Die Nacht des 22. Tages im zweiten Vikentori, 488 Jahre nach Gründung Mechanika. 29:10 Uhr
Theodor Smaugle schloss die Augen, als sein Gewicht den Vorsprung des steinernen Balkons verließ und er sich mit Schwung in den Abgrund stürzte. Jetzt war der Augenblick gekommen, die Wahrheit zu erfahren. Hatte das Grim Noria wirklich nach ihm verlangt? Würde es seine Berührung akzeptieren und ihn mit all der kosmischen Macht, welche in dieser uralten Maschine wohnte, zu einem Chronoskriptor machen?
Die Antwort kam so abrupt und kühl, dass er erst einen Moment brauchte, um zu realisieren, dass er sich gar nicht mehr in der Luft befand. Mit tastenden Fingern untersuchte der alte Bold die metallerne Plattform, welche wie aus dem Nichts unter seinen Füßen erschienen ist und somit seinen Fall verhindert hatte. Zögerlich öffnete er die Augen und staunte. Eine Stufe, metallisch schimmernd und ohne jegliche Halterung in der Luft schwebend, hatte ihn aufgefangen!
Das Noria verlangte nach ihm, Theodor Smaugle höchst persönlich! Seine Freunde hatten ihn nicht vergessen! Sie brauchten ihn!
Frohlockend riss er die Arme nach oben und jubelte laut, als die Jugend seine Glieder ergriff und er ohne darüber nachzudenken einen weiteren Schritt in die Leere, erneut nach Vorne wagte. Er beobachtete zwei Platten, welche sich plötzlich, unendlich schnell von den Maschinen-artigen Wänden lösten und unter seiner Sohle aufeinander trafen. Eine weitere Stiege... Der Kobold hatte den Sprung des Löwen, die erste Prüfung der Maschinerie gemeistert!
Beatrice Ornstein lachte erleichtert auf und beobachtete ihren Freund, während dieser einen Fuß vor den anderen setzte und mit klappernden Servoarmen an seinem Rucksack die magische Treppe hinauf, in Richtung der fliegenden Plattform, nach Oben stieg. Immer mehr dieser Stufen bildeten sich, bis wie aus dem Nichts der Weg zum Geist der Maschine frei lag.
Plötzlich schreckte die Senatorin zusammen. Deutlich vernahm sie leise Stimmen, welche von den unzähligen Winkeln der Höhle drangen und langsam, gar unheimlich die Atmosphäre dieser Grotte füllten. Grünlich, gespenstisches Leuchten drang von de uralten, mechanischen Wänden und Apparaturen...
Sie sangen ihm Chor.
„...mmmmmmmhhhhh......
…. Von Anbeginn der Zeit, der Pakt besteht.....
….. So bestimmt, wie es einst Bigby Draecorik versprach.“
Theodor wusste, was zu tun war. Er versuchte, dem grünen Licht und dem Gesang keine Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Aufgabe war zu wichtig. Die nächste Prüfung stand bevor.
Der Kobold erreichte die schwebende Plattform, welche einem Felsen gleich, unregelmäßig nach oben schmäler wurde. Weitere Stufen führten kreisförmig daran hoch, nach Oben, wo das Grim Noria auf den alten Mann wartete.
„.... Wir schwören feierlich, im Angesicht unseres Todes...
... Unser Streben dem Volke...“
Beatrice beobachtete mit vor Staunen geöffneten Lippen, wie das Licht aus den Wänden strömte und regelrecht Formen annahm. Erfüllt von Aufregung und Ehrfurcht erkannte sie, was dort wirklich erschien.
Die Brigade. Allesamt im Uhrturm der Ewigkeit vereint.
Achtundreißig Uhrwerke starrten mit ihren leeren, geisterhaften Augen direkt auf den kleinen Theodor Smaugle, als dieser endlich die Spitze der Maschinerie erreichte und sich dem Apparat näherte.
„... Unsere Liebe der Stadt...“
Zweihundertundsechsundsechzig Geistererscheinungen blickten von den Wänden der Grotte auf den Kobold hinunter.
„... Unsere Ehre der Eisernen...“
„Na, dann wollen wir mal.“ Seufzte Smaugle und ließ einen der Servoarme seines Rucksackapparates nach vorne schnellen, um mit der Gaslampe für mehr Licht zu sorgen. Er studierte das gemusterte Bedienfeld, obgleich er bereits wusste, was er zu tun hatte. Er ließ seinen Augen die Zeit, die sie brauchten, um das unglaubliche Werk vor ihm zu erfassen.
Unzählige, goldene Rohre und Trichter formten ein Kunstwerk, welches seines Gleichen suchte. In der Mitte derer thronte, unter einem bruchsicheren, luftdichten Glas geschützt, ein uraltes, metallisch glänzendes Buch, dessen aufgeschlagene Seiten, trotz der fremdartigen, längst vergessenen Schriftzüge nicht gealtert zu sein schienen. Dicke, platin-farbene Ketten hielten den Umschlag in Position – Weniger einem Podest gleich. Es schien mehr, als hätte man das Artefakt an diesem Ort eingeschlossen und regelrecht fest gekettet.
Es war das Grim Noria.
„... Unseren Tod der Freiheit.“
Smaugle griff nach dem kunstvoll, verwinkelten Hebel an der Seite des Glaszylinders. Magische Blitze griffen nach seiner Hand und fraßen sich in sein Fleisch, doch der Kobold biss die Zähne zusammen und hielt eisern an der Apparatur fest.
„Na komm schon, na komm schon!“ Zischte er zwischen aneinander gepressten Zähnen und zog mit aller Kraft an dem Schalter.
„ Auf dass das Licht obsiegt,
und die Ewigkeit uns niemals vergisst.“