Rhamedes zog eine Augenbraue hoch. Las der Mann in seinen Gedanken? Er war der Meinung, dass er eigentlich seine Mimik immer gut im Griff hatte und die Sache mit dem Duzen hätte er kaum aus des alten Mannes Gesicht lesen können, schön gar nicht, da er so freundlich dreinschaute. Oder hatte Rhamedes einfach die Hand dafür verloren? War er von den letzten Tagen so gebeutelt, dass es auf einmal möglich war, in seinem Gesicht wie in einem alten Buch zu lesen.
Rhamedes schüttelte den Kopf. War Khoon der Ältere der beiden und hatte das Recht, das Du anzubieten? War es überhaupt je in Aradan so gewesen oder war es gar umgekehrt? In welchen Ländern war es noch so. Rhamedes war sich irgendwie sicher, von allen Varianten irgendwo eine Abart gesehen zu haben, aber die Zuordnung fiel ihm zusehends schwer. Was war nur mit ihm los?
"Nein, wir bleiben förmlich." Rhamedes stimmte klang nun etwas weniger freundlich. Auch wenn die folgenden Worte des Heilers freundlich intendiert schienen. Das Gebaren des Heilers stieß Rhamedes ab, aus irgendeinem Grund, aus irgendeinem Impuls heraus. Er konnte sich es nicht erklären. War er so beleidigt, dass man seinem Alter nicht mit Respekt begegnete? Er wusste es selbst nicht genau, aber wahrscheinlich war es die Tatsache, dass er so gut von seiner Familie sprach. Eine Familie von Untodverehrern, die nur Ärzte wurden, um von ihrer nicht zu tilgenden Schuld abzulenken, dass sie Menschenleben und den Leben anderer Völker sinnlos gespielt hatten. Rhamedes spürte immer noch die Nachwehen alter Wut in sich. Dies ließ ihn Khoon förmlich behandeln.
"Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mir sagen könntet, wo das Grab liegt. Ich wäre euch wirklich verbunden." Rhamedes überlegte. Vielleicht war es auch das Wissen oder die Befürchtung, dass sie sich nicht lange kennen würden. Sich zu duzen, das hatte was persönliches. Was nützte ihnen das hier noch? Rhamedes hielt sein Gesicht stoisch. Er wusste, dass er diese Gedanken nur einblendete. Er wusste, dass er sie vorschob, weil er sich nicht erinnerte. Er verstand die Verbindung zum Traum. Er ertappte sich dabei, wie er unsicher wurde, was Meraos Botschaft nun war. Wurden seine Eltern auch umgebracht? Es musste so sein. Merao war ein Gott des Geheimnisvollen, der verschlüsselten Botschaften in den Träumen.
Rhamedes grüßte wortlos zum Abschied. Er war für den Moment nicht bereit, länger mit Khoon über dieses Thema zu sprechen. Er hatte andere Sorgen und andere Nöte, er hatte Hunger und er hatte Pflichten. Und seine jetzigen Gedanken verwirrten ihn. Er ging so geistesabwesend fort, dass er nicht einmal die Tür schloss.
Merao würde einem nie die Wahrheit so offen in einem Traum sprechen, das passte nicht zu Merao oder vergaß Rhamedes schon so viel, dass Merao selbst direkt wurde? Das konnte unmöglich sein. Es war der Tod, der in ihm war. Ja, genau. Das musste es sein. Seit er...seit seine Hüfte so schmerzte. Das war der Auslöser der dunklen Träume. Der Tod wollte ihn, ein Mann des Friedens, vergiften, ehe er ihn dahinraffen ließ. Die Geister der Vergangenheit jagten ihn und wurden unerbittlich. Er würde sich verabschieden müssen. Dann würden die Geister bestimmt zur Ruhe übergehen. Diese Träume, diese falschen Träume würden dann schweigen. Rhamedes schlug eine komplexe Geste, die er von einem Meraogläubigen abgeschaut hatte. Es war das beste, stoßgebetsartigste, was ihm einfiel, während er verstreut zum Frühstück humpelte. Nicht ohne zu überlegen, was er über seinen Cousin Arithel
[1] wusste. Und wieso saß er hier in seiner Zelle? Rhamedes blieb geistesabwesend.