Hintergrund (Anzeigen)
Wie Tami zu den Menschen kam
Sie war vier oder fünf, vielleicht gar sechs Jahre alt, als sie in der Wildnis in der Nähe von Wildwasser gefunden wurde: allein, unbekleidet, aber nur leicht untergewichtig, als sei sie bis vor kurzem noch versorgt worden. Sie sprach keine Sprache, sondern verständigte sich nur in Zeichen, langgezogenen Heultönen, Knurren, und sonstigen kehligen Lauten. Ein Ehepaar, das sich schon lange Kinder wünschte, nahm sie auf. Doch auch als sie endlich sprechen gelernt hatte, konnte Tami nicht erzählen, wer sich vorher um sie gekümmert hatte. Sie kann sich an nichts erinnern, nur daran, wie sie allein durch den Wald geirrt ist. Und an Tiere, die ihr folgen, aber Abstand halten und in den Büschen verborgen bleiben, wie Schatten, die sie beschützen. Deshalb kam in ihrem neuen Heimatdorf bald das Gerücht auf, Wölfe hätten sich in ihren ersten Lebensjahren um sie gekümmert. Böse Zungen begannen, sie Tami Wolfsbrut zu nennen, als wäre sie gar von einer Wölfin geboren worden. Tami lacht diesen Leuten nur frech ins Gesicht und beginnt, sich selbst so zu nennen.
Tami wächst bei den Menschen von Wildwasser auf
Tamis Pflegeeltern, Merovin und Hilda Riemenschneider, betrieben—anders als der Name vermuten lässt—die einzige Werkzeugschmiede ihres kleinen Dorfes und kümmerten sich neben der Herstellung und Reparatur von Werkzeug auch um die Bereifung von Wagenrädern, die der Tischler nebenan herstellte und die Merovin in einer speziellen Maschine mit dünnen Metallstreifen umwickelte.
Sieben Jahre lebte Tami bei den beiden, wohlbehütet und gut versorgt, denn ihre Pflegeeltern waren angesehen und verdienten ganz gut. Überhaupt, dem Dorf Wildwasser ging es allgemein ganz gut. Es lag an einem Bach, dem sogenannten "wilden Wasser", obwohl er eigentlich ganz zahm war und auch während der Frühjahrsschmelze nur leicht aufbegehrte. Dieser Bach mündete unweit des letzten zum Dorf gehörigen Feldes in einem kleinen Flüsschen, welches, so erzählte man, etliche Meilen weiter entfernt in ein größeres Flüsschen floss, dieses dann in einen echten Fluss, und jener dann in einen Strom.
In anderen Worten: man befand sich im hintersten Hinterland. Ein Legat war hier in hundert Jahren nicht vorbeigekommen, und der letzte Orktrupp hatte sich vor über fünfundzwanzig Jahre hierher verirrt. Doch der trügerische Frieden sollten nicht ewig währen.
Dann kamen die Orks
Eines Tages, Tami war vielleicht zwölf, sah aber wie zehn oder elf aus, kamen die Orks und zerrten alle Männer und jungen Burschen vor ihre Häuser und Werkstätten. Auch Tami wurde geschnappt, weil sie (wie immer) Jungenklamotten trug und (nicht wie immer) ihrem Vater in der Werkstatt half.
Zwangsarbeiter suchten die Orks, soviel wurde schnell klar. Sie wählten fünfzehn der kräftigsten Burschen aus, aber auch drei jüngere und dabei die kleinsten, gewandtesten—also auch Tami. Was immer für Arbeiten ausstanden, es schien auch bei einigen davon Geschick vonnöten und die Fähigkeit, in enge Ecken reinkriechen zu können. Hoffentlich schickte man sie nicht in irgendwelche Minen! Die Vorstellung, nie wieder das Tageslicht zu erblicken, schnürte Tami die Kehle zu.
