Die anderen drei der aufgerufenen Novizen begannen sofort, wild auf die Puppe einzuhauen. Bei zweien sah das eher unbeholfen aus, beim dritten dagegen von der Technik und Körperbeherrschung her durchaus vielversprechend, bei allen drei wirkte es jedoch planlos-hektisch.
Alaric dagegen ließ sich Zeit und die Puppe erst einmal links liegen. Zu lange hatte er nur mit Sitzen, Knieen, und "mit andächtigem Blick durch diese heiligen Hallen Wandeln" verbracht. Was er erst einmal brauchte war... Konzentration. Für ihn lag diese in der Bewegung. Und so führte er zunächst die komplette Form des "Schattentänzers" durch, eine Mischung aus Tanz und Schattenboxen, in der aus langsamen, tanzähnlichen Bewegungen heraus blitzschnell, aber immer kontrolliert, getreten oder geschlagen wurde. Diese Form wurde, soweit Alaric wusste, nur im Kloster vom Singenden Stein praktiziert, das aber seit Nerims Tagen. Sie galt als Grunddisziplin, wurde allen Novizen als erstes beigebracht, und auch die Mönche begrüßten so ihren Tag.
Erleichtert stellte Alaric fest, dass seine Bewegungen noch so flüssig waren wie eh und je, die Sprünge noch so leichtfüßig, die Drehungen so präzise, dass die Gedanken ihm dabei immer leichter und freier wurden, bis sein Geist in vollkommener Stille schwebte.
[1]Dann erst wandte Alaric sich der Strohpuppe zu und setzte ihr mit einer raschen, konzentrierten Folge aus Schlägen und Tritten zu, die, wäre die Puppe ein Mensch, stets auf dessen verwundbarsten Körperteile zielten. Dies hielt Alaric schier ohne Atempause solange durch, bis ein markerschütternder Schmerzensschrei neben ihm—Benno natürlich!—ihn aus der Konzentration riss.
[2]War ich das? dachte Alaric besorgt.
Hab ich nicht aufgepasst und ihn aus Versehen getroffen? Oder ist er mir in meine Bewegung hineingestolpert?Aber nein. Benno
[3] hatte seine Puppe nur so unglücklich getroffen, dass seine Faust mit voller Wucht den Stützpfosten traf. Alaric unterdrückte die erste Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. (Bevor er Benno kennengelernt hatte, wusste er gar nicht, dass Bemerkungen einem auf der Zunge liegen können. Alles, was gesagt werden konnte, so hatte er vorher geglaubt, war genauso einfach zu verschweigen.)
Er wartete, bis der Junge nicht mehr winselte, dann sagte er:
"Hier, nimm die Hand auf den Rücken. Nein, nicht die verletzte, die andere. Mit der verletzten kämpfst du jetzt, aber pass auf, was du tust. Nicht einfach nur wild um dich schlagen! Gezielt, siehst du? So. Und so. Das war schon gut, aber du darfst keine Angst vor Schmerz haben. Warte, ich zeig es dir noch einmal."Und er zeigte Benno die einfachsten Bewegungen, in denen man zuhause die Novizen des ersten Jahres unterwies. Zu seiner Überraschung stellte Benno sich gar nicht mal so dumm an.
"Ach, so geht das!" rief der Junge erstaunt.
"Jetzt begreif ich das. So hat mir das noch keiner gezeigt!"Und Benno machte noch ein paar Schläge, die immer besser wurden. Alaric sah ihm dabei zu und verspürte plötzlich etwas, er konnte gar nicht sagen, ob in der Brust oder in der Kehle oder wo auch immer, jedenfalls gefiel es ihm. War es Stolz? Genugtuung? Hoffnung? Egal, es fühlte sich gut an.
Und da es so aussah, als käme Benno jetzt erst einmal allein zurecht, wandte Alaric sich wieder seiner eigenen Strohpuppe zu, worauf er erstaunt feststellen musste, dass von dieser nicht mehr allzu viel übrig war.
Natürlich war ihm in den vergangenen Wochen immer mehr bewusst geworden, dass sich da einiges an ungenutzter ki-netischer Energie in ihm anstaute, aber dass es so viel war...
Nun gut. Dieser Gegner ist jedenfalls tot. Was kommt jetzt?Er wandte sich erwartungsvoll dem Ausbilder zu.