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Autor Thema: [1. Akt] Die Wende  (Gelesen 10726 mal)

Beschreibung: Prolog für Alaric [abgeschlossen]

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[1. Akt] Die Wende
« am: 27.07.2014, 14:19:27 »
Aus Alarics Sicht hätte das Leben so weiter gehen können, wenn bei seinem letzten Auftrag nicht etwas furchtbar schief gelaufen wäre: er hatte den Falschen getötet. Anders konnte er es sich zunächst nicht erklären. Unvorhergesehene Komplikationen hatten ihn dazu gezwungen, leicht von den Vorgaben des Auftraggebers abzuweichen und das Ziel in dessen eigenen vier Wänden zu erledigen—wobei er durchaus vorhatte, die Leiche danach noch woanders hinzuschaffen. Dazu kam es nicht mehr, denn nach begangener Tat konnte Alaric nicht umhin festzustellen, dass absolut nichts an der Person selbst oder im gesamten Haus darauf hindeutete, dass sie jemals ein Verbrechen begangen oder geplant hatte; eher schien das Gegenteil der Fall zu sein!

Wie hatte Alaric sich so täuschen können? War er im falschen Haus? Hatte er die Anweisungen falsch interpretiert? Er floh vom Tatort, blieb aber in Niewinter. Er musste sich erst einmal wieder beruhigen. Einen klaren Gedanken fassen. Ihm grauste vor der Beichte beim Meister. Auch gingen ihm verstörende Gedanken durch den Kopf.

"Auch ein Richter erwischt einmal den Falschen!" sagte eine Stimme in seinem Kopf.
"Aber niemals der Henker!" höhnte eine andere.
"In der Summe hast du mehr Verbrechen verhindert als selbst begangen!" rief wieder die erste.
"Was kümmert die Familie des Toten die Summe? Zwei Kinder hast du zu Halbwaisen gemacht!" die zweite.

Und so ging es in einem fort.  Wo vorher Klarheit herrschte, war nun der Zweifel eingekehrt. Weder mit Meditation noch mit Fasten noch mit rigerosestem Kampftraining ließ sich sein Gewissen zum Schweigen bringen.

Dazwischen mischten sich Fragen, die er zunächst gar nicht klar formulieren konnte, deren Antworten aber nur in Niewinter würden auffindbar sein: Fragen, wie es denn nun zu dem Missverständnis kommen konnte. Ohne Antworten darauf wollte er nicht vor seinen Meister treten.

Nach knapp einer Woche erst hatte Alaric sich einigermaßen beruhigt und sah eine Sache plötzlich mit aller Deutlichkeit: Nein, er hatte sich nicht im Haus getäuscht. Er hatte den richtigen getötet. Der Fehler musste beim Auftraggeber gelegen haben.

Hatte also Lord Nasher sich geirrt? Oder hatte er einen unliebsamen Gegner auf diese Weise ausschalten wollen? Oder war der komplette Auftrag fingiert gewesen und es steckte ein ganz anderer dahinter?

Je ruhiger Alaric wurde, desto offensichtlicher schien ihm letzteres. Nach allem, was man hörte, war Lord Nasher ein ehrenwerter Mann. Das Kloster hatte schon oft Missionen für ihn erledigt, aber noch nie zuvor hatte Nasher ein Attentat in Auftrag gegeben! Doch wer konnte hinter einer solch dreisten Fälschung stecken? Das Siegel war echt gewesen, das Briefpapier auch und sogar der Bote, Flynn, war derselbe wie immer gewesen! Wer hatte sich Zugang zu all dem beschaffen können, ohne Nashers Aufmerksamkeit zu erregen? Oder war Alaric doch auf einer ganz falschen Fährte?

Er musste es wissen. Und so tat er etwas, das so streng gegen alle Regeln war, dass er selbst kaum glauben konnte, diesen Schritt zu wagen: statt zum Kloster zurückzukehren und dort zu berichten und Rat zu suchen, kontaktierte er auf eigene Faust den Auftraggeber. In anderen Worten: er bat Lord Nasher um eine Audienz in dringender Angelegenheit, und vor so wenigen Zeugen wie nur irgend möglich.

Und so stand er eines Tages mit gesenktem Haupt vor Lord Nasher (welcher von nur zwei seiner Getreuen flankiert wurde) und berichtete wahrheitsmäßig, ohne Auslassung oder Schnörkel, was passiert war. Das Schreiben war leider verbrannt worden, noch vor Augen des Boten, der es gebracht hatte, wie nun einmal üblich war. Und so hatte Alaric eigentlich wenig Hoffnung, dass der Fürst ihm glauben würde. Aber die Wahrheit musste gesagt werden!

Es war eine Beichte, erkannte Alaric. Er hatte sich selbst belogen. Er suchte nicht Antwort auf seine Fragen (oder zumindest war dies nicht sein Hauptanliegen), sondern er wollte die begangene Fehltat beichten und Lord Nashers Richtspruch entgegennehmen.

"Mord, es war Mord, keine 'Fehltat'—belüg dich nicht schon wieder selbst!" schimpfte er sich. "Deinen Tod verlangt das Gesetz dafür!"

Nachdem er das erkannt hatte, ging er vor Nasher auf die Knie und endete seinen Bericht mit den Worten: "Kaum vermag ich das Entsetzen über meinen Fehler in Worte fassen und bitte hiermit demütig um die Strafe, die Eure Lordschaft im Namen von Recht und Gerechtigkeit und mit der ganzen Härte des Gesetzes über mich verhängen möget. Noch demütiger bitte ich Euch darum, mir vor Vollstreckung des Urteils die Gelegenheit zu geben, meine Tat zu sühnen, vielleicht gar aufzuklären, wie es dazu kam, wer mich dazu benutzt hat. Ich gebe Euch vor Kelemvor mein Wort, dass ich nicht fliehen werde."