Sie durfte nicht einmal Abschied von ihren Eltern nehmen. Schon wurde sie gefesselt und auf einen von zwei Wagen gepackt, wo sie mit acht weiteren Unglücklichen dicht an dicht gedrängt Durst und Hitze und weitere Qualen ertragen musste. Immer wieder sauste die Peitsche auf die Gefangenen herab, wobei Tamis geringe Größe ihr ausnahmsweise einmal zum Vorteil gereichte. Auch fing Jonah, der Tischlersohn, die meisten der Schläge, die sie hätten treffen können, mit seinem breiten Rücken ab, um sie zu schützen.
Drei Tage später kam man am Ziel an. Doch wo war man? Was wollte man hier? Außer lang verfallenen Häusern, zerbrochenen Wehrmauern und einer kaputten Festung gab es hier nichts. Was wollten die Orks hier?
In der Ruinenstadt
Außer Tami schien sich keiner diese Frage auch nur zu stellen. Und sie sollte in sechs Monaten nicht schlauer werden. Vielleicht wurde etwas gesucht? Das war das einzige, was ihr als Möglichkeit in den Sinn kam. Doch was? Tag für Tag wurde sie in die engsten Kellerlöcher geschickt, um diese zu erkunden, oder wurde in die Obergeschosse der kaputten Häuser gehoben—manchmal gar geworfen—zu gleichem Zweck, während die Männer—und da waren hier weit mehr als nur die fünfzehn aus ihrem Ort—Mauern abtrugen, Steine klopften und durch die Gegend trugen, um sie an den ihnen bestimmten Stellen zu stapeln. Sinnlos schien dies alles!
Und während der ganzen Zeit hatte Tami ganz schreckliche Angst, dass ihr jemand dahinter käme, dass sie ein Mädchen war. Aus ihrem Dorf würde niemand sie verraten—nicht einmal jene, die sie höhnisch "Wolfsbrut" genannt hatten—aber den anderen Menschen traute sie nicht. Und selbst die Orks waren nicht ganz dumm. Zwar mochte für sie ein Mensch wie der andere aussehen—genauso wie umgekehrt ein Ork dem anderen glich und man schon sehr genau hinschauen musste, um sie auseinander zu halten—aber den "kleinen Unterschied", den würde sogar ein Ork erkennen! Und was die Orks mit ihr anstellen würden, sollten sie je diesen "Betrug" aufdeckten, daran wollte Tami gar nicht erst denken. (Im Grunde wollte sie noch viel weniger darüber nachdenken, was die Männer aus den anderen Dörfern mit ihr machen würden, wenn sie herausfänden, dass sie ein Mädchen war; nichts gutes, wenn man sie manchmal so über Frauen reden hörte.)
Und so lebte Tami in ständiger Angst nicht nur vor den Orks, sondern auch vor ihren Mitmenschen. Dabei war vor allem die Verrichtung der täglichen Bedürfnisse ein großes Problem. Sie musste sich dazu stets gut verstecken, oder Jonah schirmte sie vor ungebetenen Blicken ab.
Dann stürzte Jonah eines Tages von einer Mauer und war tot.
Heulend warf Tami sich auf ihn und ließ auch nicht ab, als die Peitsche auf sie niederfuhr. Zumindest ließ sie erst ab, als sie ihren Schwur beendet hatte: Abhauen würde sie. Abhauen, den Orks ein Schnippchen schlagen. Für Jonah. Allein schon aus Rache. Groß werden würde sie und dann, wenn sie groß war, dann würde sie Orks umbringen. Denn davon hatte sie hier schon einmal gehört, obwohl es nur nachts, hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde: es gab Menschen auf dieser Welt, die Orks abschlachteten.
Und nach hause wollte Tami auch, um Jonahs Eltern zu erzählen, was geschehen war. Dass ihr Sohn zwar tot sei, aber als Held starb. Dass er sie, Tami, bis zuletzt beschützt habe. Dass er jetzt bestimmt bei den guten Göttern sei, wenn es noch einen Weg dahin gäbe, wenn schon nicht für die Lebenden, dann wenigstens für die Toten.
