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Autor Thema: Une nouvelle ère  (Gelesen 56409 mal)

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Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #60 am: 09.02.2014, 13:49:00 »
Eine neue Art der Unruhe machte sich in der Menge breit, die natürlich auch nicht an Sébastien vorbeiging. Nationalgardisten rückten an, um dem aufgebrachten Treiben auf dem Place Blanche ein Ende zu bereiten. Bei der Aussicht auf Schlagstöcke, abgefeuerte Kugeln, Bajonette und längere Klingen begann sich der Pulk aus wütenden Republikanern und Blanquisten aufzulösen. François drängte, ebenfalls zu verschwinden, obwohl einige hartnäckig entschlossene Kombattanten das Chaos nutzten, um sich einen unsportlichen Vorteil zu sichern.

Auch der Tischbeinhüne ließ sich von dem aufkommenden Bestreben, das Heil in der Flucht zu suchen, bevor die Nationalgardisten mit bleierner und stählerner Gewalt eingriffen, nicht anstecken und prügelte weiterhin auf Sébastien ein als wolle er den faustgerechten Arbeiter umbringen. Die Drohung, ein paar Knochen zu brechen, schien der junge Mann sehr ernst gemeint zu haben. Allein der gewonnen Platzfreiheit durch den Rückzug einiger Leute rettete Sébastien von einem weiteren üblen Kopftreffer, doch sein Ausweichen blieb nur ein Teilerfolg, denn stattdessen küsste die improvisierte Waffe seine Schulter. Der zusätzliche Schmerz, der sich zu den bereits vorhandenen gesellte, stachelte Sébastiens Wut und sein Verlangen, seinen Gegner zu Boden zu schicken, nur noch mehr an.

Doch der Anführer der Gardisten bellte eine Mahnung, einzuhalten, – es klang wie die erste und letzte – über den Lärm der Schlägerei hinweg und seine Gardisten waren bereit, zu schießen oder mit Säbeln den prügelnden Pöbel niederzumetzeln. Sébastien hatte das unschöne Gefühl, dass eine der Waffen auch auf ihn gerichtet war. Zwar waren weibliche Nationalgardisten ein ungewöhnlicher Anblick – sowieso fand Sébastien die Frauenbewegung eher befremdlich als dass er sie begrüßte –, doch Gewehre waren Gewehre und selbst jemand, der nicht geübt im Umgang damit war, würde schon irgendjemanden treffen, wenn er in eine Menschenmenge feuerte. Sébastien zwang sich, auf seinen besten Freund zu hören. Er war ein Sturkopf und kaum zu halten, wenn er erst einmal aufbrausend wurde, das würde wohl niemand verneinen, der ihn kannte, dennoch kam Sébastien Paul Zeidlers Worte in den Sinn, die dieser an ihn gerichtet hatte, bevor der alte Mann zusammengebrochen war. Der junge Arbeiter hatte Daheim eine Frau und zwei kleine Kinder, die auf seine Rückkehr warteten. Einem satten, feigen Republikaner aufs Maul zu hauen, war eine feine Sache, aber den Preis, sich dafür abschlachten zu lassen, wollte Sébastien nicht zahlen. Zu viel hatte er noch vor – hatten sie noch vor, François und er. Wer würde den Louis befreien, wenn nicht sie? Die Arbeiter brauchten Louis Auguste Blanqui für die Sicherung ihrer Freiheit, das war gewiss. Alles, das ganze Blutvergießen, wäre umsonst gewesen, wenn die anstehenden Wahlen ungünstig verlaufen würden. Nichts Gutes hätte der Aufstand gegen Thiers‘ Männer bewirkt. Statt zuzuschlagen, wich Sébastien vom Tischbeinhünen zurück und wollte seinem besten Freund schleunigst folgen, um aus der Schussbahn zu kommen.[1]
 1. Ich gebe also einen Schicksalspunkt aus, um nicht weiterzukämpfen.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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Une nouvelle ère
« Antwort #61 am: 12.02.2014, 17:01:08 »
Nachdem sie in der Rue de Doutes angekommen waren, hatte Paul schnell zwei Stühle zusammengestellt und, nach kurzem Zögern, sich und dem Gast ein Glas Cidre hingestellt. Er dachte, dass er etwas brauchte, um sich zu kräftigen. Es war nur Cidre da, da der Rotwein sauer geworden war, nachdem sie die Flasche für ein Abendmahl angebrochen hatten. So saß er da, nippte immer wieder an dem perlenden Getränk und hörte dem Landsmann zu. Zunächst sagte er sehr wenig und nickte nur hin und wieder. Er wusste kaum, was er zu den Dingen, die ihm von Lütjenburg sagte, sagen sollte.

Er räusperte sich und sagte dann: "Was dieser Tage passiert ist übel, sehr übel. Die Pariser benehmen sich tollkühn, fast wahnsinnig." Als ob damit irgendetwas gesagt wäre. Unwillkürlich fiel im ein Wort ein: Zu der Zeit rief Gott, der HERR Zebaoth, dass man weine und klage und sich das Haar abschere und den Sack anlege. Aber siehe da, lauter Freude und Wonne, Rinder töten, Schafe schlachten, Fleisch essen, Wein trinken: »Lasst uns essen und trinken; wir sterben doch morgen!« Aber meinen Ohren ist vom HERRN Zebaoth offenbart: »Wahrlich, diese Missetat soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbt«, spricht Gott, der HERR Zebaoth. [1]

Einen Moment sinnierte Paul über das Wort nach, wurde sich dann aber bewusst, dass von Lütjenburg auf eine Antwort wartete. Schwermütig versuchte Paul daher ein paar Worte zusammenzuklauben. Er entschied sich dazu, sich vorzustellen, wie es von Lütjenburg auch getan hatte. "Sie waren sehr aufrichtig gegen mich und dafür danke ich Ihnen, Herr von Lütjenburg. Die Form gebietet es, dass ich nicht minder ehrlich zu Ihnen bin. Sie wissen, dass ich Deutscher war. Ich habe in Jena studiert und war auch dort corporiert. Sie sehen diesen Gehstock?", Paul wies auf seinen Stock[2]. "Dies ist ein Ziegenhainer. In Jena wird mit solchen sekundiert oder auch schon mal zugehauen, wenn man sich auf dem breiten Stein[3] entgegenkommt. Es war eine großartige Stimmung, vor '48. Wir glaubten an den deutschen Staat und waren bereit, für ihn einzutreten. Ich hörte in dieser Zeit von einem Privatdozenten in Bonn namens Ritschl[4]. Er vertrat die Meinung, dass die Kirche nur ein Übergangsphänomen wäre und sie sich im Staat auflösen würde, wenn nur jeder Bürger ein sittliches Leben im Sinne Christu Nachfolge führen würde. Der Staat als das Reich Gottes auf Erden! Verstehen Sie? Was für ein Wahnsinn! Aber so oder so ähnlich dachten alle Commilitonen, der theologischen Fakultät. Es bedürfte erst der blutigen Niederschlagung durch die preußischen und österreichischen Truppen, dass wir zur Besinnung kamen. Und was für ein bitterer Schmerz das gewesen war. Ich konnte meine Torheit kaum ertragen, musste nach Frankreich auswandern und mir hier eine neue Existenz aufbauen. Ich musste durch den Schmerz wieder zurückgeführt werden in die Nachfolge Christi. Wie steht geschrieben? »Denn er erniedrigt die Hochmütigen; aber wer seine Augen niederschlägt, dem hilft er.«[5] Seitdem jedenfalls habe ich jedem weltlichen Bestreben abgesagt und ich muss Ihnen offen sagen: Ob ich Deutscher oder Franzose bin, es kümmert mich nicht - es kümmert mich auch nicht, ob Sie es sind. Es geht mir nur um meinen Glauben. Und wenn Schaf und Wolf beisammen liegen und der Löwe Stroh frisst, die Schlange aber im Staube liegt, wie es heißt[6], dann ist das Gottesreich schon mitten unter uns[7]. Aber nicht das wir es bewirkt hätten, sondern weil bei Gott alles möglich ist."[8], endete Paul. Paul war sich bewusst, dass er zu viel geredet hatte und fragte sich, ob er nicht zu viel Unsinn gesagt hatte.

"Ich denke, Sie sollten das wissen. Ob eine Nation oder eine andere siegt, mir ist es gleich. Für mich gibt es keine Nationen, nur Menschen. Und ich werde tun, was mir möglich ist, um Leben zu erhalten. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie das nicht ausnutzen werden."

Paul atmete tief durch. "Was schlagen Sie vor?"
 1. Jes 22,12-14
 2. Ziegenhainer
 3. Breiter Stein: Schmaler Gehstein, auf dem es oft zu Auseinandersetzungen zwischen Corporierten kam. In Jena besonders, wenn einmal in der Woche die Straße überflutet wurde und es keine Möglichkeit zum Ausweichen gab. Siehe folgendes Studentenlied:
2. Strophe von "In Jene lebt sich's bene" (Anzeigen)
 4. Albrecht Ritschl
 5. Hiob 22,29
 6. Jes 65,25
 7. 
Für die Formulierung siehe Lk 17,20ff. (Anzeigen)
 8. vgl Mk 10,27
« Letzte Änderung: 12.02.2014, 20:55:56 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Menthir

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Une nouvelle ère
« Antwort #62 am: 06.03.2014, 13:47:34 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:16 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

"Ich werde deinen Kopf bekommen!", brüllte der Mann mit der fisteligen Stimme, als sich Sébastien seinem Zugriff entwand und mit der sich rasch auflösenden Menge verschwand. Zu viele Schutzschilde, zu viele Menschen, mal Freund, mal Feind, die zwischen Sébastien und dem Tischbein auftauchten und so ein Niederkeulen unmöglich machten. Wütend schmetterte er das fein gedrechselte Tischbein auf das Straßenpflaster, welches auf den zugeschlagenen und festgetretenen Stein ächzend zerbrach. Er ließ die Bruchstücke fallen und blickte zu den Gardisten, die ihn nicht weiter beachteten. Eine kleine Gruppe tollkühner Blanquisten fanden nicht so schnell das Ende des Streites und rissen an ein paar Männern, die sich vereinzelt wehrten oder gerade die Hände erheben wollten, um den Streit aufzugeben unter dem Druck von Bayonetten, Prügeln und geladenen Gewehren. Sechs streitende Männer waren es noch. Während Sébastien und sein bester Freund sich mit der sich auflösenden Menge vom Ort der Schlägerei davonmachten, hörten sie die Rufe des autoritären Mannes. Er wiederholte seine vorher gebrauchten Worte der Warnung und des Einhalts, doch die drei jungen Blanquisten - Sébastien hatte ihre jungen Gesichter noch nicht gesehen. Sie hätten genauso gut tollende Jugendliche sein, die sich lediglich die Hörner abstoßen wollten - hörten nicht darauf. Einer von ihnen, ein Junge mit weiblichen, sanften Zügen und lockigen, von Schweiß verklebten dunklenblonden Haaren, machte dann den entscheidenen Fehler. Sébastien sah, wie er nach dem Prügel eines Gardisten griff. Überrascht von dem schnellen Zugriff ließ der Gardist, ein kleiner, verwirrt dreinblickender, dunkelhaariger Mann mit schiefer Mütze, den Prügel los. Wütend, von seinem Adrenalin getragen, führte den Junge mit einem seitwärts geschwungenen Schlag wider den Gardisten. Ein Schrei. Der Gardist sackte wie vom Blitz getroffen zusammen, der Schlegel hatte ihm eine klaffende Wunde am Auge beschert. Ein Knall, ein Schallschlag, ein Schuss. Ein faustgroßes Loch klaffte an jener Stelle, an der Sébastien eben noch smaragdgrüne Auge gesehen hatte. Leblos sackte der Junge zusammen. Schreie aus Angst, aus Wut, aus Hilflosigkeit erklangen aus vierlei Kehlen. Eine Frau hielt sich verkrampft an ihrem Gewehr fest, leichter Rauch stieg aus dem Lauf auf. Sie zitterte wie wild, sie hatte die Nerven verloren. Sébastien erkannte nicht viel von ihr, außer dass sie recht kräftig war und ein fülliges Gesicht hatte. François riss seinen Freund an der Schulter und zog ihn in die engen Straßenschluchten Montmatres. "Wir müssen weg!", sprach er jenes aus, was den beiden so oder so bewusst war. Ein windschiefes Haus mit roten Ziegeln und geplatzten, weißen Putz unterbrach ihren Blick auf das Chaos des weißen Platzes. Ein zweiter Schuss ertönte. Sie hörten weiter die Schreie, sie waren kaum zuzuordnen. Auch den Hünen mit dem Tischbein hatten sie aus den Augen verloren.

"Lass uns trennen und in zwei Stunden im Haus treffen." Das Haus meinte eine Wohnung, in der man die Blanquisten vielleicht nicht erwartete. Sie lag in der Rue des Saules, dieser berühmten Straße, in der die Bohème ihrem Lebensstil fröhnte. Diese Straße, die von Paul Cézanne[1], verewigt wurde. Hier lag das kleine Atelier eines kleinen, lokalen und wenig erfolgreichen Bildhauers. Achille Petit war ein einfacher Mann, der nicht den Willen besaß, die Stadt, geschweige denn das Land verändern zu wollen. Aber er sympathisierte mit den Blanquisten und immer wieder stellte er seine Werkstatt und das kleine zum Hinterhof hinausgehende Lager für die konspirativen Sitzungen oder für den einen oder anderen Umtrunk zur Verfügung. Da ein Guinguette[2] direkt neben dem kleinen Atelier lag, fielen die Blanquisten im Tagbetrieb auch nicht weiter auf. Und diesen Ort wollte François nun aufsuchen. Sébastien erinnerte sich, dass sie bereits den einen oder anderen Plan zwischen den furchterregenden, fratzenhaftigen Plastiken des armen Bildhauers geschmiedet hatten. "Und ruh dich aus. Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.", sagte François mit einem Schmunzeln und deutete dabei auf seine Nase und lachte dann. Er umarmte Sébastien zum Abschied und verschwand weiter zwischen die engen Gassen. Irgendwo hinter sich hörte er die Gardisten und verschwand auch in der Stadt.

Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:30 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Es waren Fratzen, furcherregende Fratzen, die in der Werkstatt standen. Es roch nach steinigem Staub, aber auch nach Metall und Rost. Es war unangenehm warm im Atelier. Hinter halbfertigen Büsten brannte ein kleines Kohlenfeuer auf einem schweren Metalltisch und wurde von einem kleinen Blasebalg angefeuert. Ein Mann mit grau mellierten, langem Haar hatte ein russchwarzes Gesicht, fettige Flecke von den schweren, verrusten Lederhandschuhen, welche eine Zange hielten. Er erhitzte ein Stück Metall und formte es mit immer wieder mit Zwingen. Seine Augen waren von einer primitiven Brille geschützte, der Handschuh war alt. Es roch furchtbar nach rusigem Eisen. Es war Achille, ein schmaler, drahtiger Mann mit eingesackten Schultern und fliehendem Kinn, der zumindest physisch nicht an seinen berühtem Namensvettern[3] erinnerte. Soweit Sébastien wusste, war er auch psychisch kein Achill. Seine Pläne zur Veränderung der Welt waren im Jugendalter auf der Strecke geblieben. Er war nun im mittleren Alter. Es wusste keiner der Blanquisten so genau. Achille sprach nicht viel über sich. Er war alt genug, um an der Februarrevolution 1848[4] teilgenommen zu haben und das hatte er auch. Aber er sprach auch darüber wenig. Reste seiner Verbundenheit waren noch vorhanden, das Atelier war Zeuge dessen.

