnde sein mussten, während Schimpfworte, komplexe Beleidigungen und Schmerzlaute an die Luft gepresst wurden. Paul konnte sehen, wie der alte Mann, der von François geschlagen wurde, an der Nase blutete. Doch der Schlag hatte ihm die Nase immerhin auf den ersten Blick nicht gebrochen. Ein Blanquist, der neben François stand, lachte über den Alten, wie er von zwei Männern gestützt vor Schmerzen wimmerte. "Das hast du davon, du altes Republikanerschwein!", trotzte dieser junge Blanquist, ein blondhaariger, weichbackiger Junge von vielleicht sechszehn Lenzen. Und sofort spürten Carl und Paul in ihrem Rücken Gedränge. Jetzt waren es die Männer in ihrem Rücken, die sich herausgefordert fühlten. Carl spürte ein besonders kräftiges Drücken in seinem Rücken, welches nicht von einem menschlichen Körper stammte. Es nötigte ihn, sich umzusehen.

Hinter ihm stand ein Mann von stattlichen Maßen, vielleicht um die sechs Fuß hoch und was ihn von der Menge unterschied, war seine kräftige Gestalt und seine volle Wangen, die ihn als jemanden ausmachten, der keinen Hunger gelitten hatte die letzten Monate. Sie glühten rot vor Kälte und Anspannung. Er hatte saubere, junge und doch schon erwachsene Züge, eine straffe Haltung wie ein Offizier, nicht wie ein armer Mann oder Arbeiter. Was Carl in seinem Rücken spürte war eine improvisierte Waffe. Es mochte ein Tischbein oder etwas ähnliches sein. Es sah an einem Teil gesplittert aus, wahrscheinlich dort, wo es aus dem Tisch oder dem passenden Gegenstand gerissen wurde. Es war aufwendig gedrechselt und aus teurem, dunklen, lackierten Holz hergestellt. Seine Stimme passte nicht zu seiner kräftigen Erscheinung. Sie war fistelig und jung, dennoch erzürnt. "DIR WERDE ICH MANIEREN ZEIGEN! EIN ALTEN MANN ANGREIFEN! KOMM HER!", brüllte er François entgegen und reckte drohend das gesplitterte Tischbein, welches er vielleicht aus einer der Barrikaden in der Nähe gefischt hatte.

Die Situation drohte jede Sekunde zu eskalieren. Eine Schlägerei stand unmittelbar bevor und sie würde das Klima am Montmatre auf Dauer trüben können, doch das hielt die Leute nicht davon ab, wieder mit dem Drängen und Schubsen zu beginnen. Carl und Paul schienen in einem Mahlstrom[3] aus Gewalt gefangen, als sich die Reihen der sich Schubsenden um sie schloss...
 1. Heuselbstentzündung
 2. Wegen des Gedränges gibt es auf Verteidigungswürfe, die sich auf Ausweichen beziehen, einen Malus von -1, derselbe Malus gilt für Angriffe. - Wegen der Infos bezügliches des Angriffes gegen dich, Sébastien, siehe OOC.
 3. Mahlstrom
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Sébastien Moreau

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« Antwort #40 am: 16.12.2013, 00:05:10 »
Sébastien schaffte es im Gedränge mit Mühe, die sich nähernde Faust seines Gegners mit dem linken Arm aus der Bahn zu lenken. Der Grund dafür, dass der Platz plötzlich so knapp wurde, wurde Sébastien schnell klar: er erkannte Charles Lutjenbourg, der sich zwischen ihn und den älteren Mann mit der kampfgebeutelten Nase schob, wieder. Sébastien ließ sich davon tatsächlich unterbrechen, auch wenn er die Fäuste nicht sinken ließ, um seine Deckung nicht einzubüßen. Wütend durchbohrte er seinen Gegner über Charles‘ Schulter hinweg mit einem streitlustigen, herausfordernden Blick.