Und so nahmen ihre nächtlichen Ausflüge einen anderen Charakter an: nicht nur um das heimliche Entleeren ihrer Blase ging es, sondern um das Erkunden eines Fluchtwegs. Zwar hatten die Orks überall Wachen aufgestellt und diese konnten auch im Dunklen sehen—das hatte Tami sehr schnell spitzgekriegt—aber Tami war unsichtbar wie ein Schatten und ebenso lautlos. In nur zwei Wochen hatte sie den idealen Fluchtweg erspäht! In einem Keller hatte sie eine Spalte entdeckt, die in eine alte Kanalisationsanlage führte, welche kurz hinter der Wehrmauer endete, da allerdings in einer Grube, deren Rand sie höchstens würde erreichen können, wenn ein Mann sich auf die Schultern eines anderen Mannes stellen würde und sie dann auf die seinen.
Was also tun? Die anderen Burschen aus ihrem Dorf einweihen? Aber was würde sie ihnen sagen? Mich könnt ihr hochheben, aber ihr, hm, ihr werdet da wahrscheinlich doch nicht herauskommen. Ihr seid zu schwer, zu unbeholfen... Nein. Ohne Seil ging da nichts. Also musste sie irgendwo ein Seil herbekommen. Das würde sie aber bei den Orks stehlen müssen. Dafür brauchte man ganz, ganz viel Mut.
Als sie noch dabei war, diesen Mut zusammenzukratzen, wurde das Arbeitslager eines Nachts überfallen. Tami war gerade wieder zwischen den Ruinen unterwegs, als sie ein halbes Dutzend oder mehr schleichende Gestalten entdeckte und sich tiefer in eine Ecke drückte, bis diese vorüber waren. Waffen hatten die Gestalten dabei, und Seile und allerlei Ausrüstung, was auf einen wohlvorbereiteten Überfall oder Sabotageaktion hindeutete.
Tami schlich ihnen hinterher. Vielleicht ließen die nächtlichen Schleicher ja irgendwo ein Seil hängen? Das würde sie sich krallen.
Zunächst begeistert von ihrer schlauen Idee, bereute Tami sie kurz darauf. Die Gestalten schlichen nämlich nicht halb so gut wie sie und wurden deshalb bald von den Orks erwischt. Es folgte ein wilder Kampf, den die nächtlichen Schleicher für sich entschieden. Orks stürzten kreischend zu Boden, krepierten unter Spucken und Röcheln!
Doch natürlich kamen mehr Orks herbei. Auch diese gingen zu Boden. Doch Tami wusste: bald wären es so viele, dass die heldenhaften Orktöter keine Chance mehr hätten.
Halblaut rief sie ihnen zu: "Hierher, kommt schnell! Ich kann euch hier rausführen, folgt mir!"
Erst fuhren die Fremden entsetzt, mit auf sie gerichteten Waffen herum, dann—als sie sahen, dass Tami ein Menschenkind waren—verzogen sie das Gesicht und zögerten, als glaubten sie ihr nicht.
"Was, wollt ihr dastehen und auf die Orks warten? Gleich werden sie angeschwärmt kommen und euch in Stücke hacken! Oder ihr kommt mit mir und ich zeig euch, wie man hier rauskommt. Schnell, viel länger wart' ich nicht!"
Und da den Fremden keine Wahl blieb, legten sie ihr Schicksal tatsächlich in Tamis Hand, welche sie flink durch die Ruinen führte, an allen Orks vorbei, durch die Keller und weiter in die Kanalisation. (Den Spalt, der in die Kanalisation führte, mussten die Fremden sich erst weitermachen, denn außer Tami passte keiner hindurch, aber sie hatten Glück und niemand hörte den Lärm.) Und so kamen sie bald darauf in der Erdspalte hinter der Wehrmauer heraus, wo es mithilfe der Fremden und ihrer Seile nun ein Kinderspiel war, herauszukommen. Ein Mann kletterte auf die Schultern eines anderen, Tami wurde hinaufgehoben—genau, wie sie es sich gedacht hatte—und fand oben schnell eine Stelle, an der sie das Seil festmachen konnte. Und dann war man draußen.