Dann wartete er mit starrem Blick auf Nashers Reaktion.
« Letzte Änderung: 26.05.2015, 19:24:13 von List »
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Die Wende
« Antwort #1 am: 27.07.2014, 14:26:08 »
Alaric erwartete, dass Fürst Nasher etwas sagen würde, doch stattdessen entstand eine langgezogene Stille. Stille war Alaric gewohnt, doch diese war von einer anderen Art. Ihm war bewusst, dass er sich ganz in die Hand des Fürsten gegeben hatte. Wenn er wollte, konnte er sofort das Todesurteil vollstrecken oder ihn begnadiigen. Verstohlen blickte Alaric auf, um zu sehen, was sich in Nashers Gesicht regen mochte. Doch da war nichts, keine Abscheu und keine Güte. Der Fürst schien sehr nachdenklich - ganz im Gegenteil zu seinen beiden Vertrauten, welche offensichtlich schon längst das Urteil gefällt haben mochten. Verächtlich starrten sie den Mönch an.

Nach einer Weile - Alaric kam es wie eine halbe Ewigkeit vor - sagte Nasher: "Ich werde über Deinen Fall befinden. In dieser Zeit wird man Dich in Gewahrsam nehmen." Dann wurde Alaric von zwei Wachen im schwarzen Wappenrock abgeführt.



Man brachte Alaric in ein Turmverlies. "Es ist schon ewig her, dass wir jemanden hier eingesperrt haben.", sagte die Wache, kurz bevor sie die schwere, eisenbeschlagene Eichentür hinter Alaric schloss. "Wenn Du mich fragst, hast Du Glück gehabt. Ich kenne die Zellen der Stadtwache und ich sage Dir, das ist kein Zuckerschlecken dort. Das Essen ist schlecht und wenig und der Ton ist rauh. Hier oben wird Dich niemand herunterputzen. Nebenbei, was hast Du eigentlich verbrochen?", fragte er schließlich. Doch Alaric antwortete nicht. Es war seine Sache.

Alaric sah sich in der Zelle um. Sie war für ein Gefängnis sehr gut eingerichtet. Ein Stuhl und ein Tisch, ein Bett, ein Teppich, ein Wasserkübel und in der Ecke ein Eimer. Doch es war zugig hier oben. Der Wind pfiff durch die Spalten der Steine. Davon abgesehen war es totenstill.



Es dauerte eine ganze Woche, bis etwas geschah. In der Zwischenzeit hatte Alaric keinen Kontakt zur Außenwelt. Nur einmal am Tag reichte die Wache ein kleines Brot und ein Stück Käse in die Zelle und tauschte den Eimer aus. Währenddessen sprach er kein Wort, vermied sogar den Blick Alarics. Am siebten Tage holten sie ihn dann aber aus der Zelle und brachten ihn in den fürstlichen Saal. Alaric hatte erwartet, dass Fürst Nasher ihn dort schon erwartete. Doch nur er und zwei Wachen waren dort. Alaric wartete, vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden.

Schließlich öffnete sich eine Tür und Fürst Nasher betrat den Saal. "Ich habe nachgedacht.", sagte er ohne Umschweifen. "Du weißt, dass Deine Taten die Todesstrafe rechtfertigen. Dazu haben mir meine Vertrauten geraten. Sie sagen, Du seist gewissenlos und ohne guten Willen. Also denn, ich mache Dir einen Vorschlag. Du musst jemanden für mich töten, so wie Du es schon immer getan hast. Du darfst keine Fragen stellen, Du musst es nur tun. Wenn Du es getan hast, dann komm wieder und Du bist frei. Was sagst Du?". Alaric fiel auf, dass Nasher ihn sehr aufmerksam musterte.
« Letzte Änderung: 27.07.2014, 14:57:41 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #2 am: 27.07.2014, 15:30:22 »
Alaric schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. Jemanden töten sollte er? Gut, dann war sein Schicksal  entschieden, denn das würde er nicht tun.

Alaric hatte nämlich auch nachgedacht. Sieben Tage waren eine lange Zeit. Und auch wenn die zugige Turmspitze nicht der Singende Stein[1] war, so war sie dem doch sehr ähnlich, komplett mit Meditation und Fasten, mit Lebenskrise und pfeifendem Wind, weshalb Alaric zu folgendem Schluss gelangte: Hairons Weg war nicht seiner. Er würde nur noch töten, um sich zu verteidigen oder um Wehrlose zu verteidigen, und zwar bei direkter, bei eindeutiger Bedrohung. Aber nie wieder von hinten, aus dem Schatten heraus. Nie wieder als Henker.

Außerdem hatte die lange Zeit im Turmverlies Alaric hoffen lassen, der Fürst würde ihn vielleicht doch begnadigen oder wenigstens seiner Bitte Gehör schenken. Gestern hatte er deshalb etwas getan, was er sich schon bei Erhalt seines Namens vorgenommen hatte, nämlich vor Kelemvor und sich selbst zwei Gelübde abgelegt: zum einen stets die Wahrheit zu sagen oder zu schweigen; zum anderen in strengster Askese zu leben. Er hatte dies bis jetzt hinausgezögert, weil es ihm die Erfüllung seiner Aufträge erschwert hätte, vor allem das Wahrheitsgelübde, aber auch ein Asket würde unter Umständen auffallen, wenn er lieber unauffällig bliebe.

Nun, seine Hoffnung war verfrüht gewesen. Dennoch bereute er nicht, vor den Fürsten getreten zu sein. Recht musste Recht bleiben. Er sah auf und Nasher in die Augen.

"Dass ich in diesem Fall das Henkersbeil wähle, Euer Lordschaft, denn ich kann Euren Auftrag nicht annehmen. Abgeschworen habe ich diesem Tun. Zu schrecklich sind die Folgen eines Fehlers. Überheblich war ich zu glauben, es würde ein solcher mir nicht früher oder später unterlaufen; verblendet zu meinen, ich erwiese den Unschuldigen damit einen Dienst und schützte sie vor Verbrechern!

Also tut, was Ihr tun müsst, was ich verdient habe, auf dass Kelemvor selbst mich richte."