„Verfolgen Sie uns etwa?“, schnaufte er kurz angebunden, ohne den fremden Mann aus den Augen zu lassen, als sich auch noch Paul Zeidler zu Charles gesellte, und versuchte dabei, mit seiner Stimme gegen den Lärm um sich herum anzukämpfen. Sébastien hatte wenig Geduld für solcherlei Spielchen übrig. Sein Blut kochte und er hatte bereits vom süßen Adrenalinrausch gekostet, den eine Schlägerei immer mit sich brachte. Er hätte gut Lust dazu, Charles einfach zur Seite zu drängen, auch wenn dies vielleicht bedeuten würde, auch gegen ihn antreten zu müssen.
„Die spucken auf unsere Revolution!“, wies er Charles‘ die Anschuldigungen aufgebracht zurück, denn dies hatte der vorlaute Alte buchstäblich getan, nachdem er auf der abgerissenen Wahlankündigung herumgetrampelt hatte. Aber nicht weniger war auch Paul Zeidler damit angesprochen. Jemandem mit einem kräftigen Schlag zur Vernunft zu bringen, um Demütigungen aus der Welt zu schaffen, war kein Akt der Tyrannei oder ein Fehler. Es war das gute Recht eines jeden Mannes, der sich beleidigt fühlte – wenn man Sébastien fragte. François hatte sich diesen Recht genommen und er selbst war einem Angriff vorbeugend zu vorgekommen, in dem er sich einem aggressiv wirkenden Neuankömmling gewidmet hatte, von dem eine Bedrohung zu erwarten gewesen war. Charles‘ und Pauls Ignoranz ließ Sébastien mit den Zähnen knirschen.
„Wir haben uns lang genug bevormunden las..!“ Der Rest ging in dem erbärmlich fisteligen Gepolter unter, das ein junger, gut genährter Hüne von sich gab, der François Strafe mit einem improvisierten Prügel – einem Tischbein offenbar – androhte.

Sébastien ließ sich dadurch vom aktuellen aufgezwungenen Gespräch ablenken:
„NIMM DEINE FÄUSTE UND KÄMPF WIE EIN MANN, DU FEIGER SAFTSACK!“, brüllte er mit noch immer erhobenen Fäusten gereizt zurück, entschlossen, seinen besten Freund zu verteidigen, und machte eine unflätige Geste, um die herausfordernde Beleidigung zu unterstreichen.
„Oder hast du keine Ehre im Leib?“, höhnte er. Von so einem verwöhnten Jüngling ließ Sébastien sich nicht einschüchtern.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #41 am: 21.12.2013, 01:10:38 »
Paul kam ins Gedränge der Masse. Sofort machte sich in ihm ein Gefühl von Beklommenheit breit, die allzu bald in Panik umschlagen würde, wenn ihm alle Bewegungsfreie genommen war. Paul blickte nach vorne und nach hinten. Er konnte nun versuchen, sich den Weg aus der Menge zu bahnen. Oder er nahm seine Pflicht wahr und drang zu Sébastien durch.

Paul atmete tief durch und entschied sich für letzteres. Er schob die beiden Männer vor sich beiseite und drückte seinen Körper nach vorne, bis er nahe bei Sébastien stand. So laut, dass es die anderen auch hören konnten, rief er: "Sébastien, Sébastien, es ist richtig, dass man sie bedrückt hat und dass man sie ausgebeutet und gedemütigt hat. Das ist böse und schlimm zu ertragen und ich wollte, dass wir diese Zustände ändern werden. Aber doch nicht mit Zorn in unseren Sinnen und Vergeltungssucht in unseren Fäusten. Lassen wir doch nicht zu, dass so viel Blut an unseren Händen klebt und dass wir unser gerechtes Anliegen beschämen. Sébastien, kann ich noch zu ihnen durchdringen? Wo sind sie? Wo ist der gute Mensch in Ihnen verborgen? Haben Sie nicht Frau und Familie zu Hause, für die sie sorgen müssen und die sie lieben? Soll ihre Frau erfahren, zu welchen Taten sich ihr Mann hat hinreißen lassen? Sollen Ihre Kinder ohne Vater aufwachsen? Sie stürzen sich ins Unglück, Sébastien, und mit sich ziehen sie alle, die sie lieben!"