Natürlich war hinter ihnen das Lager inzwischen in heller Aufruhr. Überall wurde Alarm geschlagen. Suchtrupps wurden in (fast) alle Richtungen geschickt—man sah sie nur, weil sie Fackeln trugen. Aber in diese Richtung war noch niemand unterwegs.
Und dann begann die Flucht.
Und diese Flucht begann mit einem schlechten Gewissen. Obwohl Tami wusste, dass es niemals hätte gelingen können, obwohl sie sich sagen durfte: wenigstens acht Leben habe ich gerettet, das ist doch gar nicht schlecht für ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren! Trotz all dem blieb der schale Geschmack: sie hatte die Männer und auch die beiden Jungen ihres Dorfes zurückgelassen. Im Stich hatte sie alle gelassen. Sechs Monate hatten diese dicht gehalten für sie, obwohl auch sie als Mitwisser mit Strafe hätten rechnen müssen, wenn Tami aufgeflogen wäre. Trotz all dem, was man also für sie getan und riskiert hatte: sie war geflohen. Allein. Nun war sie frei und die anderen, die schufteten noch immer unter den Peitschen der Orks.
Unter Wildländern
Mehrere Wochen zog Tami mit ihren neuen Freunden kreuz und quer durch die Gegend, immer noch auf der Flucht vor den Orks, welche die kleine Gruppe mit unglaublicher Hartnäckigkeit verfolgten. Hier und da stießen weitere Wildländer—so nannten sie sich—hinzu, die offenbar von ähnlichen Unternehmen zurückkehrten. Tami wurde von allen Neuankömmlingen bestaunt und immer wieder ungläubig gefragt: "Was, dieser Dreikäsehoch hat euch vor den Orks gerettet?"
Worauf Tami ihnen rotzfrech entgegenschmetterte: "Jawoll, ohne mich wären alle krepiert, so sieht das nämlich aus. Und außerdem bin ich ein Mädchen!" Die geballten Fäuste stemmte sie dabei in die Seiten und zur Bekräftigung ihrer Worte stampfte sie auch gern einmal mit dem Fuß auf, woraufhin die Umstehenden zumeist in schallendes Gelächter ausbrachen. "Und wenn ich groß bin, dann hau ich auch Orks um. Dann schlachte ich sie ab genau wie ihr!"
Das brachte alle zum Schweigen. Manche sahen sie daraufhin besorgt, andere nachdenklich an. Ein einziger—sein Name war Elijah—fragte, warum sie das tun wolle. "Für Jonah!" rief sie und fügte kleinlaut hinzu: "Und für die anderen, die ich zurückgelassen habe und die deshalb vielleicht auch sterben müssen. Wie Jonah."
Tami lernte viel von den Wildländern, obwohl sie nur kurz mit ihnen unterwegs war. Vor allem lernte sie, wie man in der Wildnis überlebte. Welche Pflanzen essbar waren und wo man sie fand. Welche Kräuter zu einem Wundaufschlag taugten und wie man diesen anlegte. Wie man sich schnell über Land bewegte und dabei seine Spuren verwischte. Und sie lernte Pfeile schnitzen und befiedern. Unermüdlich schnitzte sie Pfeile für die Bögen der Wildländer und machte sich auch sonst so nützlich, wie sie nur konnte. Und beim Bogenschießen stellte sie sich auch nicht ganz dumm an.
"Du bist schon richtig eine von uns", lobte man sie.
Das war am Tag, bevor man sie bei den Halblingen ablud und allein dort zurückließ.