Damit senkte er den Blick wieder und wartete schweigend auf die Hände, die ihn gleich packen und wieder in den Kerker zerren würden, wo ihm dann nichts mehr zu tun bliebe, als seine Hinrichtung zu erwarten.
 1. s. Charakter, noch unter Hintergrund
« Letzte Änderung: 28.07.2014, 14:47:07 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #3 am: 27.07.2014, 17:14:17 »
Lord Nasher zog überrascht die Augenbrauen hoch. "So ist das also? Du hast nachgedacht und Dich entschieden, nie wieder einen Auftragsmord auszuführen? Aber Dein erster Gedanke dabei ist lediglich, dass es einen Unschuldigen erwischen könnte? Und die Aufgabe, die mir dabei zufällt, ist, dass ich ein Leben für ein Leben nehme?" Nasher seufzte und ließ sich schwer in den fürstlichen Stuhl sinken, der am Ende des Raumes stand.

"Weißt Du, ich hatte gehofft, dass Du den Auftrag ablehnen würdest. Mit anderen Worten, es hat nie einen Auftrag gegeben und ich wollte nur Deine Reaktion wissen. Zwar hast Du abgelehnt, aber ich sehe nur Reue darüber, dass Du einen Fehler gemacht hast und vielleicht einen falschen Weg eingeschlagen hast. Meine Berater hatten vielleicht Recht. Du hast tatsächlich keinen guten Willen - aber Du hast auch keinen bösen Willen. Für Dich gibt es nur Recht und Ordnung. Ist es nicht so?"

"Hol' mir Ragefast!", rief Fürst Nasher einem der Wachen zu und diese verlies daraufhin den Raum.
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #4 am: 27.07.2014, 17:37:22 »
Alaric überlegte. Hieß das, sein Leben war noch nicht vorbei? Jedenfalls zerrte ihn niemand davon und Lord Nasher setzte sich gar, das schien darauf hinzuweisen, dass er noch nicht mit Alaric fertig war. Aber wie hatte der Fürst seine Frage gemeint: rhetorisch oder erwartete er eine Antwort? Dass er gleich darauf seinen Wachen einen Befehl zurief, schien auf ersteres zu deuten, und dennoch... Die Frage—eigentlich waren es ja zwei—beschäftigten Alaric selbst. Die zweite schien, oberflächlich gesehen, einfach zu beantworten. Ja, was für ihn zählte waren Recht und Disziplin, was wohl auf das gleiche wie Ordnung hinauslief. Und doch, hatte er nicht früher aufbegehrt, weil er nicht glauben wollte, dass es auf der Welt nicht noch mehr gab? Hatte er nicht gerade am eigenen Leib erfahren, dass Disziplin allein nicht ausreichte zum Leben, schon gar nicht als Lebenszweck?

Und dann die Sache mit dem Willen... Sah Lord Nasher das richtig? Hatte Alaric weder bösen noch guten Willen? Darüber hatte er selbst noch nie nachgedacht. Eigentlich besaß er keinen Willen. Jedenfalls keinen der Art, wie Lord Nasher das Wort zu verstehen schien. In anderer Hinsicht dürfte Alarics Wille weit über dem menschlichen Durchschnitt liegen: jede einzelne Handlung seines Tagewerks bedurfte einer Willensanstrengung, an der die meisten scheitern würden. Aber es war nicht die Art von Wille, die nach dem Sinn seines Tuns fragte, nach seinem Platz in der Weltenordnung, nach dem Zweck seines Lebens oder nach der Richtung, die er diesem—aus eigenem Willen!—geben wollte.

Also antwortete er Lord Nasher auf eine Frage, auf die dieser wahrscheinlich keine Antwort erwartet hatte: "Im Kloster gibt es nur Recht und Ordnung und den Willen zur Disziplin. Alles andere ist verboten oder wird bestraft. Als Junge wusste ich, dass es mehr gibt, aber ich habe es vergessen."
« Letzte Änderung: 27.07.2014, 22:01:42 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #5 am: 27.07.2014, 22:10:17 »
Fürst Nasher nickte langsam. "So schien es mir., sagte er und rieb sich die Stirn. "Ich will Dir etwas erzählen. Wie Du vielleicht weißt, bin ich viele Jahre lang auf Abenteuer ausgezogen und ich habe mir durchaus einen Namen als Held gemacht. Was aber heißt es, auf Abenteuer auszusein? In vielen Fällen läuft es darauf heraus, dass man in ein Verlies oder in eine Höhle geht und Monster tötet und sich ihre Schätze nimmt. Es ist eine sozial anerkannte Variante von Plünderungen und Raubzügen. Und ein Held zu sein, bedeutet in den meisten Fällen, dass man ein Henker ist - nur dass die Leute daran nichts Verruchtes sehen."

Fürst Nasher schwieg für einen Moment und schien die nächsten Worte sorgsam zu bedenken. "Am Anfang denkt man, dass man den Mut aufbringen muss, zu kämpfen - und das ist auch richtig. Man zieht aus, um die Welt von denjenigen Wesen zu befreien, die die Ordnung und das Wohl der Gemeinschaft bedrohen. Im Falle von Untoten, Gedankenschindern und Dämonen wird man sich schnell darauf verständigen können, dass diese keinen Platz haben in dieser Welt. Doch man lernt sehr schnell, dass noch ein anderer Mut dazugehört, nämlich Mut zur Verantwortung. Denn eine Gemeinschaft wird auch durch Rebellen, Wildvölker und fremde Gemeinschaften bedroht. Haben diese nicht ebenfalls eine gewisse Ordnung und sind diese nicht ebenfalls an einem Wohl ihrer Leute interessiert? Ohne einen moralischen Kompass und die Fähigkeit, die eigene Ordnung gewissen Prinzipien unterzuordnen, ginge es nur darum, auf welcher Seite man zufällig steht und wer mehr Macht hat, seine Ordnung durchzusetzen. Ginge es nur um Ordnung und Disziplin, so würde die Welt im Chaos versinken und ein Verteidigungskrieg würde dem nächsten folgen."

