Ja, dachte Will,
das hast du mir doch schon alles erzählt und noch viel mehr, weißt du's nicht mehr? Dass du dich jeden Tag selbst dafür verfluchst, den Mörder deiner Familie nicht vor der Tat zur Strecke gebracht zu haben, und dafür, an jenem Tag nicht zu hause gewesen zu sein, herrje, sogar dafür, deine Frau nicht im Schwertkampf unterrichtet zu haben! Von einem lüsternen Bastard sprachst du! Dazu noch von den ungezählten Feinden, die du während deiner Zeit beim Heer erschlagen hast, und von einem nebligen Novembermorgen war die Rede...Doch das alles schien Arjen vergessen zu haben. Nun, es passierte Will auch öfters mal, dass er vergaß, wem er was erzählt oder ob er es überhaupt jemandem erzählt und nicht statt dessen bloß in Gedanken mit sich selbst diskutiert oder auf dem Pergament seinen Figuren in den Mund gelegt hatte, und so wurde ihm gelegentlich vorgeworfen, Dinge bereits zum zweiten oder gar dritten Mal zu erzählen. Arjen hatte er da allerdings für etwas, nun,
klarer im Kopf gehalten als sich selbst, doch andererseits kämpften sie ja alle momentan damit, eine unbegreifliche Situation zu begreifen, da war ein solcher Aussetzer wohl verständlich.
Was Will dagegen nicht verstand war der plötzliche Haltungswechsel des Kameraden. Eben noch gab er sich voller Tatendrang—ganz Don Pedro!—jetzt lief er plötzlich traumwandelnd durch die Gegend, war im Kopf meilenweit entfernt, als hätte er mit allem Irdischen abgeschlossen. Als sei das hier—Bens Pamphlet zu überreichen—eine letzte Aufgabe, die er noch zu erledigen hatte, bevor er Frau und Sohn nachfolgte...
Neben ihm hereilend, warf Will immer wieder einen Blick zu dem Mann, den er seit nicht einmal zwanzig Stunden kannte—aber was waren das für lange Stunden gewesen!—und begriff die Welt nicht mehr. Hatte dieser nicht mehrmals versichert, Will tatkräftig zur Seite stehen zu wollen auf der Suche nach Lissie und den Kindern? Hatten sie nicht gerade erst hoffnungsfrohe Neuigkeiten erhalten? Wäre sein erfahrener Schwertarm nicht eine willkommene, eine dringend notwendige Hilfe für die Überlebenden in Reststadt? Und jetzt schau ihn dir an! Gerade noch lange genug zusammengerissen hatte er sich, bis man unter vier Augen war, um sich nun ganz seiner Verzweiflung, seinem privaten Leid und den Schuldgefühlen hinzugeben. Aufgeben wollte er! Hatte er! Don Pedro!
Also doch kein Gedächtnisaussetzer. 'Ich kann nicht' hieß nicht, dass er über Frau und Sohn nicht sprechen, sondern dass er ohne sie nicht leben konnte. 'Ich kann nicht', das hieß: 'Tut mir leid, Will, ich kann dir doch nicht dabei helfen, die deinen zu suchen.' Den Mörder seiner Familie hatte er gerichtet—weiter waren seine Pläne niemals gegangen, weiter war ihm alles bloß Qual.
Ist es das, was er mit mir besprechen wollte, und hat die Sache mit dem Zettel da bloß vorgeschoben? Will er mich etwa um Beihilfe bitten? Damit er auch ganz sicher nicht aufsteht, wenn er... was, springt? Oder doch lieber sich mannhaft in sein Schwert stürzt?Will, statt nach tröstlichen Worten zu suchen, wurde plötzlich wütend.