Sébastien umrundete die Büsten reicher Bürger, die sich hatten abbilden lassen und jene verzerrten Ebenbilder lokaler und berühmter Politiker. Sie waren nicht sehr realistisch dargestellt. Ihre Gesichtszüge waren verzogen und überzeichnet. Sie erinnerte an eine Symbiose aus menschlichen Antlitz und tierischer Fratze. Manche betrachteten es als Kunst, viele ließen ihre Büsten in seinem Atelier oder seiner Galerie stehen, weil sie sich anderes vorstellten und dann nicht bezahlten. Achille war in dem Ruf, dass er die Gesichter umso mehr entmenschlichte, umso unfreundlicher und unmenschlicher er einen Menschen wahrnahm. Seiner Meinung nach hatte nur ein Mensch[5] das Recht, ein realistisches Ebenbild seiner selbst zu sehen. Er behauptete, dass er keinen solchen Menschen getroffen hätte, andere behaupteten, dass er dies als Ausrede benutzte, weil er nicht in der Fähigkeit stand, seine Büsten mit Realismus zu segnen. Der Feuilleton stritt nur kurz über seine Kunstfertigkeit oder vielmehr Kunstunfertigkeit, dann war Achille Petit wieder vergessen. Er war für die Pariser Kunstszene nicht exzentrisch genug, sein Werk nicht provozierend genug. Einen Paul Cézanne verspottete man jedenfalls noch unter Zeitgenossen, doch einen Achille Petit? Die Geschäfte liefen schlecht und man sah es dem Atelier an. Es war schmutzig und verfiel. Der Putz verabschiedete sich, im Galerieraum roch es feucht und unter dem Schaufenster setzte der berühmte Gießkannenschimmel[6] an. Es fühlt sich entweder klamm oder zu heiß an. François hatte bereits gemutmaßt, dass Achille schon eine Weile die Miete nicht mehr zahlen konnte. Wahrscheinlich würde es ihr letztes Treffen im Atelier werden.

François wartete am Ende des Lagers und stand in der offenen Holztür, eine Zigarette im Mundwinkel und die Taschenuhr in der Hand. Er blickte sich lächelnd um, als Sébastien sich durch die lagernden Werke kämpfte und mehr als einmal gegen am Boden liegende Metallreste stieß. Sein bester Freund war nicht alleine. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Pfaffe, wenn Sébastien es richtig sah. Er hatte die Arme in seinen Ärmel verborgen, als hätte er eine Kutte an, auch wenn er ein einfaches, schwarzes Sakko trug. Er trug eine schwarze Manchesterhose[7] mit den berühmten Längsrippen. Sie war abgewetzt, aber Sébastien wusste, dass es ein Pfaffe war. Nicodème Bouthillier, wenn Sébastien sich recht erinnerte, war ein Pfarrer einer der nahegelegenen Kirche und ein Freund der Sozialisten. Wahrscheinlich sollte er einen Zugang zu Darboy ermöglichen oder zumindest mit Expertise über innere Angelegenheiten glänzen. François lächelte und schlug Sébastien auf die Schulter.
"Darf ich vorstellen? Sébastien - Nicodème, Nicodéme - Sébastien. Ich habe mir erlaubt, unsere Unterredung etwas vorzuziehen. Falls das jemand auf dem Platz in den falschen Hals bekommen hat und irgendeinen Gardisten anzusetzen wagt, nicht wahr?", François lächelte so, als hätte er dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen, auch wenn die Nationalgardisten ihnen näherstanden als sie den Republikanern wohlgesinnt waren. Der Pfarrer in seiner Zivilkleidung wirkte beinahe leger, seine tiefbraunen Augen musterten Sébastien Moreau aufmerksam, aber nicht unfreudlich. Sie waren von ausgeprägten Krähenfüßen eingerahmt, wie auch sein Mundwinkel von tiefen Falten eingerahmt waren. Ein Gesicht, welches das Lachen gewohnt war. Er passte gar nicht in diese so ernste, tierische Galerie. Er war groß gewachsen und von hagerer Gestalt mit einem sympathischen Aussehen. Seine krumme Nase und sein unregelmäßiges Kinn bestimmten ein nicht schönes, aber eben offenes und markantes Gesicht. Er nahm seine etwas kleine Baskenmütze ab und nahm sie vor die Brust und deutete eine Verbeugung an. "Sehr erfreut.", setzte er hinterher. Die sonore Stimme eines Mannes, der Worte gewohnt war. "Wir müssen noch auf die Familie Lavalle warten.", erinnerte François und blickte kritisch auf seine Taschenuhr und blickte nach draußen. "Allerdings habe ich sie kurzfristig informiert, sie dürften sich also ein paar Minuten Zeit lassen."

Ein Moment der Stille folgte und der Pfarrer setzte die Baskenmütze wieder auf. Sein glattrasierte Gesicht lag in seiner rechten Hand. Er rieb sich die Wangen und dachte nach. Er blickte über seine Schulter. Etwas wie Nervosität lag in seinem Blicke. "Meine Herren, dann erlauben Sie mir, die Zeit so zu füllen, dass ich Sie ausdrücklich warnen möchte. Die Familie Lavalle, wie Sie sie nennen, sind vielleicht nicht die beste Gesellschaft. Monsieur Durand, ich weiß, dass Sie dieses Themas überdrüssig sind und nicht mehr darüber verhandeln wollten. Erlauben Sie mir, dass ich vor Ihrem besten Freund nochmal an Ihre Vernunft appelliere." Schuldbewusst blickte er zu Sébastien, weil er diesen in den Disput mit einbezog. François schnaufte verächtlich wie ein Kind, dass man zum zehnten Male belehren wollte, dass man nicht mit dem Feuerzeug spielte. Aber er intervenierte nicht. "Die Lavalles stehen im Unstern der Infamie und der Käuflichkeit, Monsieur. Ich habe einige Befürchtungen Ihres Planes bezüglich, denn der Fisch stinkt immer vom Kopfe her und wenn sie denn Herrn Darboy als Austausch für ihren Herrn Blanqui planen und zum Kopf ihrer Pläne die Lavalles machen... Die Lavalles haben ein Renommee für Gewalt, wissen Sie, Monsieur Durand. Nicht jene Form der Gewalt, die wir unter befreiende oder notwendige, oder zumindest gerechte Gewalt verstehen. Ich rede von ungerechtfertigten Übergriffen und Gewaltausbrüchen, von Zeter und Mordio. Ich wünschte, ich könnte Ihnen Beweise für meine Worte anvertrauen. Aber ich habe Sie nicht bei mir. Ich habe sie nicht, aber ich weiß es. Und wenn Sie zwar den Darboy nehmen wollen - denken Sie an unsere Abmachung, dass ihm dann nicht passieren soll - dann muss ich darauf bestehen, dass Sie mir helfen, dass keinem Klerikalen etwas passiert. Es ist schon ein brüchiger Kompromiß, aber machen Sie es mir nicht noch schwerer."
Hilfesuchend, wenn auch nicht verzweifelt, blickte der Pfarrer in Zivil zu Sébastien. "Oder was ist Ihre Meinung? Sie denken doch auch, dass wir von der Gewalt wenn möglich Abstand gewinnen sollten, nicht wahr? Ich meine, haben Sie von den Unruhen heute Morgen auf dem Place Blanche gehört? Die Nationalgarde soll hart gegen eine kleine Gruppe Aufständischer durchgegriffen haben. Ich habe die Befürchtung, dass wenn wir von der Gewalt zu sehr Gebrauch machen, dass es uns nicht zum Ziele von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit bringen wird, sondern nur auf das Schafott, ehe wir uns vor Gott nochmal auf den Schuldstuhl setzen müssen." François blickte ebenfalls zu Sébastien, gespannt auf dessen Antwort. Ein kühler Luftzug drängte sich durch die Tür, im rückwärtigen Teil der Werkstatt begann derweil ein kurzes, schnelles Hämmern. Achille arbeitete an seinem nächsten Werk, welches in diesem Lager verrosten würde.
 1. Paul Cézanne
 2. Guinguette
 3. Achilleus
 4. Februarrevolution
 5. im Sinne eines humanistischen Weltbildes
 6. Schwarzschimmel
 7. Cord
« Letzte Änderung: 06.03.2014, 15:55:51 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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Une nouvelle ère
« Antwort #63 am: 08.03.2014, 21:31:38 »
Sébastien war froh, François nach einiger Zeit des Umherstreifens in den Straßen, in der er (wie angeraten) etwas Ruhe, aber auch der Zerstreuung gesucht hatte, am anderen Ende von Achilles Lager wiederzusehen. Die jüngsten Erlebnisse auf dem Place Blanche hatten ihn in den vergangenen zwei Stunden nicht losgelassen, besonders nicht der Anblick des sterbenden, jungen Lockenkopfes, der es trotz der Tollkühnheit, sich mit Bewaffneten anzulegen, nicht verdient gehabt hatte, mit einer Kugel im Auge zu enden. In gewisser Weise hatte Sébastien sich in dem Burschen wiedererkannt und wahrscheinlich war er selbst nur dank seines besten Freundes noch glimpflich aus der Situation hinausgekommen, denn wäre François nicht gewesen, der ihn mitgezogen hätte, hätte Sébastien sein Zögern vielleicht auch mit übleren Verletzungen bezahlt. Nach Hause zurückgekehrt war Sébastien nicht, da seine Joséphine wohl davon ausging, dass er in diesem Moment arbeitete, und es besser war, wenn sie nicht wusste, dass er sich davor drückte und was er stattdessen trieb. Die dröhnenden Kopfschmerzen war er noch nicht losgeworden, selbst ein kräftiger Schluck Fusel hatte keine Abhilfe schaffen können.

Doch Sébastien begrüßte seinen besten Freund mit einem breiten Grinsen und erwiderte lächelnd „Freut mich ebenfalls“, als er dem Pfarrer vorgestellt wurde. Vermutlich war es eine gute Idee gewesen, das eigentlich für den Abend geplante Gespräch vorverlegt zu haben. Von den Nationalgardisten hatte Sébastien für heute genug, aber auch allgemein konnten sie sich eine Vereitlung ihres Planes nicht leisten. Die Zeit drängte, denn der Termin der Wahlen stand fest und rückte Stunde um Stunde näher. Nicodème Bouthillier war, wie man es von Geistlichen erwartete, ein besonnener Mann, wie Sébastien aus dessen Worten schloss, besonnen und darauf bedacht, das Richtige zu tun. François hatte die Lavalles auf dem Place Blance als fähig und erfahren dargestellt, daher war Sébastien das Gerede von Käuflichkeit, Gewalt und sogar Mord neu. Sébastien selbst kannte die Lavalles nicht und konnte sich durchaus vorstellen, dass Nicodèmes Überzeugungsversuche, von einer Zusammenarbeit mit diesen Leuten abzusehen, nicht nur Paranoia oder ein verzweifelter Versuch eines Priesters waren, Darboy in Frieden zu lassen, aber da François sich von dieser scheinbar nicht zum ersten Mal geäußerten Warnung beeindrucken ließ, wusste Sébastien nicht, warum er selbst beunruhigt sein sollte, bevor er sich nicht selbst ein Bild gemacht hatte. Eigentlich wollte er es bei dem gedanklichen Entschluss, abzuwarten und sich die Lavalles erst einmal anzusehen, belassen, hätte der Pfarrer ihn nicht ins Gespräch mit einbezogen.

„Oh ja, ich habe von diesen Unruhen gehört“, bestätigte Sébastien mit einem kurzen Blick zu François, bevor er wieder den nervösen Pfarrer fixierte. „Aber es war keine kleine Gruppe Aufständischer: Die Nationalgarde hat sich unnötigerweise mit Waffengewalt in eine Rangelei eingemischt, die sie nichts anging und die sich ohnehin aufgelöst hätte, hätten beide Seiten erst einmal ihren überhitzten Gemütern Luft verschafft.“ Sébastien war zufrieden mit seiner Form der Richtigstellung. Die Gardisten hatten ihre Pflicht getan, für Ordnung zu sorgen, das mochte stimmen, aber wahrscheinlich hatte die Schlägerei nur deswegen sehr blutig geendet – und tödlich für zumindest einen Burschen. Nicodème schien Angst um sein Leben und Seelenheil zu haben, Angst vor dem Menschen, den seine Taten aus ihm machen könnten. Der Pfarrer hatte ein gutes Herz, nur fehlte ihm momentan noch die Entschlossenheit, kleinere Übel für das große Gute hinzunehmen. Sébastien konnte verstehen, dass ein Mann der Kirche Skrupel hatte, eine Vorgehensweise einzuschlagen, die ihn in Gewissenskonflikte bringen könnte, und verurteilte Nicodème dafür nicht. Er fasste es positiv auf, dass der Priester dennoch hier war, um sie zu unterstützen. Nun schenkte er Nicodème ein mitfühlendes Lächeln und versuchte, diesen zu beruhigen.
„Sehen Sie, Nicodème, wir alle wollen dies so zivilisiert wie möglich hinter uns bringen“, versicherte Sébastien, denn es dürfte selbstverständlich sein, dass „Zeter und Mordio“ ihrer Sache nicht dienlich sein konnte. Der junge Arbeiter konnte zwar durchaus impulsiv sein und wusste, seine Fäuste einzusetzen, doch obwohl dieser Weg manchmal ein sehr guter war, um den eigenen Standpunkt deutlich zu machen, sah er sich nicht als brutalen Menschen.
„Natürlich denke ich, wir sollten von unnötiger Gewalt Abstand nehmen und uns nicht zu Grausamkeiten hinreißen lassen“, sprach Sébastien aus, was Nicodème hören wollte, aber nicht nur, um diesem gut zuzureden, sondern auch aus eigener Überzeugung, „jedoch werden wir unweigerlich mit dem Gesetz in Konflikt kommen“, gab er zu bedenken, „– und davor sollten wir auch nicht zurückschrecken, genausowenig wie vor drohender Bestrafung, denn dieses Risiko werden wir gezwungen sein, einzugehen, damit wir unsere Ziele erreichen können. Und dies sind keine schlechten Ziele und wir sind keine schlechten Menschen, das wird Gott erkennen, selbst wenn einige uns für unsere Taten verurteilen werden. Umso mehr werden uns allerdings dankbar sein, wenn es uns gelingt, unseren Louis und Paris zu befreien.“
Sébastien hatte den Plan seines Freundes zu seiner eigenen Überzeugung gemacht. François hatte ein kluges Köpfchen und dass die Arbeiter Paris' Anleitung brauchen würden, um eins zu werden, war offensichtlich.
„Diese Stadt versinkt in diesen Tagen in einem blutigen Chaos“, fuhr Sébastien nach einer kurzen Pause fort, „das wissen Sie selbst, und wir brauchen Monsieur Blanqui als Unterstützer und Gesicht unserer Sache, um einen unangenehmen Ausgang der Wahl und womöglich weitere unschuldige Todesopfer zu verhindern. Dies soll trotz der Art unseres Vorhabens eine weitestgehend friedliche Lösung sein, denn Louis wird Paris auf den Weg der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit bringen und uns helfen, diesen Weg nicht mehr zu verlassen.“
Er lächelte zuversichtlich, bevor er im Anschluss auf die Lavalles zurückkam, auf die er schon gespannt war. François' und Nicodèmes Darstellung unterschied sich schließlich grundlegend.
„Sie müssen allerdings auch verstehen, dass wir tüchtige Leute brauchen, um unseren Plan zu verwirklichen. Wir selbst haben kaum Erfahrung in solcherlei Dingen, aber ich will meinem Bruder“, dabei klopfte er François bestärkend auf die Schulter, „voll und ganz vertrauen, wenn er der Überzeugung ist, die Lavalles seien die Richtigen. Sorgen Sie sich nicht um den Darboy, denn er ist zwar ein Mittel zum Zweck, aber noch immer ein Mensch und zudem Pfaffe. Wir werden ihn freigeben, sobald Louis frei ist. Ich werde Ihnen helfen, von ihm und auch von anderen unrechten Schaden abzuwenden, ich gebe Ihnen mein Wort, Père.“ Wohl bot Sébastien nicht ganz die Unterstützung, die sich der Pfarrer wohl erhofft hatte, denn er sprach sich nicht gegen die Lavalles aus, aber er meinte es ernst, unnötig gewalttätige Übergriffe nicht zulassen zu wollen. Im Sinne von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit wäre es tatsächlich nicht, eine Geisel oder auch andere Geistliche schlecht zu behandeln, da gab er Nicodème Recht.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Carl von Lütjenburg