Nasher vergewisserte sich, dass Alaric ihm folgen konnte. "Darum muss ich das, was ich vorhin sagte, revidieren. Wer für das Wohlergehen einer Gemeinschaft eintreten will, der muss mehr sein als ein Plünderer und ein Henker. Ich blicke nicht immer mit Stolz auf meine Zeit der Abenteuer zurück, aber ich bin für jede Erfahrung dankbar. Ohne diese Erfahrungen würde es mir schwer fallen, die Verantwortung für das Volk von Niewinter zu tragen. Nicht immer treffe ich die richtigen Entscheidungen, Tyr steh mir bei!, aber nun bin ich mir sicher, dass Gerechtigkeit ohne Moral, Güte und Gnade zu nichts anderem führen kann als Chaos und Tyrannei. Wenn Du ein freier Mann sein willst, dann wirst Du das lernen müssen."

Nasher schüttelte leicht den Kopf und sah dann Alaric direkt in die Augen. "Du sagtest, dass Du Buße tun wolltest, für Deinen Fehler. Sage mir, was Du vorhast.", verlangte er zu wissen.
« Letzte Änderung: 27.07.2014, 22:26:57 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #6 am: 28.07.2014, 00:12:44 »
Alaric gab sich alle Mühe, den Worten Lord Nashers zu folgen. Zunächst verstand er auch noch einigermaßen, worum es diesem ging. Bei den Worten 'Am Anfang denkt man, dass man den Mut aufbringen muss, zu kämpfen' nickte Alaric. Ja, das kannte er. Das erste Attentat... fast hätte er es nicht durchgezogen. Jeder einzelne Schritt, von der Planung bis zu dem Augenblick, als er dem Badenden von hinten mit dem Messer über die Kehle fuhr, hatte Alaric unendlich viel Mut abverlangt. Und Mut zur Verantwortung, hatte er den nicht bewiesen, indem er sich Lord Nasher aus freien Stücken gestellt hat?

Doch dann verlor Alaric den Faden der fürstlichen Gedanken, nämlich an der Stelle: 'Ginge es nur um Ordnung und Disziplin, so würde die Welt im Chaos versinken.' Wieso das? Wenn überall Ordnung und Disziplin herrschte und jeder an der Verbesserung seiner Selbst arbeitete statt sich um die vermeintlichen Charakterschwächen der anderen zu kümmern, wie sollte da Chaos entstehen? Und worauf bezog Lord Nasher sich, als er meinte revidieren zu müssen, was er vorhin sagte?

Die Verwirrung stand Alaric kurzzeitig ins Gesicht geschrieben, bis er den Faden wiederfand. Mehr sein wollen als ein Henker, ja, zu diesem Schluss war er im Turmverlies doch auch gekommen. Aber er hatte Sorge, dass es dazu zu spät sein könnte. Die Worte Moral, Güte und Gnade sagten ihm nämlich gar nichts, das hieß, er wusste natürlich, was sie bedeuteten und dass sie allgemein als erstrebenswert erachtet wurden, aber er spürte nicht den Widerhall, den sie eigentlich im Herzen eines guten Wesens erzeugen müssten—und dass, obwohl er sich in die Hand Lord Nashers begeben hatte, auf Sühne und Vergebung hoffend: also auf dessen Güte und Gnade!

Alaric presste die Hand auf sein Herz, doch auch jetzt spürte er nur Leere. Er konnte sich noch gut erinnern—und während einer besonders gelungenen Meditation sogar für einige Augenblicke fühlen!—wie heiß das Feuer einst in seinem Herzen gebrannt hatte. Die Geschwister, was hatte er sie innig geliebt! Den Vater, wie hatte er ihn gehasst, bis Hals und Herz im Leib ihm brannten!

Ein freier Mann war er eigentlich nie gewesen. Um Freiheit zu verstehen, musste man sie fühlen können.

Als Lord Nasher geendet hatte, dachte Alaric lange über seine Frage nach. Was er vorhatte? Schwierig. Er, der sonst für jede Eventualität im Voraus plante, der für jeden Plan einen Plan B schmiedete, hatte diesmal nicht weiter vorausgedacht als bis zu seiner Audienz beim Fürsten.

"Ich möchte herausfinden, wer hinter dem... Auftragsmord steckt", wiederholte er unsicher sein ursprüngliches Gesuch, wobei seine Zunge gehörig über das Wort 'Auftragsmord' stolperte. "Es wird der Familie nicht viel Trost sein, die Wahrheit zu erfahren, aber vielleicht doch ein wenig. Und dann... wenn es danach noch ein 'dann' gibt... dann... dann weiß ich nicht, ob ich allein weiterkomme", gestand er kleinlaut. "Zwar habe ich meinem Gott schon Besserung gelobt und auch zwei Gelübde abgelegt, um meine Reue und Demut zu bezeugen, aber ist das genug?

Zum einen glaube ich, dass nicht alles Mitgefühl tot in mir ist, denn auch wenn Ihr mich gewissenlos nennt, so weiß ich genau, dass es mein Gewissen war, das mich zur Beichte hierher getrieben hat. Zum anderen aber höre ich Eure Worte und verstehe sie auch, doch spüre ich sie nicht. Wenn Ihr von Moral, Güte und Gnade redet, reagiert nur mein Verstand, nicht mein Herz."


Er klopfte mit der Faust auf das nutzlose Organ, das offenbar zu nichts anderem taugte, als Blut durch seinen Körper zu pumpen.

"Vielleicht..." Er hielt erschrocken inne ob der wagemutigen Idee, die ihm gerade kam. "Ihr sagt, Ihr hättet das alles auch über die Jahre und auf die harte Tour lernen müssen. Vielleicht könnte ich es von Euch lernen, wenn Ihr mich in Eure Dienste nähmet. Wenn Ihr es mich lehren würdet..."

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da schoss ihm heiß die Schamesröte ins Gesicht. Wie lächerlich musste dieser Gedanke in Lord Nashers Ohren klingen. Was, um einen Gefallen bittet der dreiste Mordbube mich auch noch? Zeit und Mühe soll ich in den Kerl investieren?

