Tatsächlich hatte Will die ganze Zeit etwas geplagt, von dem Moment an, da Omrah mit Hilfe seiner Konstruktion allein in dem Tunnel verschwand bis hin zu dem Augenblick, da Arjen ihn selbst um einen Rundgang durch das Sanatorium bat.
"Ja, können wir schon machen", sagte Will abwesend. "Wart' nur kurz."
Er sah sich um und kam sich vor wie im Theater. Sollte heißen: unwirklich. Die Hektik um ihn herum, das Gerede und Gewurschtel, es ging total an ihm vorbei. Deshalb passte die Redensweise eigentlich nicht auf ihn: im Theater kam er sich ja normalerweise wirklicher vor als im "richtigen" Leben. Überhaupt jetzt, seit die Toten beschlossen hatten, dass es ihnen in ihren Gräbern zu langweilig war. Und trotzdem dachte er: was für ein Theater hier!
Schnüffler, auf den ersten Blick war er ja ein anständiger Kerl gewesen (na ja, auf den zweiten), aber jetzt hatte er es furchtbar wichtig mit seiner dämlichen Leiche und schleppt sie hierhin und dorthin und zuletzt wohl irgendwo in einen Hof, um sie zu begraben—statt dass er die Lebenden tröstet! Und Esulilde stand zitternd am Fenster und murmelte vor sich hin und war ganz eindeutig mit sich selbst beschäftigt. Arjen—und das verstand er am wenigsten—bat ihn um einen Rundgang durch das Gebäude. Und Gelirion? Der war wohl so sehr in seinem eigenen Schmerz gefangen, dass er—obwohl der Junge doch versucht hatte, ihn damit zu trösten, den erwachsenen Mann!—überhaupt nicht richtig gehört zu haben schien, was Omrah da vorhin gesagt, nein, offenbart hatte. Oder waren sie alle schon derart abgestumpft, dass sie keines Mitleids mehr fähig waren oder tröstende Worte übrig hatten für ein Kind? Für einen Jungen, der ihnen anvertraute, auf welch grässliche Weise er seine Eltern verloren hatte?
Will trat zu Omrah, ging vor ihm in die Knie und drückte ihm Ysari wieder in den Arm.
"Tut mir leid, die Sache mit, ähm, mit dem Licht vorhin..." begann er stotternd. "Ich Depp hab gar nicht mehr drangedacht. Erst stand ich plötzlich ganz allein im Kampf, dann die Sache mit der Schwester, dann schleppt jemand auch noch die Leiche rum... und Ysari ist auch ganz zappelig geworden, bestimmt der Geruch! Und, also, ich hab's einfach verpennt. Das nächste Mal einfach nachfragen, ja? Es hält halt nicht lang, aber ich kann's beliebig oft auffrischen."
Er holte tief Luft, bevor er mit dem fortfuhr, was er eigentlich hatte sagen wollen. "Das mit deinen Eltern, das tut mir natürlich noch viel mehr leid. Als Erwachsener hätte man gern die Antworten oder wenigstens Trost parat, aber du siehst ja, dass ersteres zurzeit keiner von uns hat und auch zweiteres der eigenen klammen Seele nur schwer abzuringen ist. Nur so viel kann ich dir sagen, Omrah: wie du habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, dass die Seelen der Toten womöglich noch in ihren verwesenden Körpern stecken, dass sie hier gefangen sind. Arjen glaubt es nicht und auch der fromme Mensch, den wir als erstes heute getroffen haben, hat mir zu verstehen gegeben, dass er die Idee für ganz und gar schwachsinnig hält. Ich behaupte: wissen kann es keiner! Vielleicht ist es so, vielleicht nicht. Aber eines weiß ich gewiss: die Götter sind noch da. Wenn ich zauber—es gibt da nämlich einen Zauber, da ruf ich zwei Götter für an und ich spüre, dass sie antworten, dass sie meine Seele berühren—also, die Götter sind noch da und sie antworten noch und sie berühren meine Seele, wenn ich um Hilfe bitte. Und weißt du was: sie werden sich die Seelen der Menschen nicht so leicht nehmen lassen. Egal, wer hinter der ganzen Scheiße hier steckt, egal, dass der ja offensichtlich so mächtig sein muss, dass er die Götter herausfordern kann: sie werden um unsere Seelen kämpfen."
Damit erhob er sich wieder und wartete, ob Omrah etwas erwidern oder lieber allein sein wollte. Wenn letzteres, sprach nichts gegen den Rundgang, um den Arjen ihn gebeten hatte. Will kannte sich hier grob aus, und das Gespräch mit Heiler Khoon, das vielleicht notwendig wäre, konnte auch noch ein Weilchen warten.