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Une nouvelle ère
« Antwort #64 am: 09.03.2014, 20:53:33 »
Falls Carl nervös war, die Ungewissheit sich auf seine Nerven schlagen sollte, dann konnte man dies höchstens an sein seinem finsteren Gesicht erkennen und daran, dass er Pauls Cidre zwar dankend angenommen hatte, jedoch nicht trank. Er spielte mit dem Glas herum während er selbst gesprochen hatte und hielt es ruhig zwischen beiden Händen, währen er Pauls Ausführungen aufmerksam zuhörte.
Ehrlich gesagt wusste Carl nicht, was er tun sollte, würde Paul seine Bitte ablehnen. Kurz dachte er an den schwarzen Braunschweiger. Wäre so einer nicht geeigneter, um Carls Aufgabe zu lösen? Hätte er Paul überhaupt um Unterstützung gebeten und wenn ja, hätte er dem alten Mann etwas angetan, wenn dieser abgelehnt hätte?
"-tun, was mir möglich ist, um Leben zu erhalten. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie das nicht ausnutzen werden." Carl hatte zugehört, während er sich seine Gedanken gemacht hatte, doch nur langsam sickerten Pauls Worte in den Verstand des Soldaten. Es brauchte etwas, bis sich das befreiende Gefühl, die Erkenntnis einen kleinen Erfolg errungen zu haben in ihm aufkeimte, so dass sein Mienenspiel weniger düster daherkam und sich die Andeutung eines milden Lächelns erkennen ließ.
"Herr Zeidler, ich danke Ihnen, Sie geben mir neue Hoffnung." Diese Worte mochte Paul vermutlich schon öfter gehört haben, jedoch wohl niemals unter solchen Umständen. Endlich trank Carl einen Schluck Cidre und fuhr dann fort "Sie kennen nun meine Intentionen und wissen, dass ich im Sinne der Preußen handle. Im Moment bedeutet das, dass wir beide Leben schützen und erhalten wollen und ich sehe nicht, dass sich das so bald ändern sollte. Dennoch gebe ich Ihnen mein Ehrenwort als deutscher Offizier, dass ich alles dafür geben werde, dass sie Ihr Vertrauen und ihre Hilfsbereitschaft nicht bereuen werden. Dennoch kann ich nicht versprechen, dass wir gewaltfrei aus der Sache herauskommen können, nicht wenn sich Menschen-" Carl unterbrach sich, ehrlich aufgebracht von der eigenen Wortwahl "- nicht wenn sich Subjekte, wie die Lavalles ebenfalls auf dem Schachbrett befinden." Kurz verstummte er, blickte in dem ansonsten unbelebten Raum umher, sah in sein Glas, trank einen Schluck und blickte dann Paul an.
"Ich habe darüber noch nie mit jemandem gesprochen, und ich werde auch keine Details nennen, doch sie sollten es wissen, um einen Eindruck von diesen... Personen zu bekommen.
Im Winter '63 habe ich in Kiel studiert, damals war ich Leutnant und eben für das Studium freigestellt. Ich wurde mit zusammen mit einigen Freunden und anderen Personen, von denen ich manche heute meine Freunde nennen darf in einen gewissen diplomatischen Vorfall verwickelt."

Kurz dachte Carl an die damaligen Ereignisse und besonders an Alfred Nobel zurück. Wo er sich wohl gerade aufhielt und was er tat? Ihre Korrespondenz war im besten Falle sporadisch, dennoch war eine Freundschaft aus ihr erwachsen.
"Der Mann - Lavalle - man nennt ihn den Tortionnaire[1]. Damals erschoss er einen meiner Freunde, und direkt darauf auch beinahe mich selbst. Seine Frau verfügt meines Wissens nach über keinen so farbenfrohen Beinamen. Jedoch führte sie kurz nach den tödlichen Schüssen ihres Mannes einige Söldner gegen uns in den Kampf, zudem versteht sie sich aufs Übernatürliche.
Sehen Sie, Paul, in dieser Sache ging es unter anderem um die damals beschlossene Bundesexekution und  damit dem nachfolgenden Krieg. Ich habe selbst meinen Anteil daran, wie die Dinge damals zustande gekommen sind, doch dieses infernalische Duo arbeitet mit vollkommen anderen Methoden. Erpressung, Fälschung, Mord, Verschleppung und nicht zuletzt zwingen sie Unschuldige und Unbeteiligte in ihre Dienste. Darüber hinaus tun sie dies nicht für einen Staat oder einer Idee, der sie anhängen, sie sind Söldner, Herr Zeidler! Söldner!"
Es klang ein wenig so, als wäre für Carl das Söldnertum der Lavalles ein viel größeres Gräuel als die Wahl ihrer Methoden. Er war nicht erregt, aber dennoch lauter geworden und unterbrach sich nun, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Er saß nun breitbeinig vornübergebeugt, die Ellen auf die Oberschenkel gestützt und die Finger ineinander verschränkt.

"Was schlage ich also vor? Wir müssen herausfinden, wer dieser Louis ist, denn die Kommunarden befreien wollen und wer die Person ist die sie den Parisern wegnehmen wollen. Den Leuchtturm des Mutes, sagt Ihnen das etwas?
Ist Ihnen auf dem Place Blanche der große Kerl mit dem Tischbein aufgefallen? Ich glaube, dass er der Sohn von General Lecomte ist, der vorgestern ermordet wurde. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ihm einige junge Männer gefolgt sind. Offiziere und Soldaten, wie er und sein Vater. Ich weiß noch nicht wie man das angehen sollte, aber wir werden sie vermutlich brauchen. Entweder um Stimmen bei der Wahl auf ihn zu bündeln, oder wenn es hart auf hart kommt...
Ich kenne mich in Paris noch nicht gut genug aus, aber Sie, Paul, Sie kennen sich gut aus, die Leute kennen Sie und Sie kennen Leute. Was denken Sie?"

 1. franz. Folterknecht

Menthir

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« Antwort #65 am: 11.03.2014, 22:48:14 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:32 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Nicodéme nickte und es wirkte etwas resigniert. Nicht aufgrund er genauen Worte, die Sébastien benutzte, sondern vielmehr, weil er diese Art der Reaktion erwartet hatte. Dass François ein leichtes, aber eben sichtbares, zufriedenes Lächeln ausstrahlte, bestärkte den Ausdruck Nicodémes nur. Beinahe unmerklich zuckte er mit den Schultern, eine Geste des Einlenkens. "Ich will euren Worten glauben, ich kann es nicht gänzlich. Aber dennoch werde ich euch weiter helfen. Ich will in Gott vertrauen, dass eure Wege euch nicht an Pässe mit hohem Blutzoll führen und wenn doch, dass ihr das Rückgrat habt, umzukehren, ehe ihr euch im uferlosen Meer der Gewalt ertrinken seht." Nicodéme nickte eindringlich und Sébastien erkannte, dass der in Cord gekleidete Priester mehr über die Ereignisse des Morgens auf dem Place Blanche wusste. Allerdings sprachen ihre Körper auch noch Bände von den jüngsten Zusammenstößen. Nicodéme hatte ein waches Auge für die wunden Fingerknöchel von jungen Männern. Das Zeichen, ob sie zurückzuschlugen oder eher die zweite Wange hinhielten. Sowohl die Fingerknöcheln von François als auch jene von Sébastien zeigten deutliche Abschürfungen und kleine Blutergüsse. Ihre Fäuste erzählten kleine Geschichten der Gewalt. Es machte es Nicodéme nicht leichter, seine Befürchtungen zu schlucken. Aber für die Sache tat er es, aus seinen eigenen Gründen, wohl hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf göttlich-inspirierte Hilfe und der Notwendigkeit des Menschen sich und seinen Nächsten selbst zu helfen. François, der die Angewohnheit hatte, solche Szenen zu kommentieren, behielt jedoch seine Worte zurück. Es gab nichts mehr zu sagen, außer er wollte, dass Nicodéme doch noch zurückzog. Zudem sah er durch die Tür, genau wie Sébastien, dass eine Frau sich bestimmt und schnell, doch mit elegantem Schritt näherte.

Sie hatte rote Haare, die fast kirschrot sein mochten. Sie war etwas größer als die durchschnittliche Französin, sie war von schlanker Gestalt und trug ein blaues Kleid, welches zumindest im Torso ihrer schlanken Figur angepasst war. Sie trug vielleicht etwas zu viel Lippenstift und zu viel weißes Puder, welches ihr scharf geschnittenes Gesicht mit den erkennbaren Wangenknochen fast etwas puppenartig wirken ließ. Ihr blaues Kleid unterstrich diesen Anblick noch und dennoch schien durch, dass sie zumindest von vielen Männern eher den attraktiven Frauen zugerechnet wurde. Ihre Augen deuteten jedoch eine wenig romantische Tiefe an. Sie stachen bereits aus einigen Metern hervor, und verrieten eine ungewöhnliche Art Entschlossenheit, wie wenig Menschen sie in die Gesichtszüge geschrieben hatten. "Erica Lavalle.", sagte François trocken und schaute zu, wie die Frau mit den langen roten Haaren sich der Werkstatt durch den Hinterhof näherte. Nicht schwebend, sondern mit kräftigen, festen Schritt überquerte sie die Türschwelle und stellte sich wie selbstverständlich zwischen die drei Männer mit den sozialen Gedanken.
"Mein Mann lässt sich entschuldigen.", eröffnete sie bestimmt und erhob die Hand zum Gruße und um die Worte der anderen, Worte der Vorstellung, der Höflichkeit, des Annäherns zu ersticken. Ihre Stimme hatte etwas herrisches, nichts duldendes. Ihr linkes Augenlid zuckte, als sei sie erzürnt. An der linken Schläfe pulsierte unter dem weißen Puder eine zarte Ader. "Er lässt ausrichten, dass er wenig erfreut über Ihre Unzuverlässigkeit ist und rät Ihnen, sich etwas an der preußischen Zuverlässigkeit zu stählen. Der Arme hasst Unzuverlässigkeit und Unabwägbarkeiten und Ihre willkürlichen, nicht im Vornherein benannten Bonbons, die sie sich mit einer unverschämten, impertinenten Selbstverständlichen nehmen und zwar aus unserem Naschtopf. Da Sie jedoch nicht die verabredeten Termine halten, aufgrund unziemlicher Paranoia vor Ihren eigenen Verbündeten - Den Nationalgardisten! - hat mein Mann sich dafür erwärmt, Ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Er lässt Sie also in dieser Stunde alleine und erwägt, über seine Befehle nicht weiter auf Augenhöhe zu diskutieren. Ihre unprofessionelle Art gefährdet das Geschäft.", dozierte sie mit wütender, etwas rauchiger Stimme, die trotz ihres Klanges etwas faszinierendes hatte, eine Spur des Verruchtseins. Ihre Augen musterten jetzt alle Anwesenden und lagen ein wenig länger als notwendig auf Sébastiens[1]. "Wie dem auch sei. Ich übernehme die Geschäfte mit Ihnen vorerst, bis Sie sich würdig erwiesen haben, mit meinem Mann direkt in Kontakt zu treten. Als Test Ihrer Würdigkeit sieht er die Entführung von Darboy. Sollten Sie darin erfolgreich sein, werden wir Ihnen mehr als nur unser Wissen anbieten, sondern auch für Sie handeln. Für jetzt jedoch müssen Sie ohne unsere Tat leben und zeigen, was Ihnen steckt." Kurz wanderten zwischen ihre Augen zwischen den drei Männern hin und her. Sie atmete jetzt ruhiger, im Hintergrund war der Hammer Achilles auf dem Eisen zu hören. Ihre Augen kehrten zurück zu Sébastien. "Und er ist der ungewöhnliche junge Mann, in den Sie Ihre Hoffnungen stecken?" Sie berührte Sébastien prüfend mit Klavierspielerfinger an der rechten Wange. Sie fühlten sich kalt und trocken an, dennoch spürte er ein leichtes, fast elektrisches Prickeln in der Wange. "Ihr Vertrauen könnte gerechtfertigt sein." Sie ließ ihn wieder los. François wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand, um ließ ihn verstummen. Scheinbar war François diese Geste gewohnt, denn er ließ sie weitersprechen. "Ich mag Männer mit Visionen. Nicht jene, die nur Männern mit Visionen hinterherlaufen." Beinahe strafend blickte sie François an und blickte dann zu Sébastien. "Sind sind Sébastien Moreau, oder? Ich habe von Ihnen gehört. Beantworten Sie bitte eine Frage. Wenn ich Ihnen eine nagelneue Chassepot[2] mitgeben würde, würden Sie diese einsetzen oder würde Sie dem Sentiment dieser...Männer...hier folgen und Darboy mit einem Blackjack[3] aus seiner Kirche zerren? Oder würden Sie gar versuchen, den Mann zu überzeugen?" Bei dem letzten Satz lachte sie beinahe, als würde sie diese Option für närrisch halten. Provozierend blickte sie Sébastien an, etwas verruchtes lag in diesem Blick. Dann schmunzelte sie. "Sorgen Sie sich nicht. Von Ihrer Antwort hängt lediglich ab, welche Informationen ich Ihnen darbiete."
 1. Doch doch, ich liebe meine Frau, aber...
 2. Chassepot-Gewehr
 3. Blackjack
« Letzte Änderung: 11.03.2014, 23:06:02 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #66 am: 14.03.2014, 11:31:41 »
Sébastien erkannte, dass Nicodème im Klaren über das Treiben der beiden jungen Freunde an diesem Morgen war. Gewiss, Fäuste waren gepflogen und Menschen verletzt worden, doch hatte es, bevor sich die Nationalgarde eingemischt hatte, niemanden gegeben, den Sébastien als Opfer bezeichnet hätte. Dabei nahm er Paul Zeidler, der nicht in den Kampf verwickelt gewesen war, aus der Zählung heraus. Beleidigungen und Zorn hatten zu der Schlägerei geführt – und nicht zuletzt das streitsuchende Gehabe des ersten, der Sébastiens Faust zu spüren bekommen hatte –, allerdings fasste Sébastien derartig in einer Meinungsverschiedenheit und zudem beidseitig ausgetauschte Gewalt nicht als wirkliche Gewalt, sondern als faire Argumentation auf. Nicodème musste als Mann, der Nächstenliebe predigte, anderer Meinung sein, aber Sébastien fand, dass der Priester überdramatisierte. Der junge Arbeiter war sich sicher, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, und wollte sich, wie bereits geäußert, nicht zu Grausamkeiten hinreißen lassen. Der Pfaffe schien ein anständiger Kerl, allerdings aber auch ein Schwarzseher zu sein. „Pässe mit hohem Blutzoll“ und „Ertrinken im uferlosen Meer der Gewalt“: malerische Formulierungen, aber höchst pessimistisch. Sie ließen ein betretendes Schweigen folgen. Sébastien sagte nichts, nickte nur kurz als Zeichen der Zustimmung, in der Not Rückgrat beweisen zu wollen, denn Nicodème schien schon genug mit sich zu ringen, und dass selbst François den Mund hielt, war für dessen besten Freund Mahnung genug, es genauso zu halten.