"Ihr werdet mich wohl kaum der Mühe werthalten", korrigierte er sich schnell. "Vergesst, dass ich es vorschlug!"
« Letzte Änderung: 28.07.2014, 14:57:17 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #7 am: 28.07.2014, 00:56:57 »
Schwerfällig stand Fürst Nasher aus seinem Stuhl auf und ging langsam zum Fenster. Er sah einige Momente in die Weite. "Du sagst, in Dir bliebe es stille, wenn ich von Moral, Güte und Gnade spreche. Welche Besserung hast Du Deinem Gott dann gelobt, frage ich mich?", sagte er, mehr zu sich, als zu Alaric. "Dennoch, eine andere Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass man seinen Intuitionen trauen sollte."

Damit drehte sich Nasher wieder zu dem Mönch. "Du hast Dein Leben im Kloster verbracht. Dorthin wirst Du nicht zurückkehren, das weißt Du. Du wirst lernen, wie ein freier Mann zu leben. Doch nicht von mir. Ich habe eine bessere Idee. Das heißt, wenn es Dir ernst ist."

In diesem Moment klopfte es an der Tür und ein schwarzhaariger Mann in roter Robe trat mit eiligem Schritt herein. "Mein Fürst, welches Anliegen beansprucht meine Aufmerksamkeit für Euch über meine Forschung?", fragte er, leicht gereizt.

"Es ist gut, dass Ihr so schnell kamt, verehrter Ragefast. Ich will Euch nicht lange mit den Details aufhalten, so dass Ihr Euch sogleich wieder Eurer Arbeit widmen könnt. Ich brauche einen Geas-Zauber von Euch."

Der Magier blieb mit einem Mal stehen; das Gesicht zeigte große Verblüffung. "Mein Fürst, das ist ein recht... garstiger Zauber, den Ihr da verlangt. Ich wende ihn nicht gerne an."

"Danke für Eure Einschätzung, Ragefast. Ich habe einen solchen Zauber schon am eigenen Leib zu spüren bekommen und kenne seine Auswirkungen. Glaubt mir, ich habe es mir gut überlegt. Also, habt Ihr zufällig einen Zauber vorbereitet?", quittierte Nasher Ragefasts Einwand mit saurem Lächeln.

"Nein, das nicht.", antworte Ragefast zögerlich. "Aber ich habe bestimmt noch eine Schriftrolle. Bei mir im Turm. In einer Stunde könnte sie hier sein."

"Dann, bitte, holt sie.", wies Nasher den Magier mit ruhiger Stimme an.

Der Magier grüßte zum Abschied und verließ den Raum. "Alaric, meine Entscheidung lautet also wie folgt: Du wirst Buße tun und darüber hinaus die Bedeutung der Worte Moral, Güte und Gnade lernen. Dazu wirst Du wieder Novize werden und zwar im Orden des Noblen Herzens des Ilmaters. Natürlich werde ich mich mittels eines Geas-Zaubers[1] absichern. Das wirst Du in Kauf nehmen. Denk darüber nach bis der Magier wieder zurück ist." Nasher gab ein Handzeichen und die Wachen brachten Alaric wieder in seine Zelle.
 1. Geas-Zauber
« Letzte Änderung: 28.07.2014, 01:02:21 von List »
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Alaric Schattenfels

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« Antwort #8 am: 28.07.2014, 03:00:13 »
Allein in seiner Zelle, fand Alaric keine Ruhe. Wie ein Raubtier im Käfig irrte er ziellos, rastlos im Kreis. Einen Geas! Da musste man nichts von Zauberei verstehen, um davon schon gehört zu haben. Es gab genügend Geschichten, die man sich am Herdfeuer über jene arme Seelen erzählte, die von einem solchen verflucht wurden. Zuhause hatte die Mutter davon erzählt; in den Tavernen und Herbergen der Barde oder redegewandte Gast; aber auch im Kloster, als Alaric noch Novize war, hatten die älteren den jüngeren mit solcherlei Geschichten das Schaudern gelehrt—die wenigsten davon gingen nämlich gut aus.

Seinen Willen sollte er aufgeben. Das hatte man natürlich im Kloster auch verlangt... langsam, über die Monate und Jahre hinweg hatte man ihm den Willen ausgetrieben. Dennoch war ihm ein Rest geblieben; ein Rest von Entscheidungsgewalt, den auch die Angst vor weiteren Strafen ihm nicht nehmen konnte; und wenn es nur die Möglichkeit eines vierten Fluchtversuches gewesen wäre, egal wie unwahrscheinlich, es wäre möglich gewesen. Doch Nasher wollte ihm auch diesen letzten Rest seiner selbst noch nehmen!

Seinen Willen aufgeben. Sich völlig unterwerfen in blindem Vertrauen. Damit er lernte, wie ein freier Mann zu leben? Wie passte das zusammen? Irrsinn! Lüge! Ein Teil seiner Strafe nur. Demut wollte der Fürst ihn lehren, indem er ihn nicht nur auf den Boden zwang, sondern mit dem Gesicht in den Staub. Wie sollte Alaric Moral, Güte und Gnade lernen, wenn er nicht Herr seiner selbst war?

Seinen Willen aufgeben. Es musste ein mächtiger Zauber sein, der einen Menschen dazu zwingen konnte. Einen Menschen zumal, dessen Willensstärke seit seinem neunten Lebensjahr dem härtesten Training, das man sich denken konnte, unterworfen war. Was mochte eine solche Schriftrolle kosten? Tausend Gold? Zweitausend? Mehr? Warum ließ der Fürst sich Alarics Strafe soviel kosten? Der Henker verlangte nur einen Bruchteil. Warum sollte der Fürst einen solchen Aufwand treiben, wenn er sich nicht etwas davon erhoffte? Und es versicherte einem wirklich jeder, den man fragte: Lord Nasher ist ein ehrenwerter Mann! Vielleicht meinte er alles ernst, was er sagte, vielleicht wollte er wirklich einen besseren Menschen aus Alaric machen.