Dass Arjen sich die Schuld am Tod seiner Familie gab, weil er als ihr Beschützer versagt hatte, mochte ja noch angehen, aber sich deshalb schuldig dafür fühlen, dass man noch lebte? Aufgeben? Den Tod herbeisehnen? So klang das gerade und so hatte es vorhin geklungen, als er, über Jeanas Leiche stehend, voller Zorn die Götter anschrie:
"Ist es das, was ihr von mir wollt? Wie viel denn noch?"Letzte Worte. Danach klang es. Der fünfte Akt war geschafft, der letzte Vers den Göttern trotzig entgegengebrüllt: wo blieb der Vorhang!
Genau wie der Halbork. Auch der schien nur noch auf den Vorhang zu warten und den Applaus, der sie alle entließ. Die Vorstellung war vorbei, deshalb sprach er schon von allem in der Vergangenheitsform, auch den Lebenden. 'Du warst Poet?' hatte er Will gefragt—als sei Will schon tot. Und die irre Aktion mit der Leiche
[1]... ja, da wollte einer noch schnell etwas gutmachen, bevor das jenseitige Gericht über ihm zusammentrat.
Sollte es doch! Will fühlte sich nicht schuldig. Nicht dafür, dass er lebte, und auch sonst für kaum etwas. Er war ein Mensch, so wie Menschen nun einmal waren. Was sollte dieses ganze Gerede von Schuld? Klar mochte man sich fragen, wieso ausgerechnet drei Kerle wie Arjen, Schnüffler und er selbst überlebt hatten, wenn doch so viele fromme, tugendhafte, jedenfalls unschuldigere Leute einen schrecklichen Tod gefunden hatten, Kinder gar! Und seine Lissie wohl auch. Aber wenn selbst die Götter die Schuld dafür von sich wiesen, warum sollte dann ein Sterblicher sie auf sich nehmen? Wie absurd bei einer Katastrophe diesen Ausmaßes überhaupt eine menschliche Schuld auch nur in Betracht zu ziehen! Im Ernst, so etwas hier, das kann ihnen doch nur eine Gottheit eingebrockt haben!
Wenn aber tatsächlich eine rachsüchtige vergessene alte Gottheit dahinter steckte, dann konnten die anderen Götter nicht richtig aufgepasst haben. Hatten wohl die Gefahr unterschätzt, waren vielleicht gar das Ziel der Rache gewesen und gar nicht die Sterblichen, so wie befehdete Adelshäuer einander lieber Vasallen und Diener umbrachten, als direkt gegeneinander vorzugehen. Und diese armen gequälten Geschöpfe fragten sich dabei auch noch, ob sie an ihrem Unglück selbst schuld seien, ob sie ihr Schicksal verdient hätten, weil sie als Diener nicht brav, treu und fleißig genug gewesen waren! Damit sollte man sich
das hier verdienen können!
"Ha, versucht es bloß!" rief er herausfordernd zum Himmel hoch.
"Versucht es bloß, uns die Schuld an dem ganzen Scheiß hier in die Schuhe zu schieben, wenn jeder Blinde sieht, dass ihr es wart, die Mist gebaut haben!"Dann packte er Arjen an der Schulter und riss ihn herum, damit dieser endlich stehen bliebe.
"Und du! Du stehst da und rufst aus: ich kann nicht! Du stellst dich hin und verfluchst das Schicksal, das dich am Leben ließ, während Lukas und Diana sterben mussten. Ist es das, was du mit mir sagen wolltest: dass du es nicht erträgst ohne sie, nicht einen Tag länger? Was willst du von mir, dass ich dabei helf'? Den Teufel werd' ich! Was guckst du so überrascht, hast du Verständnis erwartet? Was, nachdem du zuvor den Mund derart voll genommen und alles mögliche versprochen hast? Diana und Lukas werden auch noch länger auf dich warten, du wirst hier gebraucht! Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, brauchen wir jeden, der ein Schwert heben kann, und dich zehnmal mehr, mit deiner Erfahrung. Da sag du mir noch einmal: ich kann nicht!"