So wäre Sébastien wohl jede Ablenkung recht gewesen, das ersehnte Auftauchen von Erica Lavalle fiel allerdings nicht so aus, wie der junge Arbeiter erwartet hätte. Zunächst erschien sie nicht in Begleitung ihres Mannes, aber auch sie selbst war anders als die Frauen, die er kannte, ja, auch anders seine Joséphine, die ihr sanftes Wesen selbst im Zorn nicht ablegte. Madame Lavalle war nicht nur von auffallendem und – wie Sébastien fand – ansehnlichem Äußeren, sie trat auch überaus selbstbewusst auf und zeigte ein Temperament, das so feurig war wie ihr rotes, langes Haar. Tatsächlich überrumpelte sie Sébastien mit ihrer bestimmenden Art und ihrem wütenden, tadelnden Tonfall, wobei sie das Wort allein für sich beanspruchte und noch nicht einmal eine Begrüßung von Seiten der drei Männer zuließ, zu denen sie gestoßen war. Ihre Predigt prasselte auf Sébastien ein wie harter Platzregen, was durch seine Kopfschmerzen nur verstärkt wurde, und ein Verdacht, warum François beim Nennen von Erica Lavalles Namen kaum mit Freude erfüllt gewesen war, kam in ihm auf. Aber dennoch… dennoch übte die Stimme dieser Frau, zusammen mit ihrer besonderen Erscheinung, eine Anziehungskraft aus, der Sébastien sich nicht entziehen konnte. Das und die Überraschung behinderten ihn etwas darin, unterdessen der genauen Bedeutung der Worte ihrer Standpauke zu folgen.

Noch ehe er nähere Gedanken über Unzuverlässigkeit, Bonbons und Paranoia fassen sowie über die Erwähnung von Befehlen, die Monsieur Lavalle gab, sinnieren konnte, oder gar zu einer Reaktion bereit gewesen wäre, lenkte Erica Lavalle ihn ab, indem ihr Blick auf ihm zum Ruhen kam. Zumindest musterte sie ihn länger als François und Nicodème und länger als unbedingt notwendig, was Sébastien durchaus auffiel und womit sie endgültig sein Interesse an ihr weckte. Denn obwohl er verheiratet war und seine Ehefrau und Kinder liebte, konnte er Vergnügungen und Verlockungen jeglicher Art nur schwer widerstehen – und was war verlockender als eine erotische Schönheit, die wusste, was sie wollte? Er war ein Mann und hatte seine Laster, weswegen er Madame Lavalles Aufmerksamkeit als Einladung ansah, oder wenigstens als Zeichen dafür, dass sich Bemühungen bezahlt machen könnten; und diese Aussicht gefiel ihm.

Sie redete von ihrem Mann, dem wenig erfreuten Monsieur Lavalle, der Spontanität nicht schätzte, und sie mit der Entführung des Darboys auf die Probe stellen wollte. Sébastien verspürte noch immer Neugier für diesen mysteriösen Lavalle, aber noch neugieriger war der junge Arbeiter auf die rothaarige Erica. Das Geschäft schien eindeutig zu sein: Wenn sie den Pfaffen entführten, würden die Lavalles ihnen mit Taten zur Seite stehen – und, das wichtigste: sie wären der Befreiung Louis‘ einen Schritt näher. Sébastien wollte zeigen, was ihn ihm steckte, vielleicht würde das auch Madame Lavalle gegenüber beweisen, dass er professionell sein konnte, wenn er es wollte – selbst wenn er nicht verstand, warum die Lavalles ein solches Aufheben um die Vorverlegung eines Treffens machten, jedoch fühlte Sébastien sich im Allgemeinen nun in gewissem Maße uneingeweiht. Es war so, als sei ihm irgendetwas entgangen.

Als die Frau Sébastien daraufhin gesonderte und offensichtliche Aufmerksamkeit zuwandte, wurde ihm klar, dass der gute François gegenüber den Lavalles offenbar in hohen Tönen über ihn gesprochen hatte. Aber gleiches hätte Sébastien auch über seinen besten Freund getan, auf den er große Stücke hielt. Als einen Mann mit Visionen hatte Sébastien sich noch nie gesehen, aber dies mochte wohl durchaus auf ihn zutreffen, obwohl eigentlich er es war, der auf François Betreiben anwesend war und nicht ungekehrt – aber das vergaß Sébastien über der Schmeichelei, als die er diese Äußerung auffasste (möglicherweise fälschlicherweise, aber er hörte, was er hören wollte). Allerdings hatten Erica Lavalles Berührung, vor der er nicht zurückzuckte, das folgsame Verhalten seines Freundes, zusammen mit ihrer verruchten, provozierenden sowie dabei entwaffnenden Art etwas Irritierendes, aber, nach wie vor, Anziehendes an sich.

Wenn Erica Lavalle Sébastien damit aus dem Konzept bringen und um den Finger wickeln wollte, verbuchte sie wohl einen Erfolg, allerdings wurde er sich ihrer Manipulation nicht wirklich bewusst. Im Gegenteil, diese fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Einerseits wollte er mit seiner Antwort auf ihre Frage bezüglich seiner angestrebten Vorgehensweise bei der Entführung Eindruck bei ihr machen und sie zufriedenstellen – und was genau sie von ihm hören wollte, war nicht unbedingt leicht einzuschätzen –, andererseits wollte Sébastien auch an seiner eigenen Überzeugung und seinem Versprechen gegenüber Nicodème festhalten, dass er unnötigen Schaden von Darboy und anderen abwenden wollte. Es gab vielerlei Faktoren, die noch nicht genau geplant waren. Zumindest hatte Sébastien keine Kenntnis von solchen Planungen. Wo würden Darboy auflesen wollen und wie und wann? Wollten sie ihn aus der Kirche entführen, von der Straße oder aus seinem Bett? Wollten sie während der Entführung großes Aufsehen erregen oder Zeugen vermeiden? Sébastien wollte Verletzte vermeiden, auf beiden Seiten, denn Paranoia vor der Nationalgarde, wie Madame Lavalle es genannt hatte, wäre wohl auch in diesem Fall gerechtfertigt. Die Gardisten wären sich wahrscheinlich nicht im Klaren darüber, dass es eigentlich ihre „Verbündeten“ sein würden, die den Pfaffen entführten. Vermutlich würden sie so eine Aktion mit Waffengewalt unterbinden wollen. So war die Entscheidung für eine Antwort für Sébastien nicht schwer.

„Waffen sind überzeugender als Worte allein, Madame“, ging er im selbstsicheren Ton auf ihre Wortwahl ein, ohne ihrem Blick auszuweichen, und versuchte dabei, möglichst gelassen zu klingen, „doch würde ich davon absehen, Darboy niederzuknüppeln oder ihn mit einem Gewehr aus seiner Kirche zu scheuchen. Ich würde zunächst eine unauffälligere Methode bevorzugen, um Probleme zu vermeiden, bis wir ihn dort haben, wo wir wollen – die Ahnung von spitzem Stahl oder einem kurzen Lauf im Rücken wird ihn sicherlich fügsam machen und für weniger Aufsehen sorgen. Es sei denn, das genau ist erwünscht, oder Heimlichkeit ist irrelevant. In dem Fall wäre eine Chassepot wohl nützlicher als anderes.“
Nun blieb es wohl abzuwarten, was Erica Lavalle davon hielt.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #67 am: 19.03.2014, 13:20:00 »
Paul hörte dem deutschen General unruhig zu. Seinen Cidre hatte er fast nicht mehr angerührt. Er seufzte hörbar auf, als von Lütjenburg geendet hatte. "Und ich dachte, dass ich mit der Politik fertig sei. Ich hatte mir damals gesagt, dass nicht mehr Deutschland oder ein anderes Land meine Heimat sei, sondern nur noch ecclesia[1]."

Paul stand auf und ging im Raum herum. Er brauchte einen klaren Kopf und das Gehen half ihm beim Nachdenken. Da waren viele lose Enden, die sich für ihn nicht zusammenbringen ließen. Viele Dinge störten ihn: das Politische, die persönlichen Feindschaften, das Parteiergreifen und die Aussicht auf Gewalt. "Herr Jesus Christus, was hättest Du getan?", murmelte er, als er die spärlichen Informationen rekapitulierte.
Paul wünschte sich, dass er sich aus der Sache heraushalten könnte, doch dies hätte den Tod von vielen guten Menschen zur Folge. Fakt war, dass Paul Teil dieser Welt war und er wahrscheinlich schon darum nicht ohne Sünde aus ihr heraus kam. 'Ein gottloser Mann, der die Geringen bedrückt, ist wie ein Platzregen, der die Frucht verdirbt', wusste schon König Salomo[2] und auch, dass 'kein Mensch so gerecht ist auf Erden, dass er nur Gutes tue und nicht sündige'[3]. Es war ein Dilemma und ohne Schaden kam er aus der Sache nicht heraus. Paul wusste aber auch, dass er genau aus diesem Grund nun eine Entscheidung treffen musste.

Paul kehrte von Lütjenburg den Rücken und kniete sich vor das kleine Kreuz auf dem Tisch an der Rückwand,eine Geste, die er sonst nicht tat. Doch angesichts der Sache,die zu tun war, war es ihm ein tiefstes Bedürfnis, in Demut vor seinen Herrn und Schöpfer zu treten. "Einem jeden Mensch hast Du ein Leben gegeben. Wir können uns die Umstände nicht aussuchen, aber wir können uns entscheiden, was die Umstände mit uns machen. Mein Herz sagt mir, dass ich für von Lütjenburgs Sache eintreten muss. Ich tue es, Gott, weil ich die Menschen so sehr liebe, wie Du sie geliebt hast. Ich habe nicht die Kraft, dass ich es schaffe, ohne mich zu versündigen. Ich bereue meine Sünde schon jetzt, aber tun muss ich sie. Ich vertraue Dir meine Schuld an und bitte Dich, sie mir um Deines Sohnes Willen zu vergeben oder mich zu richten, wie es Dir gefällt. Aber tun muss ich sie. Amen.", betete er leise.

Er bekreuzigte sich und stand auf. Er blickte von Lütjenburg streng an. "Bemühen Sie sich nicht, mir zu beweisen, wie verdorben und böse die Lavalles sind. Machen Sie mich nicht zu einem Teil einer privaten Rechnung. Ich höre doch, wie sie die Sache aufbringt. Ich möchte, dass sie ihren Freund in liebevoller Erinnerung behalten - aber ansonsten lassen Sie alle ich Gefühle fahren. Böse Gedanken vernebeln Ihren verstand und verleiten zu Dummheiten."