Seinen Willen aufgeben. Nicht einmal dem Magier Ragefast schien wohl bei dem Gedanken und er stand auf der Geberseite, nicht der Nehmerseite des Spruches. Und wieder zum Novizen werden sollte Alaric, wo er endlich dieser schrecklichen Zeit entwachsen war. Im Orden des Noblen Herzens Ilmaters noch dazu! Diese traurigen Gestalten hatte er noch nie verstanden. Ja, es gab viel Leid auf der Welt, aber was nutzte es den Leidenden, wenn ein anderer für sie mitlitt? Welchen Trost sollten jene daraus ziehen, und wenn sie daraus einen Trost zögen, hätten sie diesen verdient, wo sie sich dafür doch am Leid eines anderen erbauten? Diese Logik war so verquer, dass Alaric zu schielen begann, wenn er nur darüber nachdachte.

Doch das hatte Lord Nasher bestimmt nicht im Sinn, als er sagte, Alaric solle inzwischen darüber nachdenken. Was gab es da nachzudenken? Die Alternative schien nach wie vor das Henkersbeil. Und doch, war das Henkersbeil nicht besser als ein Geas? Alaric wusste, dass er es gleichmütig würde ertragen können (sofern der Henker nicht allzu oft daneben hieb...), aber seinen Willen aufzugeben... freiwillig! Denn das schien Lord Nasher von Alaric zu verlangen: dass er freiwillig vortrat und sagte: "Ja, ich will es so. Tut es."

Alaric sank in der hintersten Ecke seiner Zelle auf den Boden, umschlang seinen Körper mit beiden Armen und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Statt nachzudenken machte er seinen Kopf ganz frei, leerte ihn von jeglichen Gedanken.

Solchermaßen kauernd fanden ihn die Wachen vor, als sie ihn pünktlich eine Stunde später holen kamen. Er hatte sich noch nicht entschieden. Was war schlimmer: der Tod oder der Verlust des freien Willens, der einen Menschen erst zum Menschen machte? Der Tod wäre einfacher. Aber durften Alarics Abwägungen mit dem Tod enden? Was wäre danach? Was würde passieren, wenn er so wie er war vor Kelemvor trat und dieser ihn richtete nach allem, was er in seinem Herzen vorfand—oder eben nicht vorfand?

Eigentlich wusste Alaric, was er zu tun hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. Lächerlich, wie schwer ihm die Entscheidung dennoch fiel.

Die Türen zum Audienzsaal öffneten sich und die beiden Wachen stießen Alaric, der immer langsamer geworden war, mit solcher Wucht hindurch, dass er auf den Knien landete. Kreidebleich und mit schreckensweiten Augen sah er auf.
« Letzte Änderung: 28.07.2014, 14:58:27 von Alaric Schattenfels »

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« Antwort #9 am: 28.07.2014, 09:25:26 »
Überrascht blickten Nasher und der Magier Ragefast auf, als Alaric so unsanft in den Raum gestoßen wurde. "Das wäre jetzt nicht nötig gewesen.", sagte Nasher und wandte sich wieder dem Magier zu. Beide standen dicht bei einander und studierten gemeinsam eine Schriftrolle. Alaric sah, dass der Magier den Zauber schon vorbereitet hatte. In der Mitte des Raumes war mit einem fein glitzernden Pulver ein Kreis gezogen worden. Kerzen standen an den Rändern.

"Ist dann alles bereit?", fragte Nasher.

"Es ist alles bereit, mein Fürst.", sagte der Magier ergeben. War er vorher so ungestüm gewesen, so war davon jetzt nichts mehr zu merken.

"Dann wollen wir beginnen.", entschied Nasher und beide traten nahe an den Kreis heran. Nasher gab Alaric ebenfalls ein Zeichen, dass er näherkomme sollte. "Alaric, Du hast eine Stunde Zeit gehabt, über unser Gespräch nachzudenken. Deine Aufgabe liegt darin, Buße zu tun und die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade kennenzulernen. Wenn Du bereit bist, dann tritt nun in den Kreis und formuliere Deine Buße.", sagte Nasher. Der Magier Ragefast runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Offensichtlich war er nicht von Nasher eingeweiht worden und wunderte sich jetzt.
« Letzte Änderung: 28.07.2014, 09:34:42 von List »
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Alaric Schattenfels

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« Antwort #10 am: 28.07.2014, 10:51:27 »
Alaric sah den Fürsten mit ungläubigen Entsetzen an. Was, er sollte den Geas auch noch selbst formulieren? Aus dem Stehgreif gar? War der Mann bei Trost? Die Geas-Geschichten endeten aus gutem Grund—um nicht zu sagen: aus genau einem Grund—allesamt tragisch: stets war eine unbedachte Formulierung schuld daran! Hätte Lord Nasher ihm nicht vor einer Stunde deutlich sagen können, was genau er von ihm erwartete? Darüber hätte Alaric sich also Gedanken machen sollen!

Er stand erst einmal auf. Noch konnte er sich umentscheiden. Besser ein schneller Tod als ein Leben voller Qual, die ein einziges falsch plaziertes Wort ihm einbringen würde. Er blickte zu Nasher hinüber und sah, dass dieser sein Zögern bemerkte. Alaric trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Enttäuschung begann sich auf Nashers Zügen auszubreiten, doch noch stand er erwartungsvoll da.

Alaric schloss die Augen und tat fünf tiefe, lange Atemzüge bis weit in den Bauch hinein, wobei er die Luft mit Kraft durch den Mund wieder ausstieß und damit auch jedes Mal ein wenig Spannung aus seinem Körper entweichen ließ. Dann öffnete er die Augen, durchquerte den Raum mit raschen, aber ruhigen Schritten und trat in den Kreis. Ein letztes Mal holte er tief Atem und sandte ein Stoßgebet an Kelemvor.

"Ich trete vor Euch, mein Fürst, weil ich Buße tun möchte. Vier Auftragsmorde habe ich begangen. Drei Verbrecher habe ich gerichtet und einen Unschuldigen getötet. Ihr sagt mir, dass es keinen Unterschied macht, ob Verbrecher oder Unschuldiger, dass die Abscheulichkeit meiner Tat die gleiche bleibt. So will ich denn für alle vier Buße tun. Statt die Schuldigen zu richten möchte ich so lange den Unschuldigen helfen, bis Ihr oder ein verantwortlicher Priester des Ilmater mir sagen könnt, dass meine Sühne meine Schuld aufwiegt.