Paul atmete schwer, als er dies alles gesagt hatte und blickte sorgenvoll Sébastien an. Wenn seine Mahnung nicht funktionieren würde, was würde er dann machen? Dann ginge wohl die Schlägerei zwischen den beiden los und vielleicht würde die Situation auf dem Platz eskalieren. Und was würde er tun? Würde er sich zwischen die beiden werfen? Sébastien könnte stattdessen auf ihn einschlagen. Wenn er dann aufhören würde zu schlagen, dann wäre es das vielleicht wert, aber warum sollte er aufhören zu schlagen, nachdem Paul schon am Boden lag und alle über ihn treten würden? Das Blut pulsierte in Pauls Ohren.
« Letzte Änderung: 21.12.2013, 01:33:39 von Paul Zeidler »
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Carl von Lütjenburg

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« Antwort #42 am: 22.12.2013, 00:29:21 »
Carl schaute leicht verdutzt, als die zierliche Gestalt Paul Zeidlers neben ihm auftauchte und der alte Mann mit fester Stimme zu sprechen begann. Soviel Mut hatte er dem Prediger vielleicht doch nicht zugetraut. Andererseits war Zeidler schließlich immernoch ein Deutscher und eben kein Franzose. Der Alte glaubte an seine Worte und Carl hoffte aufrichtig, dass er Sébastien und auch die anderen Streithähne wachrütteln konnte. Er konnte sich spontan kein Szenario vorstellen in dem es auch nur entfernt hilfreich sein könnte, wenn hier und jetzt eine Schlägerei zwischen Republikanern und Blanquisten ausbrach. Eine Unruhe die hier ausbrach würde vielleicht die Gemüter in der Stadt entzünden und zu einem nicht mehr zu kontrollierenden Aufstand führen - eine deutlich schlechtere Alternative zu einer freien Wahl.

Die Menge schien für einen Moment innezuhalten allein durch die Tatsache, dass Paul Zeidler mehr als einen einzigen Satz in hörbarer Lautstärke in ihrer Mitte erschallen ließ. Carl nutzte den Augenblick und schob  ein paar Franzosen von sich und Paul weg[1]. Zum Einen um Paul mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, zum Anderen aber auch, falls Paul und Carl den beginnenden Aufruhr nicht aufhalten können sollten. Selbst wenn es nur ein oder zwei Schritte sein sollten, mit etwas Anlauf würde es leichter sein sich und Paul aus der Menge zu retten. Carl fokussierte Sébastien, verschaffte sich aber aus den Augenwinkeln auch einen Eindruck von den Umstehenden und erwartete die Reaktion auf Pauls Worte. "Bleiben Sie bei mir, sollte es schief gehen.", flüsterte er Paul leise auf deutsch zu.
 1. Gewalt +1 (Durchschnitt)

Menthir

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« Antwort #43 am: 09.01.2014, 23:12:16 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Nicht einen einzigen Meter wichen sie. Carl konnte drücken und schieben, ziehen und zerren, sie wollten einfach nicht weichen und wenn er es schaffte, einzelne Glieder aus dem Weg zu bringen, ganze Personen aus dem Gleichgewicht zu hebeln, die Masse hielt sie fest, drückte sie zurück. Paul und Carl waren zwischen zwei Wellenberge unterschiedlicher Couleur[1] geraten. Eine gefährliche Situation, schließlich waren sie die Brandungspfeiler, welche zwischen - zumindest einem Teil - dieser Wellenberge standen und von beiden Seiten so gefährdet waren, dass sowohl die Blanquisten und jene, welche von den Blanquisten als Republikanerschweine bezeichnet wurden, sie zerdrücken konnten. Würde jemand in einer Spirale von Gewalt, in einem Hagel von Tritten, Bissen und Schlägen anerkennen, dass die beiden Deutschen, die dort zwischen den Fronten standen, eigentlich - zumindest für diesen Konflikt - einen neutralen Standpunkt einnahmen?
Wenn noch unter diesem Männern ein beobachtender Republikaner mit ausreichender Bildung oder mit einem Auge für die Zeit und genügend Information war, ihm wäre diese Ironie der Geschichte offenbar geworden. Waren es vor noch zwei Monaten die Deutschen, welche die vielen Kommunisten, Republikaner, Liberalisten, Sozialisten und politisch Uninteressierten in Paris belagerten und ihnen die Luft zum Atmen nahmen, waren es jetzt diese so unterschiedlich denkenden Männer, welche alle mit der Trikolore[2] argumentierten, welche zwei Deutsche mit ihrer Art und mit der Drohung von Gewalt belagerten und ihnen die Luft zum Atmen nahmen...