Paul setzte sich wieder an den Tisch zu von Lütjenburg. Er wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht, als könnte er die Anstrengung der Entscheidungen wie Schweiß einfach von sich abwischen. "Also gut. Unser erstes Problem ist, dass wir zu wenig wissen darüber, was in der Stadt vor sich geht und welche Möglichkeiten wir haben. Ich weiß auch nicht, wer oder was der 'Leuchtturm des Mutes' ist. Dass es ein Katholik sein muss, noch dazu einer mit einem gewissen Amt und Einfluss,ist deutlich. Es ist nicht ungefährlich für einen Protestanten in Paris und ich meide den Umgang mit Katholiken. Darum kenne ich mich da nicht aus. Dies herauszufinden, ist das Erste.
Mit diesem Louis, zweitens, kann ich Ihnen weiterhelfen
[4]. Es ist meines Erachtens der Kommunard Louis Auguste Blanqui gemeint. Er ist für den gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse und will eine Diktatur des Proletariats erreichen. Auf ihn wird ein Zitat zurückgeführt, dass lautet: 'Dass Frankreich vor bewaffneten Arbeitern strotzt, ist der Beginn des Sozialismus'. Momentan ist er im Gefängnis.
Drittens müssen wir wissen, wer uns helfen kann und auch, was unsere Helfer selbst im Schild führen.Wir wollen doch nicht den Teufel mit dem Beelzebuhl austreiben, nein?
"

Paul schien noch einen Moment nachzudenken. "Also gut, Herr von Lütjenburg, ich schlage vor, dass sie versuchen, etwas über den Leuchtturm herauszufinden und warum dieser so wichtig ist. Ich werde mit dem Sohn von Lecomte sprechen. Oder sollen wir gemeinsam gehen?"
 1. alt-gr.:Kirche bzw. Versammlung von Gläubigen
 2. Spr 28,3
 3. Kohelet, 7,20
 4. Ich hatte den ersten Wurf ja geschafft.
« Letzte Änderung: 19.03.2014, 14:15:18 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Menthir

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« Antwort #68 am: 20.03.2014, 21:23:20 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:34 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Die Augen der rothaarigen Dame schienen beinahe zu funkeln, mit diesem unheilvollen wie verlockenden Glänzen von spielerischer Zufriedenheit. François wollte abermals das Wort erheben, doch wieder diese Geste, die François verstummen ließ. Er öffnete den Mund einen Mund, als würde er wütend etwas erwidern wollen, doch die Frau legte nur den Kopf zur Seite und starrte François nieder. Etwas, was Sébastien bei seinem besten Freund noch nicht gesehen hatte, zumindest nicht mehr seit seine herrische Mutter Mathilde vor zwei Jahren verstorben war. Sein bester Freund war bekannt für seine Dickköpfigkeit und sein dandyhaftes[1] Gehabe, doch irgendwas an der Lavalle ließ den jungen Franzosen wieder so wirken wie ein Jüngling, der sich das erste Mal einer erwachsenen Frau mit den Hintergedanken von Erotik näherte.
Nicodéme jedoch fand seine Besinnung wieder und unterbrach nun seinerseits Erica Lavalle, die gerade zu einer Antwort an Sébastien ansetzte.
"Mit dem Leben Fremder zu kokettieren, Madame, ist unverzeihlich. Dies ist kein Spiel und es geht nicht um Personen. Sie werden bezahlt für Ihre Hilfe. Ich teile Ihr Verhalten nicht, Madame, hier aufzukreuzen und so zu tun, als sei das Wohl und Wehe einer gerechten, einer sozialen Sache von Ihrer Willkür allein abhängig. Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen und sie macht die Dinge einfacher, aber sein Sie versichert, dass wir uns nicht der persönlichen Belange von Ihnen und Ihrem zu unrecht erzürnten Gatten aussetzen, nur um Ihnen zu gefallen. Wir sind weder in unserer Sache blind, noch sind wir Ihnen ausgeliefert. Also fangen Sie uns an wie Menschen zu behandeln, und kommen Sie bitte zum Punkt."
Kurz zuckte die linke Augenbraue der rothaarigen Frau erzürnt, doch ihr Gesicht zeigte dennoch ein nur wenig glaubhaftes Lächeln. Sie drehte sich über die Schulter, ihren Körper noch immer Sébastien zugewandt, und versuchte Nicodéme ähnlich niederzustarren wie François, allerdings versuchte der sanftmütige Pfarrer gar nicht ihrem Blick standzuhalten. Er spürte, worauf es hinauslief, also blickte er unter ihrem Blick auf den Rock ihres blauen Kleides. "Sie sind kein Spaß, Pére. Sie sind einfach kein Spaß. Liegt Ihre Sorge etwa darin, dass Bürger des neuen italienischen Staates[2] nach Frankreichs Niederlage in Sedan[3] dem Kirchenstaat das Ende[4] bereiteten? Keine Sorge, Pére...", säuselte sie spöttisch und drehte sich, während sie sprach wieder zu Sébastien zurück, "Männer wie Sébastien werden Ihre katholischen Hintern verteidigen und auch Ihre Rechte, zumindest im Rahmen der Brüderlichkeit, der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetze. Und Frauen wie ich, sind in der Tat Ihre einzige Chance, nun etwas zu verändern." Ihre Augen fixierten Sébastiens und ein lüsternen Blick schlich sich in ihr Antlitz, von Nicodéme und François nicht zu sehen. "Sehen Sie es so, es ist ein Schachspiel. Manchmal werden die Bauern geopfert, um das Spiel zu gewinnen. Die Spielregeln haben sich geändert und mit ihnen die Taktiken. Glauben Sie mir, ich habe viel mehr Schlachten und Revolutionen begleitet, als Sie sinnige Messen gehalten haben. Nun ist es so, dass die Bauern eben einen Läufer[5] opfern, um das Spiel zu gewinnen. Die Könige sind sowieso längst gefallen und in anderen Ländern fallen sie noch. Der Papst ist nichts anderes mehr als ein Johann Ohneland[6], der wild um sich schlägt. Sie sehen doch auch, dass Sie die Strukturen Ihrer Kirche verändern müssen, wenn Sie in der neuen Zeit Ihre Privilegien und Ihren Einfluss behalten wollen, Pére. Die Kirche verharrt im feudalen System. Die Kirche wird zurecht enteignet werden, wenn Sie sich weigert. Und glauben Sie tatsächlich, dass Männer wie Darboy umdenken, um die eigene Kirche zu retten? Mitnichten! Und so Pére, haben sie doch auch ideell zwei Möglichkeiten. Entweder Sie nehmen die Chance an, die ich und nur ich Ihnen biete oder Sie warten darauf, dass Gottes Mühlen langsam, aber gerecht mahlen. Ich fürchte jedoch, dass Ihre Kirche an Gerechtigkeit eher zugrunde gehen könnte."
Sie lächelte sanft, ohne Nicodéme anzuschauen. Sie hatte ihn, zumindest für ihr Empfinden, abgestraft und kümmerte sich nun wieder um Sébastien.

Sie sprach gleich weiter, mit ihrer leicht getragenen Stimme, um Nicodéme die Möglichkeit zum Gegenwort zu nehmen, und sie wechselte das Thema abrupt, um einen Rückbezug auf den Angriff, sollte der Pfarrer das wagen, unangenehm und deplatziert wirken zu lassen. "Sehr schön, Sébastien. Kein Mann, der sinnlos mit Gewalt prahlt, aber weiß Sie einzusetzen, wenn sie vonnöten ist. Das ist ideal. Das lässt jetzt die Wahl für zwei Vorgänge, zu denen ich ausreichend Information darbieten will. Es bleibt Ihnen, Darboy heute Abend beim Abendessen mit Freunden zu entführen. Das würde der stille Weg sein, zumindest der stillste, der Ihnen nützt. Ich würde jedoch einen Moment eher zuschlagen. Denkbar wäre hier, in die Abendmesse einzudringen und ihn vor möglichst vielen Augen zu entführen. Nicht für die Gewalt, für den Effekt. Man denke nur daran, wie sehr es dem Umstürzen alter Strukturen nützte, wenn möglichst viele..." Diesmal unterbrach François Erica, etwas fassungslos. "Aber die Kirche des Erzbistums ist die Kathedrale, also Notre-Dame[7]?" "Genial, oder? Wer würde denken, dass man den Darboy mitten aus seiner Abendmesse stibitzt. Das würde die Republikaner erst richtig unter Druck setzen, wenn sie nicht einmal ihre Pfaffen mitten am Tagen schützen können. Ich gebe zu, hier wäre zu viel Gewalt fatal. Aber es wäre ein Symbol, welches Ihrer Bewegung sehr hilfreich sein könnte. Und wenn Sie die richtigen Parolen rufen, das gilt auch für Sie, Pére, dann könnte es sogar der ganzen französischen Kirche helfen." Nicodéme räusperte sich nur unglücklich und verärgert und schwieg. Im Hintergrund hörte der Schmiedehammer auf zu arbeiten, ein letztes, erzürntes Zischen der Hitze im kühlenden Nass eines Eimers, dann schwieg die behelfsmäßige Schmiede. "Wenn Sie das nicht wünschen, wird Ihr Pére Ihnen helfen können, Zugang zum Hause zu bekommen, nicht wahr?" Nicodème schaute jetzt wirklich unglücklich drein, als würde es ihm auf einmal noch weniger gefallen. "Die Familie Bouthillier hat schließlich häufig und gerne reiche und einflussreiche Gäste im Haus, als kleine Reminiszenz an die alten Zeiten vor der Fronde[8], als man noch hoch im Lichte der Krone und Kirche stand[9] und die Söhne des Hauses nicht einfache Pfarrer werden mussten, sondern noch nach Bischofskronen griff. Eine Familie, verzerrt von dem Wunsche wieder in Glorie zu baden, abgesehen des abtrünnigen Sohnes, der sich mit Pack abgibt und dem niederen Volke den Aufstieg gönnt. Aus diesem Grunde ist Monsieur Darboy übrigens im Hause Bouthillier. Er möchte etwas vermitteln, hält sich unser Nicodéme doch für den kleinen Nachfolger, zumindest im Geiste, aber nicht in der Tat, eines großen Mönches. Arman Jean Le Bouthillier de Rancé[10]. Ach, die armen Bouthilliers, so eine tragische Familie. Wir sehen also, dass dieser Plan so seine Nachteile brächte, wenn man ihn im Hause Bouthillier durchführte. Zum einen wären es weniger Zeugen, sodass die Verhandlungsposition danach zwar noch immer stark ist für Blanqui, allerdings wären die Optionen und Limitierungen der Verhandlungen andere, zudem würde man die schwache Republikaner nicht brüskieren. Zum anderen würde Nicodéme damit wahrlich in Ungnade fallen bei seiner Familie. Das ist wirklich tragisch, nicht wahr?" Jetzt blickte sie über die Schulter zurück zu Nicodéme, sie lächelte jetzt süffisant und verletzend. "Ach nee. Nicodéme steht ja voll und ganz hinter der sozialen Bewegung. Deswegen wird es ihn nicht stören, wenn seine Familie ihn enterbt und er seinen Posten als gut bezahlter Pfarrer verlöre. Dann ist der Plan vielleicht doch ohne Haken, nur eben etwas effektloser." Ihr Blick fing wieder Sébastien ein. Während Nicodéme deutlich erbleichte. Er drehte sich weg und blickte jetzt aus der Tür hinaus, scheinbar um frische Luft zu atmen, vielleicht auch, damit man sein Gesicht nicht sah. Was mochte auf ihm liegen? Zorn, Ärger, Schuld? "Eure Mitstreiter haben nicht euren Verstand, Monsieur. Bestimmen Sie also, Sébastien, ob Sie in die Abendmesse wollen und Ihren Mitstreiter das Ordal[11] ersparen, oder ob Sie lieber den unauffälligeren, sichereren Weg wählen und dafür die Zukunft Ihres Freundes im Geiste opfern."
 1. Wir sind in der Zeit des klassischen Dandytums.
 2. Das moderne Italien steht erst (mit nur noch kleinen Veränderungen seit Ende des Risorgimento
 3. Schlacht von Sedan
 4. Der Kirchenstaat wurde am 6. Oktober 1870 von italienischen Truppen aufgelöst.
 5. In der englischen Sprache ist der Läufer im Übrigen der Bishop, deswegen das Gleichnis.
 6. John Lackland
 7. Kathedrale Kathedrale Notre-Dame de Paris
 8. Fronde
 9. Gemeint sind die beiden französischen Außenminister zur Zeit Kardinal Richelieus Claude Bouthillier und sein Sohn Léon Bouthillier
 10. Arman Jean Le Bouthillier de Rancé
 11. Ordal
« Letzte Änderung: 20.03.2014, 21:24:03 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #69 am: 29.03.2014, 20:26:21 »
Sébastien erkannte erfreut, dass seine Worte bei Erica Lavalle Anklang fanden, was seine Selbstsicherheit in der aktuellen Situation nur steigerte. Er war schon immer jemand gewesen, der offen seine Meinung sagte, und durchaus ein Mann der Tat war, wenn die Situation es erforderte, und wenn diese Einstellung einer anziehenden Frau gefiel, war das durchaus schmeichelhaft. Selbstzufriedenheit machte sich in ihm breit. Sein bester Freund hingegen schien sich von der persönlichkeitsstarken, rothaarigen Frau einschüchtern zu lassen. Wundern sollte Sébastien dies schon, immerhin kannte er François als sonst so selbstbewussten Sturkopf, aber die Erkenntnis, dass François zwar vieles nicht scheute, jedoch aber resolute Frauenzimmer, wie dessen Mutter eins gewesen war, amüsierte Sébastien dann doch. Der junge Arbeiter selbst fand gerade dieses selbstsichere Auftreten Madame Lavalles äußerst reizvoll. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte – und sie wollte ihn, das gab ihr lüsterner Blick ihm unmissverständlich zu verstehen. Vermutlich konnte sie als Erwiderung ebenfalls Verlangen in seinen Augen aufblitzen sehen. Sébastien hatte das Empfinden, Herr der Lage zu sein, ein trügerisches Empfinden, höchstwahrscheinlich, doch von der Art, in der Erica Lavalle über ihn und mit ihm sprach, war er recht angetan. Er erwischte sich dabei, dass sein Blick interessiert über ihren Körper huschte, als sie Nicodème ihre Aufmerksamkeit zuwandte, korrigierte das jedoch, noch bevor sie wieder ihn fixierte.

Obwohl die Reize, denen Sébastien sich ausgesetzt fühlte, ablenkend und einnehmend waren, fand er genügend Konzentration, um den Inhalt Madame Lavalles Vortrag folgen zu können. Notre-Dame. Dies sollte also der Ort des Geschehens sein, wenn sie diese Option wählten. Erst als François den Namen der Kathedrale aussprach, wurde Sébastien wirklich bewusst, was sie da gerade planten. Darboy war kein einfacher Pfaffe, der in einem beschaulichen Gotteshaus seine Messen hielt. Ein Erzbischof predigte in einer viel größeren Kategorie von Kirche. Mit erheblich mehr Zuhörern. Sébastiens Augen entglitten für einen kurzen Moment Madame Lavalles Gesicht und suchten Blickkontakt zu François. Die Überraschung, die Sébastien seinem besten Freund deutlich angehört und angesehen hatte, empfand er ebenso. Notre-Dame. „Genial“ nannte Madame Lavalle diesen Plan. Vielleicht war er das wirklich. Obwohl Sébastien nicht umhinkam zu bemerken, dass sich mit einem Mal leichte Zweifel in ihm regten, ob sie hier das Richtige taten. Nicodème machte einen wenig begeisterten Eindruck – jedoch wirkte er nach Madame Lavalles nachfolgendem Vorschlag, Darboy aus dem Hause Bouthillier zu entführen, und den dargelegten Konsequenzen, die das für Nicodème haben würde, geradezu entgeistert und wandte sich sogar ab – vermutlich, um sich zu sammeln und gegen innere Dämonen anzukämpfen.