Da half kein Klammern, kein Betteln, kein mit dem Fuß aufstampfen. "Hier bist du in Sicherheit", sagte Elijah. "Die Holzäpfel werden gut auf dich aufpassen." Dann umarmte er sie zum Abschied—was sie vor Wut zitternd zuließ—und war verschwunden.
Unter Halblingen
Die Holzäpfel—angeführt von Alvin Holzapfel—waren eine fahrende und sehr kinderreiche Halblingssippe. Tami fragte natürlich sofort, warum sie 'Holzapfel' hießen. Alvin lachte und erklärte, in gebrochenem Erenlandisch: "Weißt du, es sein Kompliment. Ich mir denken. Seh, in unseres Sprache, wir sagen 'Apfel' zu Kopf wie ihr sagt 'Birne'. Die Form von Kopf ist wie Apfel, ja? Warum ihr sagt Birne, ich nie hab' kapiert. Und Holz sein hart, alles klar? Ein Holzapfel also ist eine harte Birne."
Und harte Birnen hatten sie wirklich. Eine ganze Sippe voller Sturköpfe! Da ließ sich keiner von keinem etwas sagen! Tami passte ganz wunderbar dazu.
Also zog Tami mit den Holzäpfeln über die weiten Ebenen des Erenlandes. Dies lernte sie bei ihnen: Ihre Sprache, natürlich. Desweiteren: Fallenstellen für die Hasenjagd. Fallen selber basteln. Mit Tieren umgehen. Die Lasttiere füttern, die Ziegen melken, die Schafe scheren, die großen Wach- und Jagdhunde—die Halblinge nannten sie Wogren—streicheln und mit ihren Jungen spielen. Zuhause in Wildwasser hatte sie gern mit den Jungs gebalgt, das konnte sie hier nicht—die Halblingskinder waren zu klein dazu—also balgte sie mit den kleinen Wogren.
Überhaupt kamen sie und die Halblingskinder nicht so gut miteinander aus. Das lag hauptsächlich daran, dass Tami für deren Spiele einfach zu groß war. Oder zu frech. Oder, weil sie ein halbes Jahr unter Orks gelebt hatte und den Kinderspielen vor der Zeit entwachsen war. Sie begriff auch nicht richtig, wie sie hier nun genau hineinpasste, was ihr Rang in der 'Rudelordnung' war. Jedenfalls, obwohl alle nett zu ihr waren, hatte sie keine richtigen Freunde. Nicht unter den Halblingskindern; eher unter den Erwachsenen. Die hatten aber die meiste Zeit zu tun, und so war Tami manchmal einsam.
Bis sie Schleicher traf.
Eines Tages befand sich die Sippschaft mal wieder mit Sack und Pack auf der Wanderschaft, als sie an dem verlassenen Lager eines Orktrupps vorbeikamen. Aus Büschen in der Nähe kam ein jämmerliches Winseln. Als die Halblinge nachschauten, fanden sie eine einsame Wolfswelpe umringt von seinen erschlagenen Brüdern und Schwestern. Auch die Mutter lag in der Nähe, ein geborstener Orkpfeil steckte noch in ihrem Brustkorb. Offenbar hatten die Orks die Wolfsmutter beim Gebären oder unmittelbar danach entdeckt und—wahrscheinlich als Sport—den ganzen Wurf abgeschossen. Bis auf einen. Vielleicht war die Mutter an ihrer Verletzung nicht gleich erlegen, vielleicht hatte sie ihn mit letzter Kraft geboren, als die Orks schon die Lust verloren hatten und fortgegangen waren. Die Welpe war jedenfalls die kleinste des Wurfes. Und er—es war ein er—tappste nun winselnd zwischen den Halblingen umher und mit erstaunlicher Zielsicherheit auf Tami zu.