Außerdem möchte ich mich auf die Suche nach jenen Gefühlen begeben, die man im Herzen spürt und die sich mit dem Begriff der Menschlichkeit umschreiben lassen: Moral, Güte und Gnade mögen dabei das Mindestmaß sein; die Reue, die ich bereits verspüre, aber Tor und Wegweiser, durch welche sich mir diese verlorene Welt erschließen möge. Ich will nicht rasten, bis ich wieder ein Mensch unter Menschen bin.[1]

Dies Gelübde lege ich vor Kelemvor, vor meinem Lord Nasher und vor mir selbst ab."


Dann leerte Alaric seinen Kopf von allen Gedanken—er öffnete seinen Geist, er vertraute blind! Als Beweis dafür schloss er wieder die Augen und lauschte auf nichts als seinen laut pochenden Herzschlag, während er der Dinge harrte, die da kamen.
 1. Ich channel gerade Tlacatl!  :wink:
« Letzte Änderung: 29.07.2014, 01:37:53 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #11 am: 28.07.2014, 12:14:36 »
Ohne weitere Aufforderung trat der Magier direkt an Kreis heran und entzündete die Kerzen. Er rollte die Schriftrolle aus und begann mit achtsamer Betonung, die magischen Silben zu verlesen. Alaric hatte eine Ahnung, dass bei einem solch komplizierten Zauber auch nur die kleinste Unachtsamkeit unvorhersehbare Folgen haben konnte.

Zu Alarics Überraschung dauerte das eigentliche Ritual nur sehr kurz. Der Magier hatte nicht mehr als vier magische Formeln gesprochen. Da waren auch keine Rauchschwaden, magischen Funken oder gewaltsamen Gedankenfesseln in seinem Kopf. Was Alaric auch erwartet haben mochte, die Beschwörung des Geas verlief unscheinbar. Die Beschwörung war in der Tat so unscheinbar, dass sich Alaric schon fragte, ob der Zauber überhaupt funktioniert hatte.

Ragefast atmete hörbar aus. Er schien etwas angestrengt zu sein oder vielleicht war es auch nur die Anspannung. "Nun, mein Fürst, das ist dann alles. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet?", sagte er und verlies den Saal.

"Ja, das ist dann alles...", sagte Nasher, doch mehr an Alaric gerichtet. "Ich habe ein Schreiben für den Tempel von Ilmater im Westen der Stadt vorbereitet. Man wird sich Euch dort annehmen. Ich wünsche Euch viel Erfolg. Auf Wiedersehen." Damit entließ Nasher den jungen Mönch.

Kurze Zeit später fand sich Alaric vor dem Schloss von Niewinter wieder, mit nichts als einem Auftrag und einem fürstlichen Sendschreiben in der Hand. Die noch kühle Frühlingssonne schien ihm ins Gesicht, die Bäume des kleinen Parks entfalteten ihre ersten Blattknospen. Die Welt schien nicht mitbekommen zu haben, was geschehen war.

Ungläubig sah Alaric auf die Rolle in seiner Hand. Und mit einem Mal traf es ihn wie ein Blitz. Für einen Moment war er wie paralysiert. Er konnte es erst glauben, als er es auch mit seinen Fingern spürte. Es war das fürstliche Siegel - es zeigte einen Raubvogel, welcher mit ausgebreiteten Flügeln in seinem Horst saß. Alarics erster Gedanke war, dass dies nicht das Siegel von Nasher sein konnte. Sein zweiter Gedanke war, dass er sich fragte, wer ihm all die Jahre über Glauben gemacht hatte, dass das Siegel Nashers einen Löwen zeigte.
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Die Wende
« Antwort #12 am: 28.07.2014, 12:59:26 »
Alaric schüttelte den Kopf. Löwe, Adler... Sollte es wirklich so einfach gewesen sein, ihn zu täuschen? Nun gut, ihn vielleicht, er war so unwissend, wie man ihn im Kloster erzogen hatte, und davor war er ein kleiner Junge gewesen, der sich nur vage bewusst war, dass Fürsten und sonstige Herrscher eben sehr gern Löwen, Adler, Drachen und vielleicht noch Einhörner im Wappen führten. Aber Meister Hairon konnte so dumm doch nicht gewesen sein!

Ihn überlief es eiskalt. Nein, Meister Hairon musste gewusst haben, dass der Löwe nicht Nashers Siegel war. Und wie stand es mit dem Abt? Normalerweise ging jeder Auftrag über den Abt des Klosters, Rufus Steinsänger, doch wenn Alaric es nun recht bedachte, so war der Abt niemals zugegen gewesen, wenn ein Bote mit einem Auftrag für Alaric kam, hatte niemals die Briefe oder deren Siegel gesehen, denn sie wurden ja stets vor Augen des Boten verbrannt.

Alaric keuchte, als er die Wahrheit erkannte. Benutzt hatte der Meister ihn all die Jahre! Seine ganze Ausbildung war Lüge gewesen. Die letzten seiner Aufträge—alle vier!—sie stammten nicht von Fürsten mit richterlicher Gewalt, sie dienten nicht dem Ausschalten von gesetzesflüchtigen Verbrechern, es waren alles Mordaufträge gewesen! Zwielichtige Gestalten steckten dahinter, die Ermordeten: alles Unschuldige!

Und Meister Hairon... unter den Augen des Abtes trieb er sein böses Spiel! Womöglich nahm er Geld für diese Aufträge. Viermal war Alaric sein williger Assassine gewesen!

Am liebsten wäre Alaric gleich wieder zum Fürsten hineinmarschiert und hätte ihm von seiner Erkenntnis berichtet. Der Mann musste aufgehalten werden! Doch glaubte Alaric nicht, dass Lord Nasher ihn so rasch wieder empfangen würde. Er hatte ihn zum Ilmater-Tempel geschickt. Dort wollte Alaric seine Erkenntnis offenbaren; die Priester würden schon dafür sorgen, dass Lord Nasher dies zu Ohren kam.