Sébastien selbst fühlte sich etwas überfordert mit der Situation, bis Erica ihm überließ die Entscheidung überließ – als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihm die Erlaubnis dazu erteilte. Doch Sébastien zögerte nicht zu antworten. Er hatte sich entschieden, noch während Madame Lavalle den zweiten Vorschlag dargelegt hatte.
„Ich gebe zu, dass ich noch immer eine möglichst sichere Vorgehensweise bevorzugen würde“, begann er, ohne, im Gegensatz zu seinen Mitstreitern, dem Blick dieser Frau auszuweichen. „Ich möchte nicht, dass jemand unnötig zu Schaden kommt. Aber ich will ebenfalls niemanden in die Lage bringen, für unsere Sache gegen die eigene Familie vorgehen zu müssen. Nicht, wenn dies nicht freiwillig geschieht. Die Entscheidung, dieses Opfer zu bringen oder nicht, zusammen mit dem möglichen Verlust seines Amtes, liegt allein bei Nicodème. Ein derartiger Beweis von Treue zu uns ist unangemessen und gleichermaßen unnötig. Das werde ich von niemandem verlangen. Nicodème ist hier, um zu helfen, und es wäre weder im Sinne der Freundschaft noch der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ihm Bedingungen aufzuzwingen, die er nicht mit sich vereinbaren kann, Madame“, legte Sébastien seine Sicht der Dinge entschlossen dar. Er würde nicht über das Schicksal des Priesters entscheiden. Das wollte er nicht und er war auch der Überzeugung, dass ihm das nicht zustand.
„Familie bleibt Familie, auf welcher Seite sie auch stehen mag, und was wäre ein Pfaffe ohne seine Kirche?“
Dem Pfaffen deutlich anzusehen, dass ihm der Plan, Darboy im Hause seiner Familie zu entführen, was eine Demütigung seiner Verwandtschaft durch ihn selbst und den Verlust seiner Existenz einschließen würde, nicht gefiel – milde ausgedrückt. Und so war dieser Plan für Sébastien keine Option, sofern Nicodème keine Zustimmung geben würde. Auch würde Sébastien Nicodème für dessen Entscheidung, wie auch immer diese ausfallen würde, nicht verurteilen. Der junge Arbeiter würde, wie gesagt, Nicodème nichts abverlangen, was diesem unangenehm wäre. Das widerspräche seinen Werten und seinem Kameradschaftssinn, zumal Sébastien selbst seine Familie niemals derart verraten würde. Nicodèmes Anwesenheit hier, obwohl dies den übrigen Bouthilliers missfallen dürfte, war für Sébastien Beweis genug für Nicodèmes Entschlossenheit, Gutes zu tun und den Arbeitern zu helfen. Große persönliche Opfer zu bringen, nur um die eigene Bereitschaft zu zeigen, für eine gerechte Sache einzustehen, hätte weder Sinn noch Nutzen. Sébastien bedachte Nicodème mit einem mitfühlenden Blick, bevor er sich wieder besann und auf die Entführung Darboys aus der Kirche zurückkam.

„Notre-Dame ist ein gewagtes Ziel, aber erwarten wird man uns dort bestimmt nicht, da haben Sie Recht, Madame“, äußerte er sich, nachdem er sich wieder Erica Lavalle zugewandt hatte, unabhängig davon, was sie nun von ihm denken mochte. Er wollte ihr gefallen, das mochte stimmen, doch vollends verbiegen würde er sich zu diesem Zweck nicht. Er stand hinter Nicodème und kameradschaftlichem Verhalten allgemein. So skrupellos, auf eine Vorgehensweise zu bestehen, weil sie ihm attraktiver erschien, aber dabei einem Verbündeten gegen dessen Willen wissentlich zu schaden, war er nicht. Außerdem: Notre-Dame... Den Gegner zu überrumpeln und für Aufsehen zu sorgen, reizte Sébastien. Sehr sogar, mehr als auf der sicheren Seite zu bleiben; und vermutlich war dies seinen Augen abzulesen.
„Die Entführung des Darboy während der Messe hat tatsächlich die Vorzüge, viele Zeugen zu haben und die Republikaner zu demütigen, aber würde es das richtige Licht auf unsere Bewegung werfen, wenn wir einen Pfaffen aus einer Messe mitnehmen?“, wandte er dann dennoch ein und runzelte etwas nachdenklich die Stirn.
„Selbst wenn wir Darboy nicht dabei nicht verletzen, wovon ich überzeugt bin, dass es ohnehin nicht notwendig sein wird, könnten nicht nur die Republikaner daran Anstoß nehmen. Was nützt es uns, unseren Louis freizubekommen, wenn wir mit der Methode auch unsere Brüder und Schwestern im Geiste gegen ihn aufbringen? Unser Erfolg hätte einen schalen Beigeschmack.“
Vielleicht würde man diese Worte als ausgesprochene Gedanken werten und nicht genauer darauf eingehen, da Sébastien anschließend einlenkte.
„Doch ich will Ihrer Einschätzung vertrauen, dass Notre-Dame die bessere Wahl ist. Was genau haben Sie im Sinn, Madame?“, interessierte es ihn, mehr zu erfahren.
„Liberté, égalité, fraternité!“

Menthir

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« Antwort #70 am: 08.04.2014, 22:24:07 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:35 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Nicodéme drehte sich um und blickte zu Sébastien. Ein dankbares, ein zutiefst dankbares Nicken folgte. Sébastien hatte eine unglaublich schwere Entscheidung getroffen und hatte Nicodéme das Schicksal erspart, zwischen den Mühlen der Ereignisse gänzlich zerrieben zu werden. Und doch zeigte Nicodémes Gesicht, dass es ihm noch immer wie eine Wahl zwischen Pest und Cholera vorkam. Die Pest jedoch, sie schien für den Moment abgewendet und diese Dankbarkeit zeigte sich in seinem Gesichtszügen. Es blieb gleichwohl schwer für den Priester, immerhin war deutlich, dass er die Hand gegen einen Kirchenoberen erheben musste. Einen Kirchenoberen in Bedrängnis zu bringen, das konnte für keinen gestandenen Katholiken, der Teil dieser Hierarchie war, einfach sein. Er war noch immer in einer Zwickmühle in moralischer Hinsicht und in Fragen seiner Loyalität. Und zurecht konnte man sich fragen, ob Darboy wirklich das richtige Ziel war. Dennoch erhob Nicodéme nicht die Sprache. Zu dankbar war er und zu sehr war ihm bewusst, dass wenn sie jetzt etwas erreichen wollten, dies zumindest eine greifbare Chance war. Er rang sichtlich mit sich, vielleicht redete er sich schließlich dann doch ein, dass seine Opfer seiner Kirche helfen würde. War es nicht die Aufgabe eines Kirchenmannes, auch die Schwachen zu versorgen? War etwas anderes je sein Ziel gewesen?

Erica Lavalle spitzte die Lippen und lächelte freundlich. Wenn sie eine andere Reaktion Sébastiens erhofft hatte, dann verbarg sie diese gut. Wenn sie jedoch gewisse Ideale teilte, wie sie Glauben machen wollte, dann war ihr Lächeln durchaus berechtigt. Wenn es an Sébastien war, an seinen persönlichen Prinzipien festzuhalten und dabei Menschlichkeit zu beweisen, dann hatte er diese Prüfung, wenn man es denn so sehen wollte, bestanden.
"Wenn Sie eine sichere Methode bevorzugen, Monsieur, und dennoch für Trubel sorgen wollen, dann bin ich genau Ihre Dame.", versicherte sie schließlich, dass sie mit Sébastiens Wahl einverstanden war. Ihre Augen leuchteten aufgeregt. "Am heutigen Abend zur zwanzigsten Stunde werden sie sich zur Messe einfinden. Sie können sich den Spaß gönnen, und dem guten Mann bei seiner Predigt zuhören. Er redet gerne und viel. Auf jeden Fall werden sie sich in die oberen Ränge des Chores mischen. Dort werden Sie sicherlich etwas vorsichtiger sein müssen, das dürfte ihrem Gemüt jedoch entsprechen. Dort finden Sie alles an Ausrüstung, was Sie benötigen werden[1]. Ich überlasse Ihnen freilich, wann sie genau zuschlagen. Sie sollten es jedoch nicht vor 21:00 Uhr tun. Das liegt daran begründet, dass recht unweit von Notre-Dame die Nationalgarde ein Appell abhält und Sie insofern in Unbill geraten könnten, wenn die Gardisten sich noch nicht verzogen haben. Den genauen Zeitpunkt danach können Sie selbst Ihrem Sinn für Theatralik und Dramatik überlassen. Gewöhnlich gehen seine Abendmessen um die zwei Stunden. Für die Zeit nach neun Uhr wird in der Nähe des Hauptportals der Kathedrale eine Kutsche bereitstehen, in der Sie Darboy abtransportieren können an einen Ort Ihrer Wahl. Diesen Ort sollten Sie vielleicht noch festlegen."
Sie tätschelte die Wange Sébastiens und schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln. "Sie sollten jedoch nicht, Monsieur, jetzt anfangen zu zweifeln. Sicherlich wird der eine oder andere an Ihrem Vorgehen zweifeln, aber allen Menschen Recht getan, Monsieur, ist eine Kunst, die niemand kann. Denken Sie nur an den schicksalshaften 14. Juli 1789. Der berühmte Sturm der Bastille[2]. Ihre Bewegung, mit Verlaub, entstammt doch denselben menschlichen Idealen, und da machen Sie sich im Vergleich Sorge, dass Ihr Vorgehen ungewöhnlich oder überzogen sein könnte? Ich hätte Ihn gerne auch genügend Dynamit zur Verfügung gestellt, um Notre-Dame gleich zu sprengen. Allerdings habe ich eine Schwäche für Kulturdenkmale und gotische Architektur, und sagen wir, dass unsere Beziehung zur wichtigsten Dynamitdynastie[3] etwas angespannt ist.", sie lachte glockenhell und freundlich und nahm ihre Hand jetzt von Sébastiens Gesicht. "Große Visionen, Monsieur, verlangen nach großen Taten."

Sie wandte sich ab und ging zur Tür. Nicodéme trat drei Schritte zur Seite und musterte Erica Lavalle mit unfreundlicher und nachdenklicher Miene. Doch er sagte nichts. Die rothaarige Frau mit den tiefen Augen drehte sich nochmal um. "Sie werden das schaffen, Sébastien. Sie haben den Hunger und die Republikaner schon besiegt. Sie werden Tatkraft und Vision miteinander vereinen können. Wenn Sie Darboy haben, werde ich mich wieder an Sie wenden." Sie blickte Sébastien lange in die Augen, wieder einen Tick zu lange, um unberührt zu sein. "Und dann werden wir unter vier Augen die wirklich wichtigen Informationen austauschen, Monsieur." Worte wie ein gehauchter Kuss. Dann verschwand sie aus dem Sichtfeld.

Sie ließ Sébastien, Nicodéme und François alleine und alle drei brauchten sie einen Moment, um die Situation sacken zu lassen. Es war die kohlenhafte Stimme Achillés, die sie aus den stillen Überlegungen riss. "Meinetwegen hier.", sagte er, kurz angebunden wie immer, und deutete an, dass er ihnen zugehört hatte. Zumindest seit sein Schmiedehammer still geblieben war. Doch dann ging er wieder wortlos an ihnen vorbei und nahm in der Nähe der Tür drei kleine Rohlinge auf, die er zu seiner Schmiedebank trug. "Typisch, Achillè.", lachte François schließlich auf und schien wieder aufzuwachen, nachdem die rothaarige Frau gegangen war. Sein Gemüt lichtete sich rasch wieder auf, anders bei Nicodéme. Dieser lenkte das Gespräch sofort zurück auf das Thema. Er blickte auf seinen Cordstoff, den er trug, nachdenklich wie ein alter Philosoph. "Das waren wenig Informationen, und doch so, als hätten sie das eigentlich schon geplant. François, was hast du im Vornherein mit ihr ausgemacht?"
"Nicodéme, du alter Griesgram. Wir haben nur die Bezahlung ausgemacht. Dass sie so viel vorbereiten und scheinbar ja auch auf deine möglichen Gegenworte vorbereitet waren, zeigt doch nur, dass wir professionelle Revolutionäre angeheuert haben. Haben wir nicht genau danach gesucht? Wir brauchen sie doch auch nur solange, bis wir Auguste wiederhaben. Wir müssen eben etwas wagen, wenn wir das zu unseren Gunsten entscheiden wollen, oder nicht? Habt ihr je erlebt, dass die Zögernden in dieser Welt etwas bewirken? Wir haben entschieden: Ungleich ist Unrecht. Aber der Weg dahin ist eben mit Opfern und Mut verbunden."
"Ich finde die Methoden eben nicht ziemlich. Ich mache mir nur Sorgen. Wie viele Männer haben mit guten Absichten begonnen und sich dann im Strudel der Taten verloren? Wir können das gerne durchziehen. Aber ich sage nur, dass wir vorsichtig sein müssen. Wer weiß, vielleicht können wir ja auch mit Darboy verhandeln? Oder kennt ihr noch Mitstreiter? Zu Dritt so eine Entführung? Ich bin mir da auch noch nicht sicher. Sèbastien, was meinst du dazu? Sollen wir das wirklich wagen? Was machen wir nun?"
Nicodéme fing sich einen wütenden Blick von François, als würde er sich von Nicodéme wie von Erica behandelt fühlen.
 1. Die Ausrüstung kannst du entweder selbst bestimmen, mich bestimmen lassen oder wir zusammen bestimmen, je nachdem. :)
 2. Sturm auf die Bastille
 3. Kleiner Verweis auf die Alfred Nobel und Co. und die Vorgeschichte der Lavalles und der Nobels
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sébastien Moreau

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« Antwort #71 am: 12.04.2014, 19:44:11 »
Sébastien hatte eine Entscheidung getroffen, mit der er zufrieden war. Und dass nicht nur, weil Nicodème ihm sichtlich dankbar dafür war und auch Madame Lavalle einverstanden zu sein schien, sondern auch, weil er sie für die richtige hielt. Darboy beim Abendessen mit Freunden zu entführen hatte weder den Effekt noch den Reiz einer fast schon dreisten Vorstellung inmitten einer Messe in Notre-Dame. Das würde sicherlich für das Aufsehen sorgen, was sie sich versprachen. Die Republikaner würden gezwungen sein, Louis freizugeben, wenn in aller Munde war, dass sich ihr örtliches Kirchenoberhaupt in den Händen der Blanquisten befand.

Sébastien lauschte Ericas Plan. Sie schien sich gut vorbereitet zu haben. Es war nützlich zu wissen, wann genau sie am besten zuschlagen sollten, denn es könnte unschön enden, wenn die Nationalgarde ihnen in die Quere kam. Obwohl die Nationalgarde eigentlich auf ihrer Seite stand, bezweifelte Sébastien, dass die Gardisten dies erkennen würden, wenn sie sich den Darboy schnappten. Die morgendlichen Ereignisse auf dem Place Blanche hatten wieder einmal bewiesen, dass sie mit Vorsicht vorgehen müssten. Mit der Nationalgarde war im Zweifelsfall nicht zu spaßen.