Sébastiens Worte hatten einen gewissen Effekt auf den Mann mit der stolzen Haltung. Nicht, dass sie ihn einhalten ließen, doch verschob sich scheinbar das Ziel des hünenhaften, wohl genährten, jungen Mannes. Er ließ nicht an seine Ehre appellieren und wild spuckte er aus und schob ein paar nachdrängelnde, ebenfalls junge Männer wieder nach hinten. Er zeigte mit dem Tischbein auf den jungen Sébastien. "Ein kommunistischer Hurenbock appelliert an die Ehre eines Franzosen? Dass ich nicht lache!", spottete er mit seiner Fistelstimme, die nicht zum Spotte gemacht schien und die ihm dennoch aus Zorn dazu gereichen musste. "Euer Wahnsinn hat mir Teile meiner Familie genommen. Dafür werde ich dir ein paar Knochen nehmen!" Wütend drängte er jetzt vorwärts und versuchte Carl und Paul aus dem Weg zu schieben[3]. Ein Unterfangen, was nicht ganz einfach war. Hinter ihm drängten die jungen Männer wieder vor. Carl konnte deutlich erkennen, dass sie alle dieselbe Haltung hatte, wie der junge Mann. Sie waren mit ihren genährten Bäuchen, mit ihrer nicht immer stämmigen, doch dann drahtig-gestählten Art auffällig, auch wenn sie sich wenig glaubhaft in Lumpen und Loden[4] kleideten[5].

Irgendwo in der Ferne ging eine Kirchenglocke. Obwohl es den meisten müßig war, in so einer Situation darüber nachzudenken, welche Kirche es nun sein mochte, kannte Paul die Kirchen seiner Umgebung gut, welcher Konfession sie auch angehörten. Der helle Klang der Glocken stellte dieser neue, keine zehn Jahre alte Kirche heraus. Es war die Notre-Dame de Clignancourt[6], jene Kirche, welche die ungewöhnliche Geschichte zwischen Deutschen und Franzosen, von den einen als Erbfeindschaft[7] bezeichnet, von anderen mit Ungläubigkeit betrachtet, in ein anderes Licht stellte. Joseph Merklin[8], ein Deutscher, der in Paris lebte, hatte die Kirchenorgel gebaut und war zu Beginn des Krieges geflohen, er hatte fliehen müssen, da er weder bei den Radikalen unter den Franzosen noch aufgehoben war, noch unter den Preußen. Paul hatte wahrscheinlich einmal mit ihm gesprochen, kurz bevor er floh. Paul glaubte im Getümmel, im Geschreie, im Glockenklang etwas von der Orgel zu hören, obwohl die Kirche zu weit entfernt war. Die Menschen schubsten sich, sie schrien sich an, sie beleidigten sich und sie erhoben wieder die Fäuste. Die Masse drängte sich weiter zusammen, der Glockenklang ging im wütenden Gebrüll unter, Paul und Carl hatten keinen direkten Fluchtweg mehr, sie waren zwischen den Streitenden eingekesselt, und sie sahen den Alten nicht mehr, der von François geschlagen wurde und jede Sekunde würde die Keilerei beginnen. Es war nur noch Sekunden davon entfernt...
 1. Couleur
 2. Trikolore
 3. Carl darf einen reaktiven Wurf auf Gewalt machen und muss mindestens +0 erreichen, um nicht aus dem Weg geschoben zu werden. Sollte Carl aus dem Weg geschoben werden, könnte Sébastien angreifen oder eben der junge Mann nächsten Beitrag.
 4. Loden
 5. Wurf gegen Gespür +2 für Carl, gegen +3 für alle anderen Charaktere
 6. Notre-Dame de Clignancourt
 7. Deutsch-französische Erbfeindschaft
 8. Joseph Merklin
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #44 am: 12.01.2014, 00:14:01 »
Auch wenn Sébastien Paul nicht antwortete, sondern stattdessen schwieg und Aufwühlung schwer atmete, verriet sein Blick wohl, was er dachte. Die sehr bewusst gewählten Worte des Predigers gingen nicht spurlos an ihm vorbei. Der junge Arbeiter liebte seine Familie und wollte jeglichen Schaden von ihr abwenden. Vielleicht traf ihn Paul Zeidlers mahnende Ansprache deswegen derartig, dass er tatsächlich Scham und leichte Verunsicherung empfand.