Und so machte Alaric sich—mit tauben Sinnen und wirren Gedanken im Kopf—auf den Weg in den Westen der Stadt. Als er den Tempel endlich erreichte, betrat er ihn ohne Zögern und wandte sich an den erstbesten Priester, der ihm begegnete.

"Ich habe hier ein Schreiben von Lord Nasher", sagte er, indem er es hochhielt. "Darin ersucht der Fürst Eure Gemeinschaft, mich als Novizen aufzunehmen, und zwar als Novizen mit besonderen Auflagen. An wen muss ich mich da wenden?"

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Die Wende
« Antwort #13 am: 29.07.2014, 00:32:29 »
Alaric fand den Tempel des Ilmater ziemlich schnell. Es war ein kleinerer Tempel, zumindest dann, wenn man ihn mit dem gewaltigen Tempel des Tyr oder dem des Ogmah in dieser Stadt verglich. Er war auch bei Weitem nicht so imposant, wie die anderen Tempel der Stadt. Der Tempel war aus einfachem Stein gehauen und glich äußerlich mehr einem Kloster, mit einem großen Turm an der Nordseite. "Was soll ich mit der Menge Eurer Ehrerbietungen? Ich bin müde Eurer Lobgesänge und habe kein Gefallen an Gold und Silber. Die Schwachen und die Kranken, diese sind meine Stolz und mein Zierde, so spricht Ilmater", stand am Torbogen. Vielleicht war es der Sinnspruch der Gemeinschaft, doch vielleicht auch ein Vers aus der heiligen Schrift. Alaric war sich nicht sicher.

Er wollte sich auch keine Zeit nehmen, lange darüber nachzudenken. Er trat in den Innenhof des Tempels. Dort waren große Kräuterbeete angelegt, in denen Männer mit braunen Kutten Unkraut zupften. Zur Linken war eine Kampffläche abgesteckt, doch niemand trainierte dort. Ein Schotterweg, der zwischen Kniehohen Hecken eingefasst war, führte auf die Kirche zu. Diese betrat Alaric auch sogleich. Dort war wenig Betrieb und es waren fast nur Mönche und Priester zu sehen. Die meisten von ihnen beteten, manche unterhielten sich. Nahe Alaric hatte gerade ein Mönch in tiefblauen Gewand sein Gebet beschlossen und erhob sich. Diesen sprach Alaric an.


Pater Johannes
Der Mann reagierte nicht unmittelbar auf Alaric, sondern verpackte zunächst achtsam seinen Perlenkranz in ein kleines Samtsäckchen und steckte es unter sein Gewand. "Willkommen", sagte er schlicht aber sehr freundlich. "Ilmater heißt jeden in seinem Haus willkommen und ganz besonders diejenigen, welchen es an Körper und Seele gebricht. Mit Eurem Anliegen seid Ihr bei mir richtig. Ich bin der Lesemeister und verantwortlich für die Anleitung der Novizen. Mein Name ist Pater Johannes. Ich fürchte, ich habe noch nicht ganz verstanden, wie ich Euch helfen kann.", sagte er noch immer sehr freundlich.
« Letzte Änderung: 29.07.2014, 00:40:01 von List »
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Die Wende
« Antwort #14 am: 29.07.2014, 01:36:15 »
Bei den Worten 'Lesemeister' und 'an Körper und Seele gebricht'—auch zuvor schon, beim Anblick des leeren Kampfplatzes—rutschte Alaric das Herz in die Hose. Würde er die nächsten Monate oder gar Jahre hier mit Lesen verbringen oder mit der Pflege von Gebrechlichen? Noch beunruhigender war die Entdeckung, dass es hier nicht nur Ordensbrüder, sondern auch Ordensschwestern[1] gab. Würde er als Mann viel Umgang mit ihnen haben oder waren die Wohn- und Aufgabenbereiche nach Geschlechtern getrennt? Wie stand es mit Patienten? Musste er als Mann nur Männer und Jungen versorgen oder auch den weiblichen Kranken helfen? Das wäre ein großes Problem, hatte er doch gestern erst geschworen, niemals eine Frau zu berühren oder sich von einer berühren zu lassen. Würde er diesen Schwur gleich wieder brechen müssen, um den Wortlaut seines Geas zu erfüllen?

Er versuchte sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen.

"Habt Dank für Eure freundlichen Worte, Pater", sagte er höflich. "Ich weiß nicht, wie genau Lord Nasher in seinem Schreiben meine Lage erklärt, aber ich bin hier, um Buße zu tun für meine Verbrechen, welche ich sehr bereue." Er hielt dem Pater das Schreiben erneut hin. "Bitte lest dies, Pater Johannes. Wenn Ihr danach noch Fragen habt, so werde ich sie gern beantworten."

Seine Stimme war immer leiser geworden. Auch äugte er nach links und rechts, ob ja niemand in der Nähe sei und das Gespräch belauschte. Wenn alle gleich am ersten Tag erführen, was für ein Verbrecher da in ihrer Mitte Zuflucht suchte, würde ihm das seine Aufgabe noch schwerer machen, als sie ohnehin war. Allzu deutlich spürte er noch die verächtlichen Blicke von Lord Nashers schweigsamen Vertrauten auf sich ruhen und stellte sich vor, wie sich die Mienen der hier Anwesenden auf dieselbe Art verziehen würden jedes Mal, wenn sie Alaric begegneten. Die Kehle wurde ihm eng.

"Es ist mir ernst damit", sagte er, als hätte der Pater dies schon angezweifelt. "Es ist mir ganz schrecklich ernst damit."

Dann beobachtete er schweigend, wie Pater Johannes Lord Nashers Schreiben in Augenschein nahm.
 1. Du hast jetzt zwar keine Ordenschwestern direkt erwähnt, aber ich nehme an, dass der Tempel des Ilmater beiden Geschlechtern offensteht, oder sehe ich das falsch?
« Letzte Änderung: 29.07.2014, 02:11:10 von Alaric Schattenfels »

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