Als die rothaarige Frau Sébastien berührte, durchfuhr ihn erneut ein Prickeln. Sie reizte ihn vor seinen Freunden, was ihn nicht störte, denn dazu gefiel ihm ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr. Ihr gelang es, seine Bedenken für den Moment fortzuwischen. Er war bereit, das Wagnis einer Entführung einzugehen, und für überzogen hielt er es nicht unbedingt, doch zwischen dem, was er dachte und dem, was andere dachten, mochten dennoch Welten liegen. Die Idee, dass nicht nur Republikaner Anstoß an der Entführung des Erzbischofs von Paris nehmen könnten, war ihm nicht ohne Grund gekommen. Letzten Endes, auch wenn er sich wenig mit der Institution Kirche verbunden fühlte, war er auch ein Katholik und nicht ohne Skrupel, was das Verhalten gegenüber Geistlichen und das Wahren der Sitte in Gotteshäusern betraf. Der Gedanke, Notre-Dame zu sprengen… Madame Lavalle hatte wirklich einen außergewöhnlichen Humor. Diese Verwegenheit machte sie umso anziehender. Ihre Worte bestärkten Sébastien, gerade weil sie ihm gut zuredete und ihm schmeichelte, und auch wenn Fragen in seinem Kopf herumschwirrten, stellte er diese nicht. Innerlich brannte er vor Vorfreude auf das Treffen, das sie ihm in Aussicht stellte, und es schlich sich ein selbstzufriedenes, schelmisches Schmunzeln in sein Gesicht, als Erica Lavalle ging und er ihre Rückansicht genoss. Als sie verschwunden war, meinte er noch ihre kalten, filigranen Finger an seiner Wange zu spüren und ihren Blick auf sich, mit dem sie ihn verschlang.

Dann dachte Sébastien jedoch darüber nach, ob ihm nicht ein Ort einfiel, an den sie Darboy unterbringen könnten, bis es zum Austausch kommen würde.[1] Vielleicht hatte François schon etwas geplant, so wie er seinen besten Freund kannte, allerdings schadete es nicht, ebenfalls Ideen zu sammeln, immerhin war dieser Punkt für das Gelingen ihres Vorhabens vermutlich von großer Bedeutung. Sie brauchten für den Darboy eine Unterbringung, die unauffällig war. Neben Achilles Werkstatt fielen Sébastien, neben  den Wohnungen seiner Mitstreiter, nicht wirklich Orte ein, auf die sie einen schnellen, sicheren und stetigen Zugriff hätten. Sein eigenes Heim schloss er dabei aus, immerhin waren dort Joséphine und die Kinder, die er nicht in die Sache mit hineinziehen wollte – auch, weil seiner Frau das (gelinde gesagt) nicht gefallen würde, das wusste Sébastien mit Sicherheit. Eher wäre da François‘ Elternhaus eine Möglichkeit, da die Mutter seines besten Freundes tot und sein Vater senil war, seine Brüder schon lange nicht mehr zuhause wohnten oder ebenfalls Blanquisten waren. Da dort zudem wenig Besuch ein- und ausging, wäre dies ein relativ geeigneter Ort – aber nur, wenn François aufgrund der Vorkenntnisse seiner selbst bei der Polizei ebenfalls den Ball flachhielt. Genau das machte diese Option vielleicht gefährlich. Vielleicht wäre eine Bauruine besser. Doch diesen Gedanken verwarf Sébastien wieder, denn ihm fielen zwar einige ein, doch diese Orte waren nicht sicher.

Achille riss Sébastien aus seinen Überlegungen, wie auch Nicodème und François, die ebenfalls in Schweigen gehüllt gewesen waren. Sébastiens bester Freund schien sein sonniges Gemüt wiedergefunden zu haben und steckte Sébastien an, der auf François‘ Lachen mit einem Lächeln reagierte. In der Tat, Achille war eher ein guter Zuhörer als ein gesprächiger Geselle, doch Sébastien mochte den verschrobenen Künstler und seine etwas unheimliche Skulpturensammlung. Nicodème gedachte jedoch, bei der Sache zu bleiben, und über ihr gemeinsames Vorhaben und auch über Madame Lavalle zu reden. Sébastien verfolgte den Austausch zwischen François und dem Pfarrer nachdenklich sowie mit einem zustimmenden Nicken zu François‘ Worten, bis Nicodème wichtige Fragen aufwarf und ihn ansprach.

„Ja“, antwortete Sébastien und wechselte seinen Blick zwischen seinem besten Freund und Nicodéme, „lasst es uns wagen.“ In ihm machte sich nun wieder Aufregung breit – im positiven Sinne. Unsicherheiten bestanden, das mochte stimmen, dennoch war Sébastien entschlossen, ihr Vorhaben durchzuziehen.
„Eine Chance wie diese bekommen wir nie wieder. Und die Zeit drängt.“ Anschließend fixierte er wieder Nicodème.
„Aber du hast Recht: wir sollten uns vielleicht nach tüchtigen Helfern umschauen. Notre-Dame ist groß und es schindet bestimmt mehr Eindruck, wenn wir mehr als nur zu Dritt sind. Vielleicht sollte auch jemand Schmiere stehen. Nicht dass wir der Gardisten mit Darboy in die Arme rennen.“
Sébastien ging kurz in sich und rieb sich nachdenklich die Wange.
„Meinst du denn, Darboy ließe mit sich reden?“, fragte er dann, an Nicodème gerichtet. Auch wenn Madame Lavalle über diese Möglichkeit gelacht hatte, war sie vielleicht nicht ganz abwegig. Wäre das nicht genial? Ein Erzbischof, der sich freiwillig entführen und gegen Louis austauschen lassen würde… Ein großer Schwindel und umso mehr ein Schlag ins Gesicht der Republikaner, auch wenn diese nie davon erfahren würden. Die Idee hatte ihren Reiz. Doch hatte sie auch ihre Haken.
„Wenn er mitspielen würde und die Entführung nur zum Schein wäre, wäre vielleicht einiges einfacher. Doch was machen wir, wenn er ablehnt? Dann müssten wir ihn sofort mitnehmen, ohne großes Publikum. Wie wäre dann unsere Verhandlungsposition? Oder was ist, wenn er zustimmt und dann nicht in der Kirche auftaucht oder uns sogar an die Nationalgarde verrät? Wenn wir Darboy einweihen, sollten wir wahrscheinlich ihn ständig überwachen, sonst steht unser ganzes Vorhaben auf der Kippe, Nicodème. Du müsstest das tun und ihm nicht von der Seite weichen, denn du bist unser Pfaffe und wirst dort weniger auffallen als François, ich oder jeder andere. Und selbst dann würde noch ein Risiko bestehen. Denn was wäre, wenn er mitten in der Messe vor der versammelten Menge unser Vorhaben preisgibt? Die Überraschung gibt uns einen Vorteil, denn wir können uns Darboy nur unentdeckt nähern und selbst mit Waffen kommen wir gegen zu viele Gegner, die sich in der Menge bestimmt finden, nicht an. Wir würden nicht nur unsere Freiheit und unser Leben riskieren, wenn wir uns fälschlicherweise auf Darboy verlassen, sondern auch Louis‘ Freiheit und die Zukunft aller Arbeiter. Darboy ist keiner von uns und ist auch nicht wie du, Nicodème. Wenn du dir sicher bist, dass er unsere Sache unterstützt und nicht die der Republikaner, dann wäre es eine Überlegung wert, mit ihm zu reden, doch wenn das stimmt, was Madame Lavalle über ihn gesagt hat, dann glaube ich nicht, dass er mit uns verhandeln wird.“
Am besten würde es wohl sein, den Darboy nicht vorzuwarnen. Sie könnten ihm später immer noch erklären, was sie mit ihm vorhatten und dass ihm nichts geschehen würde. Vielleicht würde er es sogar verstehen.
„Mmh“, machte Sébastien. Ja, was sollten sie nun machen? Er hatte noch immer Kopfschmerzen, weil der Hüne ihn kräftig am Kopf erwischt hatte, und das Nachdenken und Planen besserte dies nicht.
„François, ich denke, mit den Lavalles hast du wirklich einen guten Fang an Land gezogen. Weißt du wen, der uns bei Darboy helfen würde?“
Er dachte selbst überlegte angestrengt und runzelte die Stirn.[2] Sébastien kannte nicht viele mögliche Helfer.
„Mehrere unserer Brüder im Geiste würden mir einfallen“, sagte er, „doch haben einige von den letzten Konflikten noch verletzt sind. Jean, Jaques, Niccolo und Gerard würde ich noch dazuzählen. Ihre Bereitwilligkeit steht sicher nicht infrage, vielleicht aber ihre Willens- und Nervenstärke, wenn’s zu heikel wird, denn sie sind alle noch sehr jung. Das müsste man ausprobieren“, vermutete er, allerdings würden sie die jungen Leute vielleicht Gefahr aussetzen.
„Wir müssen uns auch Gedanken über den Ort machen, an dem wir Darboy unterbringen. Das Passendste, was mir nun einfällt, wäre hier bei Achille oder dein Elternhaus, François.Man bringt dich vielleicht mit Darboys Entführung in Verbindung, mein Freund, wie auch mich. Wir wissen nicht, wer alles auf dem Place Blanche mitgehört hat. Am besten wäre ein Ort, mit dem niemand rechnet, der uns aber gut zugänglich ist. Da hast du deine Antwort, was wir nun machen, Nicodème. Bis zur Abendmesse haben wir noch Zeit, uns ein wenig umzusehen, um etwas Passendes zu finden und ein paar Kameraden zusammenzutrommeln.“
 1. Gassenwissen: 3 (gut)
 2. Gassenwissen: 0 (mäßig)
« Letzte Änderung: 14.04.2014, 22:24:05 von Sébastien Moreau »
„Liberté, égalité, fraternité!“

Paul Zeidler

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« Antwort #72 am: 13.04.2014, 13:23:59 »
Paul und von Lütjenburg verständigten sich ziemlich schnell darauf, gemeinsam vorzugehen. Es schien ihnen sicherer, nicht alleine durch die unruhigen Straßen von Paris zu gehen. Außerdem waren ihre Pläne noch sehr unausgereift und es wäre wohl besser, nicht alleine mit den Leuten zu sprechen. Gemeinsam würde man wohl mehr ausrichten können, als wenn sie beide getrennt vorgingen.

In wenigen Stunden hatten sie sich unter den Bekannten umgehört. Sie brachten in Erfahrung, dass mit dem Leuchtturm wohl am wahrscheinlichsten der Erzbischof von Paris, seine Würden Georges Darboy, gemeint war. Außerdem erfuhren sie, dass der Tischbeintitan ein Sohn von Lecomte war, ganz so wie von Lütjenburg es gemeint hatte. Zu diesem erfuhren sie, dass sein Vater wohl von den Aufständischen füssiliert worden war und er seitdem auf Rache an den Aufständischen sonn. Von beiden erfuhren sie zudem den gegenwärtigen Wohnort.

Paul war es sehr unwohl. Die ganze Sache nahm ungeheure politische Dimensionen an. Natürlich hatte er sich bereits in der Predigt gegen die Aufstände ausgesprochen. Aber wenn sie jetzt mit den Oppositionellen gemeinsame Sache machten - und dies auch noch bekannt werden würde - dann würde man ihn schnell zum Verräter erklären. Er würde es schwer haben, noch Einfluss auf die Männer auf der Straße auszuüben. An seine Sicherheit dachte Paul dabei noch gar nicht.

Paul und von Lütjenburg verständigten sich, dass sie zuerst den Erzbischof aufsuchen würden, da dieser in unmittelbarer Gefahr schwebte. Sie begaben sich also zu seinem Wohnort und wünschten, mit dem Erzbischof über " eine vertrauliche Angelegenheit" zu sprechen.
« Letzte Änderung: 14.04.2014, 21:52:08 von Paul Zeidler »
"Siehe, ich mache alles neu" - Offenbarung des Johannes 21,5

Aspekte: Zwischen den Welten, Der Tag beginnt um Mitternacht, Leading by Example, Lokale Bekanntheit, Das Reich Gottes

Menthir

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« Antwort #73 am: 28.04.2014, 21:32:59 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:39 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

François runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, während er sich mit prüfenden Blick zwischen den so verzerrten Skulpturen umblickte. Er entdeckte etwas, was ihn augenscheinlich erheiterte, während Achillé längst schon wieder auf dem anderen Ende der Werkstatt seinem schaffenden Kunsttriebe nachging. Sein Finger deutete auf eine von der Sonne erhellte Ecke. Tatsächlich gab es auch eine dieser verzerrten Fratzen von Georges Darboy. François konnte nicht anders als zu lachen und selbst Nicodéme schmunzelte verlegen, während er näher trat und sich das Werk genauer betrachtete. Die metallene Maske, so musste dieses Werk wohl bezeichnet werden, zog die Wagenknochen des Erzbischofs viel zu hoch, während er die leeren Augenhöhlen in die Länge zog und mit metallischen, kleinen Fältchen umgab, zusammen mit den runtergezogenen Brauenbögen sah Darboy[1] lachthaft entschlossen aus, mit einer ridikülen Zornigkeit, die sein wild geformtes, und doch so rabiat weichendes Haar unterstrich, als wollte die eiserne Maske, die beinahe helmartig und an manchen Stellen absichtsvoll nicht komplettiert war, sagen: Solange mein Kopf noch nicht kahl ist, bin ich Rebell. Der Wind - in diesem Kunstwerk die Statik des wilden Haares - ist eine Allegorie für den Widerstand. Dieser metallische Darboy war schmallippiger, die Stirn gefurcht wie dies eines alten Philosophen, hier und da hatte Achillé jedoch ein zörniges Äderchen in seiner stirnwölbenden Form versteckt. Der Künstler hatte alle Attribute eines zornig-nachdenklichen Gesichtes eingebracht und die Proportionen derartig verändert, dass es dennoch nicht ernst, sondern entblößend wirkte. Es war leicht zu sehen, warum die Kirche ihm dieses Werk nicht abgenommen haben mochte. Doch nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass es ein zumindest handwerklich ausgezeichnetes Kunstwerk war. François sprach es an, während Nicodémes Lächeln geringer wurde. Wahrscheinlich hatte er angefangen das Kunstwerk zu interpretieren oder mit seinen eigenen Erfahrungen mit dem Erzbischof gemessen, zumindest wenn er ihn denn in irgendeiner Form je wirklich menschlich getroffen hatte und nicht nur in förmlicher, ja, mehr oder weniger nur professioneller Weise.