Sie schnappte ihn sich sogleich und nannte ihn Schleicher. Sie bastelte ihm aus einem alten Stück Leder einen Trinkschlauch und zog ihn mit Ziegenmilch groß.
Zuhause hätte sie das niemals gedurft. Zuhause hätte man ihr gesagt, die Lebensmittel seien zu knapp, um sie an ein wildes Tier zu verschwenden. Die Halblinge aber sagten schlicht: "Wir werden auch von weniger satt. Hilf nur deinem Bruder. Es wird schon seinen Grund haben, warum er dich gefunden hat."
Eines lernte sie noch bei den Halblingen: den Umgang mit dem Messer. Genauer gesagt, dem Kampfmesser, wobei auch das nicht der richtige Ausdruck war, wie Tami fand. Zumindest in den Händen eines Halblings sah das 'Messer" nämlich wie ein Schwert aus. Und bösartig noch dazu. Es war kein einfaches Messer, sondern ein besonders scharfes, wobei die Klinge allerlei Zacken und Widerhaken besaß, mit denen man hässliche Wunden reißen konnte. Die Halblinge, so harmlos sie sich gaben, waren nämlich alles andere als wehrlos. Vor einem nämlich fürchteten sie sich mehr als vor allem anderen: die Freiheit zu verlieren. Halblinge wurden von den Orks gern versklavt. Die Holzäpfel lebten in ständiger Furcht, einem Orktrupp zu begegnen, der zu groß war, als dass sie damit fertig würden. Mit kleinen Trupps, das durfte Tami dreimal erleben, mit kleinen Trupps wurden die Holzäpfel und ihre Kampfmesser nämlich fertig. Und auch die Wogren hießen nicht umsonst Kampfhunde.
Nach fast zwei Jahren bei den Holzäpfeln wurde die Sehnsucht nach ihrem Zuhause und den Eltern in Wildwasser allmählich übermächtig. So lieb die Halblinge auch waren! Das Dumme war nur, dass sie nicht wusste, wie sie nach Wildwasser kommen sollte. Keiner der Halblinge hatte je davon gehört. Keiner der Leute, die die Halblinge trafen, hatte je davon gehört. "Wildwasser?" fragte man sie. "Sagt uns nichts. Ist denn ein wilder Fluss in der Nähe?" Worauf Tami antworten musste: "Eigentlich ist's nur ein Bach und schrecklich wild ist er auch nicht und ich weiß nur, dass er in ein Flüsschen mündet, welches in ein etwas größeres Flüsschen fließt, und das wiederum in einen Fluss, und der Fluss dann, der fließt irgendwo in den großen Strom."
Eine sehr ungenaue Wegbeschreibung, musste sie zugeben.
"Die Menschen kennen dein Dorf vielleicht eher als wir", sagte Alvin Holzapfel. "Es mag tatsächlich an der Zeit sein, dass du wieder unter Menschen kommst. Liebgewonnen haben wir dich, aber du bist nun einmal ein Mensch, und ein jeder ist bei den seinen halt am besten aufgehoben."
Und plötzlich allein
Und so brachten die Holzäpfel Tami in die Nähe der nächsten Menschensiedlung, wobei die Sippe sich nicht näher als eine Tagesreise herantraute, doch Tami war sich sicher, dass sie den Rest des Weges leicht allein schaffen würde. Zum Abschied schenkte Alvin der gegen ihren Willen schluchzenden Tami noch sein Kampfmesser. "Damit du uns nicht vergisst", sagte er, und auch ihm standen Tränen in den Augen. "Pass gut auf dich auf."
Und so erreichte Tami am späten Abend, nur von Schleicher begleitet, die Siedlung, wo sie schnell erkennen musste, dass es gar nicht so einfach war, als Mensch bei anderen Menschen ein Willkommen zu finden.
Mit Schleicher zusammen zieht sie seitdem hungrig und verloren durch die Straßen und fragt jeden, den sie trifft, ob er nicht das Dorf Wildwasser kenne.