Nein, er wünschte nicht, dass seine Joséphine hiervon erfuhr, denn das würde sie nur bekümmern, trotzdem er dies alles nur für sie und die Kleinen tat. Damit war, zugegebenermaßen, nicht die aktuelle Eskalation eines Streits gemeint, sondern vielmehr sein allgemeines Streben nach dem Aufbau einer Grundlage für ein besseres Leben, das ihn erst inmitten diese Menge voller Streitlustiger gebracht hatte. Er war kein schlechter Mensch, zumindest nahm er sich selbst nicht als solchen wahr, und in den Tod stürzen wollte er sich nicht. Paul hatte Recht damit, dass Sébastien seine Familie damit ebenfalls ins Unglück reißen würde. Doch ein besseres Leben in Würde, mit Bildung und ohne Ausbeutung und Hunger, war es, was Sébastien sich für seine Kinder wünschte. Er war bereit, für eine gerechte Sache zu kämpfen, für die er die drei hohen Ziele der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hielt. Dass ein Mann Gottes hingegen Bibelverse und Gewaltlosigkeit vorzog, auch wenn dies eher Stillstand oder Verschlechterung als Fortschritt bedeutete, wunderte Sébastien nicht.

Tatsächlich hegte er aber nicht den Wunsch, Paul oder den sonderbaren Charles zu verletzen. Die Ermahnung des älteren Mannes trug zwar nicht dazu bei, dass er sich beruhigte, denn da sie ihm ein schlechtes Gewissen machte, schürte sie eher Wut, allerdings würde er gegen einen Arzt und Priester, der zudem François‘ zusammengeflickt hatte, keinen Schlag führen, solange er sich nicht dazu gezwungen sah.

Um seinen besten Freund machte sich Sébastien in diesem Gedränge mehr Sorgen als um sich selbst, denn er hatte Vertrauen ihn seine eigenen Fäuste, aber François‘ Schulter und Nase waren noch nicht heil und würden diesen anfällig machen. François war der Grund, warum Sébastien sich nun nicht zurückzog, denn er würde seinem Bruder im Geiste beistehen und ihn nicht der Wut Republikaner überlassen – da mochten Paul Zeidlers Appelle noch so ergreifend sein. Ein kleiner Erfolg war es bereits, dass Sébastien die Aufmerksamkeit des Tischbeinrüpels auf sich gelenkt hatte, wobei weniger erfreulich war, dass dieser seine improvisierte Waffe nicht wegwarf, um sich stattdessen im Faustkampf zu messen.

Sébastiens Antwort auf dessen Provokation und Beleidigungen fiel kurz und deutlich aus: Er spuckte aus und hob die Fäuste kampfbereit in Verteidigungshaltung. Der junge Arbeiter wollte keine Angst zeigen, obwohl er an einer Front zweier aufgebrachter Gruppierungen stand, und der Gegner, der es auf ihn abgesehen hatte, mit dem Tischbein gute Chancen hatte, die Drohung, ihm ein paar Knochen zu nehmen, in die Tat umzusetzen.

„Verschwinden Sie von hier, bevor Sie verletzt werden!“, riet Sébastien Paul, aber auch Charles, hörbar ungehalten, aber ohne seinerseits drohen zu wollen. Beide stellten sich offenbar auf keine Seite, was aber nicht bedeutete, dass sie Unbeteiligte bleiben würden, sobald die Schlägerei ausbrach. Charles versperrte Sébastien den Weg zu dem Kerl mit dem Tischbein genauso, wie er diesem auch im Weg stand, und nur weil Sébastien sich vorbeiprügeln wollte, bedeutete dies nicht, dass das aggressive Großmaul mit der lächerlich dünnen Stimme dies nicht in Erwägung ziehen würde.
„Liberté, égalité, fraternité!“

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