"Wir sollten das zu zweit machen und Nicodéme passt auf, sodass, wenn etwas schief geht, er zumindest einen sicheren Zufluchtsort hat. War doch so, Nicodéme, oder? War doch so im Mittelalter, dass ein Strafverfolgter oder Beschuldigter in der Kirche Asyl finden konnte, wenn man ihm sofort ans Leder wollte[2]. Habt ihr Pfaffen doch so gehalten, oder? Dann wärest du doppelt sicher und müsstest dir deine Zukunft nicht verbauen, während du trotzdem nützlich bist, falls was schief geht. Außerdem sind Sébastien und ich für solche Aufgaben eh besser geeignet.", sagte François schließlich und stieß Nicodéme freundschaftlich gegen die Schulter, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte, als wollte er nicht über sowas streiten. "Die Jungen sollten wir nicht reinziehen. Sie sind noch zu grün für so einen...Akt." Nicodéme lachte verächtlich und blickte Sébastien und François an, die ebenso noch sehr junge Männer waren. "Ich meine das im Ernst. Wir haben einiges erlebt. Wir haben Gewehrkolben im Gesicht gehabt und wütende Ehemänner im Rücken, die uns mit Flinten verfolgten. Wir haben mehr gesoffen als ein gemeiner Mann aushalten kann. Wir sind durch unsere Erlebnisse abgehärtet. Wir waren dabei, als die Pariser sich gegen Frankreich erhoben, um weiter Krieg zu führen. Unsere Jungen? Sie sind erst durch den Hunger dazugekommen. Das soll nicht gegen sie sprechen als Menschen, jedoch als Akteure. Aber auch ab von den Grünschnäbeln. Je mehr Männer wir sind, desto verdächtiger sind wir, desto mehr riskieren wir gegen die Garde. Und je größer unsere Masse an Mitstreitern hier ist, desto eher eskaliert die ganze Chose, wenn etwas schiefgeht." "Und du bist dir sicher, dass du es nicht aus Gründen persönlicher Heldentumswünsche tust, mein Freund?" François missachtete Nicodémes nachdenklichen, provozierenden Kommentar einfach.
"Das ist eine Sache, die wir wirklich alleine tun sollten. Und zum Ort? Dafür habe ich auch eine Idee. Die Sache mit dem Asyl bei den Kirchen. Sie kam mir gerade." François blickte so euphorisch, dass seine Augen im dämmrigen Licht der Werkstatt gemmenartig funkelten. "Wir haben ja noch die Sorge, dass Unsergleichen unsere Aktionen nicht gutheißen könnte. Und da dachte ich..." "Du sollst nicht denken, sondern nachdenken.", fuhr Nicodéme ihm grantig dazwischen, als fürchtete er, dass François' Worte nichts Gutes verheißen konnten. François zuckte diesmal mit den Schultern. "Und da dachte ich, dass...du, wir haben doch gestern diesen Pfaffen getroffen, Zeidler. Den Teutschen. Nun, er ist protestantischer Pfaffe und wird uns sicher Asyl gewähren. Wir könnten Darboy doch in seinem Sektenhäuschen[3] unterbringen? Ich mein, ist das nicht eine gute Idee? Wenn die Blanquisten unsere Aktion für überstürzt halten, können wir auf diese Art argumentieren, entweder dass das so eine Christensache ist oder dass Zeidler Deutscher ist. Dann können wir es so hinstellen, dass wir uns schnell von Darboy trennen und es nicht mehr unsere Sache ist. Und wenn es sich ausgeht, können wir später verlegen. Was meinst du, Sébastien?
Ist doch ein Ort, an dem niemand den Darboy erwarten wird und meinst du, der Zeidler wird uns verraten? Ihm wird doch auch nur daran gelegen sein, dass die Franzosen nicht mehr hungern und das Chaos endet. Damit könnten wir ihn doch locken? Und wenn nicht, können Protestant und Katholik sich doch über ihren Jesus unterhalten."
Nicodéme schüttelte sprachlos den Kopf, sein Mund stand ihm leicht offen, als könnte er nicht glauben, was er dort gehört hatte. Doch François versuchte sein Argument weiter zu bekräftigen. "Und wenn wir dann Nicodéme bei uns haben und den Pfaff' Zeidler, dann haben wir gleich zwei Männer mit denen er eher über sowas reden wird als mit zwei Blanquisten, die von den Kirchen soviel halten, wie ein Bonvivant[4] vom harten Schanker[5]. Nichts für ungut, Nicodéme, du weißt, wie manche von uns sind, seit sie ihren Marx gelesen haben. Die Sache mit dem Opium und so[6]. Das ist unsere beste Chance den Darboy auch ruhig zu halten und auch den Zeidler, oder?" Nicodéme konnte nur immer wieder den Kopf schütteln, doch er sagte nichts weiter. Wie sollte er mit Monsieur Durand auch nur irgendwie diskutieren. Es blieb ihm nur, das Gesagte zu erdulden und auf Sébastiens Vernunft zu hoffen. Zumindest warf Nicodéme Sébastien dementsprechende Blicke zu. François redete derweil ungebremst weiter.
"So ließe sich also mit Georgi reden. Das ließe vielleicht auch doch noch die Möglichkeit einer stillen Entführung, um den Zeidler vielleicht vorher ins Boot zu holen? Ansonsten sehe ich das so wie du, mein Freund. Wenn wir nur den Erzpfaffen einweihen, könnte er uns zu schnell in den Rücken fallen. Ansonsten sollten wir auf jeden Fall den Erzpfaffen bei Achillé unterbringen, wenn wir uns gegen die deutlich bessere Variante entscheiden; dann jedoch ihn erst entführen und dann mit ihm sprechen. Wenn wir ihn bei mir unterbringen wollen, würde ich als Akteur auch ausfallen. Das wäre nicht gut. Du alleine gegen die Welt, Sébastien? Nein, jede gute Geschichte braucht mindestens zwei Halunken." François hatte sich seinem besten Freund genähert und schlug ihm nun freundschaftlich und lachend auf die Schulter.
Nicodéme seufzte. "In Ordnung. Also eine Sache muss noch geklärt werden: Bringen wir ihn nun hierhin oder zu diesem Zeidler? Wer ist das überhaupt[7]?"
 1. Ein Bild Darboys
 2. Bis in die frühe Neuzeit und teilweise bis in die Neuzeit wurden die Kirchen als Orte gewertet, in denen weltliches Recht nicht ausgeübt werden durfte, also konnte dort Flüchtenden sicheres Asyl gewährt werden, tatsächlich galt dasselbe auch lange Zeit für Tavernen und Gaststätten.
 3. Das ist ein Verweis auf den Zeitungsartikel in Pauls Hintergrund
 4. Bonvivant
 5. Harter Schanker
 6. Marx' Religionskritik
 7. Ich würde dich gerne noch für einen Beitrag in dem Gespräch halten, um den anderen die Chance zu geben, sich kurz mit Darboy auszutauschen, ehe wir in deine entschiedene Richtung gehen. :)
« Letzte Änderung: 28.04.2014, 21:33:18 von Menthir »
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« Antwort #74 am: 28.04.2014, 23:50:14 »
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:55 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Die Wetter hatte sich etwas zugezogen, nachdem der Frühlingsmorgen sich zwar in aprilhafter Laune gezeigt, doch immerhin die letzte Stunde sonnig versöhnt hatte. Es sah aber für die nächsten Minuten nicht nach Regen aus. Paul Zeidler und Carl von Lütjenburg, die beiden Deutschen, wenn auch unterschiedlich betont in ihrer Nationalität, hatten herausgefunden, dass Georges Darboy in einer Mietswohnung am Place du Châtelet[1] wohnte, direkt neben dem Théâtre du Châtelet[2]. Nicht nur, dass Darboy den schönen Künsten nicht abgeneigt war, er hatte das Quartier im Laufe des Krieges bezogen, um seine Nähe zur Bevölkerung zu symbolisieren. Und vielleicht war es auch, um sich selbst zu erden, denn auch dafür stand der Leuchtturm des Mutes im Gegensatz zu vielen Vertretern seiner Berufung. Nicht nur hatte er offen gegen die Unfehlbarkeitsdoktrin[3] Pius IX.[4] gestanden, er ist auch für seine relative Bescheidenheit gerühmt wurden, obwohl er dem gutbürgerlichen Leben, so es mit seinem Stand vereinbar war, nicht gänzlich abgeneigt war. Bekannt war auch, dass Papst Pius IX., auch vor den Verwerfungen auf dem vatikanischen Konzil[5], ihm die Kardinalswürde verweigert hatte, weil Darboy ihm zu liberal war. Und nun hatte er immerhin die Möglichkeit vom Fenster seiner Wohnung im zweiten Stockwerk auf die Conciergerie[6] zu schauen, das dürfte neben der Ablehnung durch den Papst Erdung genug sein.

Wahrscheinlich war es eine gewisse Genugtuung für das preußische Herz Carls als er an dem Denkmal der napoleonischen Siege[7] vorbeischritt, unter den Augen der vier Verkörperungen napoleonischer Siegestugenden: Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit, Mut. Nur ein kurzer Blick auf die bronzene Platten auf dem Denkmal erinnerten ihn an die französischen Siege in Lodi[8], Ägypten[9], Marengo[10], Ulm[11] und Danzig[12]. Die Franzosen hatte hier ihre Siege über Mamluken[13] und Osmanen, Österreicher und Preußen gefeiert und nun ging ein preußischer Soldat, wenn auch inkognito, nach gewonnenem Krieg unter diesen französischen Erinnerungen an alte Glorientage flanieren.

Sie erreichten das Haus, in dem der Erzbischof in Krisenzeiten zu residieren pflegte und diese Tage durften genau als solche Zeit gelten. Das Haus hatte eine frisch gemalte, weiße Fassade und schön verzierte Kleinigkeiten, wie kleine Figurinen, welche die Fensterbänke trugen als wären sie Atlas[14] selbst. Sie betraten einen nüchternen Flur, der nicht mehr hergab als hölzernen Treppen, die für ein Haus dieser Ausmaße sehr schmal waren. Es roch auch hier nach frischer Farbe. Sie folgten der Treppe bis sie im zweiten Stockwerk war und lasen auf einem windschief angebrachten Holzschildchen den unleserlich eingebrannten Nachnamen Darboy.
Die Erfindung Joseph Henrys[15] kündigte ihr Kommen an und sie mochten verwundert sein, als weniger als eine halbe Minute später ein Mann mit schütter werdenden und doch etwas länglich gewachsenen, sauber gekämpften Haar ihnen die Tür öffnete. Das Alter hatte die Haare in ein mattes Silber verwandelt, um seine Augen waren Augenringe zu sehen, sie waren klein als hätte er zu lange in dunklen Kammern über alten Bibeltexten gesessen, die Lider hingen etwas aufgrund des Alters und der ihm anzusehenden Müdigkeit, es ließ ihn etwas streng wirken. Er trug recht einfache Kleidung und roch etwas nach alten Schweiß. Er wirkte in seinen einfachen, dunklen Tageskleidern wenig sublim. Er trug in seiner rechten Hand ein kleines, gebundenes Buch, dessen Rücken jedoch nicht beschrieben war, sodass schwer zu sagen, was er da bis eben gelesen haben mochte. Der schwarze Ledereinbund und die rot gefärbten Seitenränder ließen darauf schließen, dass es eine Taschenausgabe einer heiligen Schrift sein mochte. Seine Hände waren knöchern und der Mann nicht von großer Gestalt. Er war vielleicht etwa in Pauls Alter.

"Guten Tag. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?" Als Paul Zeidler von einer vertraulichen Angelegenheit sprach, schoss seine rechte Augenbraue in die Höhe, er machte jedoch auf seiner Türschwelle Platz und bat Carl und Paul Zeidler hinein. "Mein Haus steht jedem freundlich gesinntem Manne offen.", antwortete und schloss die Tür hinter den beiden wieder. Ein dunkler Flur lag vor ihnen, es roch auch hier nach frischer Farbe. Der Flur hatte eine sehr hohe Decke und wirkte ansonsten, trotz der weißen Farbe dunkel, weil kein direktes Licht einfiel. Er war kahl, weil er nach dem Streichen noch nicht wieder möbliert war. Auf dem Boden lagen alte Zeitungen, die voller Farbkleckse waren, darunter schaute eben bekleckster Dielenboden hervor. Die Dielen würden wohl als nächstes bearbeitet werden. Und überall dieser Geruch von Farbe auf Lackbasis, er ließ einen fast schwindelig werden. "Entschuldigen Sie die Unordnung.", sagte er leichthin und deutete auf die einzige Tür, die vom Flur abging und offenstand, weil sie gar nicht wieder eingehängt war. Auch sie war wahrscheinlich neu lackiert wurden.
Sie betraten einen Raum, welcher wohl das Wohnzimmer des Mannes darstellte. Der Raum war menschenleer. Ein gemütliches Sofa auf Holzbeinen stand im Zentrum eines nicht sehr großzügig geschmuckten Raumes. Gegenüber dem Sofa stand ein Sessel der mit demselben, milchiggrünen Stoff bezogen war, der von rauer Beschaffenheit war. "Nutzen Sie gerne die Ruhebank. Möchten Sie etwas trinken? Ich kann leider nur Wasser oder einen ein paar Tage stehenden Wein anbieten." Er ging zu einer kleinen Anrichte, legte das Büchlein und nahm zwei der vier dort stehenden Weingläser von einem Silbertablett und blickte nachdenklich auf eine mechanische Uhr, die auf ihr stand. "Elf Uhr.", flüsterte er sich hörbar zu, auch wenn die Uhr noch kurz vor anzeigte. Er stellte die Gläser auf einem niedrigen Holztisch ab, der schon bessere Tage gesehen hatte. Kratzspuren waren darauf zu identifizieren, als hätte er lange in einem Lager gestanden. Sein dunkles Holz war an vielen Stellen hell verfärbt mit unregelmäßigen Kreisen, weil zu heiße Gegenstände darauf gestanden hatten. Ungeordnet lagen mehrere Zeitungen zugeschlagen, aber nicht in eigentlicher Ordnung, auf dem Tisch. Das Fenster zum Place Châtelet stand offen und die Geräusche von exaltiertem Stadtleben drang an die Ohren. Er stellte eine halbvolle Karaffe Wasser aus Kristallglas und eine Weinflasche auf den Tisch, sie war recht formlos und das Etikett war von Hand beschrieben. Wahrscheinlich ein Produkt einer kleineren Winzerei. Auch der Wein war etwa zur Hälfte geleert. Er setzte sich auf den Sessel, auf dem noch immer eine Wolldecke zur Seite geschlagen lag. Er legte sie zusammen, während er fragte: "Was ist die vertrauliche Sache, über die Sie sprechen wollen?"
Ja, es gab keinen Zweifel, das war Georges Darboy, auch wenn in dieser Wohnung wenig darauf hindeutete. Lediglich ein Bild an der Wand hinter Geoges Darboy bestätigte diese Vermutung endgültig. In seinen liturgischen Gewändern ist er dort abgebildet, wie er mit Papst Pius IX. vor irgendeinem Alter steht. Sein Gesicht ist auf dem Bild jünger, das Bild wirkt, als hätten die beiden eine Vertraulichkeit, fast Freundschaftlichkeit miteinander, die sie wohl nie hatten. Aber es war unverkennbar Darboys Gesicht. Daneben waren noch mehr Bilder in einfachen Rahmen, die ihn in unterschiedlichen Alterstufen darstellten. "Also?"
 1. Place du Châtelet
 2. Théâtre du Châtelet
 3. Päpstliche Unfehlbarkeit
 4. Pius IX.
 5. Erstes vatikanische Konzil
 6. Conciergerie
 7. Koalitionskriege
 8. Schlacht von Lodi 1796
 9. Schlacht bei den Pyramiden 1798
 10. Schlacht bei Marengo
 11. Schlacht bei Ulm
 12. Belagerung von Danzig
 13. Mamluken
 14. Atlas
 15. Joseph Henry gilt als Erfinder der elektrischen Klingel
« Letzte Änderung: 29.04.2014, 01:16:48 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

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