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Autor Thema: [1. Akt] Die Wende  (Gelesen 10720 mal)

Beschreibung: Prolog für Alaric [abgeschlossen]

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Manus

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Die Wende
« Antwort #45 am: 07.08.2014, 15:00:56 »
Dass seine Worte den Novizen Alaric nicht erreicht hatten, nahm Manus gelassen entgegen. Es stand ihm nicht zu, Ilmaters Wahl oder die Wahl Pater Johannes in Frage zu stellen. Ein Weg zur Erkenntnis könnte lang oder kurz sein, aber so wie der Gebrochene Gott niemanden verloren gab, so wollte auch der Kleriker niemanden verloren geben.

Einen Moment blickte er Alaric noch ruhig ins Gesicht, dann drehte er eine Runde durch den Krankensaal. Ab und an beugte er sich zu einer Hilfesuchenden Person und wechselte einige ruhige Worte.

Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #46 am: 07.08.2014, 15:31:55 »
Etwas unschlüssig, was er jetzt tun solle—war er entlassen? Oder ging das 'Training' noch weiter?—näherte Alaric sich wieder dem ihm zugeteilten Kranken. Dessen Augen weiteten sich jedoch vor Schrecken, als er Alaric auf sich zukommen sah; stöhnend wandt er sich und blickte sich gar schutzsuchend nach Bruder Manus um.

Alaric trat wieder einen Schritt zurück, damit der Mann sich beruhigte. Vielleicht hatte Bruder Manus recht gehabt. In Sachen Krankenpflege hätte Alaric noch viel zu lernen, oder es fehlte ihm grundsätzlich die Einstellung dazu. Nicht jeder konnte jedes Metier erlernen.

Er beobachtete Bruder Manus, wie dieser durch die Reihen der Kranken ging und für jeden die richtigen Worte fand. Irgendwie bewundernswert. Das würde er selbst nie hinbekommen, dazu fehlte ihm... etwas, das er nicht benennen konnte. In der anderen Sache aber, deren der Bruder ihn beschuldigt hatte, in der durfte Alaric sich verteidigen. Auch wenn man ihn wieder 'Novize' nannte, er war es längst nicht mehr. Überhaupt schien man es hier im Orden des Noblen Herzens ja sogar zu schätzen, wenn Novizen ihre eigene Meinung darboten.

Und deshalb trat Alaric ganz zum Schluss, als nur noch er, der Bruder und die Kranken sich in der Stube befanden, auf Bruder Manus zu.

"Ihr hattet recht mit dem Kranken, meine Worte haben geschadet, nicht genutzt," gab er zu. "Aber in der Sache mit Benno, da tut Ihr mir unrecht, Bruder Manus. Den Jungen plagt etwas. Was, das hat er mir noch nicht anvertraut. Ständig spielt er es herunter, nennt es verschämt lächelnd sein 'kleines Geheimnis' und lenkt rasch wieder davon ab. Und doch folgt er mir vom ersten Tag an wie eine verlorene Welpe, obwohl ich zunächst mein Bestes tat, ihn abzuschütteln. Irgendwas erhofft er sich von mir. Irgendwie sieht er etwas in mir, von dem er denkt, dass es ihm helfen könne. Leute, die ihn verhätscheln und gewähren lassen hat er genug, die ihn gleichzeitig aber auch belächeln und nicht für voll nehmen. Ich nehm ihn für voll. Ich belächel ihn nicht. Und deshalb wird er mir eines Tages, wenn er soweit ist, sein 'kleines Geheimnis' anvertrauen— also das echte, nicht das, von dem er zurzeit noch verschmitzt behauptet, dass es ein Geheimnis sei—und dann werde ich versuchen, ihm zu helfen, so gut ich kann."

« Letzte Änderung: 07.08.2014, 16:54:44 von Alaric Schattenfels »

Manus

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Die Wende
« Antwort #47 am: 07.08.2014, 18:49:17 »
"Novize Benno sieht etwas in Euch. Warum glaubt Ihr, dass Ihr in abschütteln wolltet und was ließ euch umkehren?" Manus unterbrach seine Worte nicht sondern fuhr fort: " Jeder hat es verdient ernst genommen zu werden, Benno genauso wie Ihr. Wir brauchen viele Dinge, sei es Wasser, eine frische Bandage oder einfach nur ein Ohr."

Mit diesen Worten trat er zu dem Alaric zugeteilten Kranken und ging in die Knie. "Ich bin mir sicher, ihr seid bei unsere Novizen Alaric in guten, wenn auch manchmal ruppigen Händen", begann der Kleriker an den Hilfesuchenden gewandt. "Ihr habt beide einen Pfad zu gehen." Damit stand Manus wieder auf, deutete eine Verbeugung an und verließ den Krankensaal.

Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #48 am: 07.08.2014, 19:42:49 »
Alaric sah Bruder Manus nachdenklich nach. Eine gute Frage. Oder auch nicht. Es ging dabei doch wieder nur um den Grund. Waren Gründe wirklich so furchtbar wichtig? Wenn jemand in einer Situation das richtige tat, was spielten seine Gründe da für eine Rolle? Kannte ein jeder überhaupt die Gründe seines Tuns? Alle Gründe? Es gab ja stets mehr als nur einen.

Vielleicht hatte Alaric nur Pater Johannes' unausgesprochener Anweisung folgend sich des Jungen angenommen, vielleicht wollte er ihm aber auch einfach deshalb helfen, weil Benno sich auf seine Art an Alaric gewandt und offenbar—aus welchem Grund auch immer!—entschieden hatte, dass, wenn er bei irgend einem Menschen schon Hilfe suchen wollte, dies ausgerechnet bei ihm sei. So oder so, die Gründe konnten Benno genauso egal sein wie Alaric. Es war, wie es war. Da brauchte auch nicht schon wieder einer daherkommen und nach den Gründen fragen und, indem er diese womöglich als falsch verurteilte, die eigentliche Tat herabwürdigen.

Und oft gab es auch gar keinen Grund für das eigene Handeln, nur ein Gefühl. Einen Instinkt.

Vielleicht war es ein solcher, der Alaric auf leisen Sohlen die Krankenstube durchqueren und am Bett des Verletzten niederknien ließ, so wie Bruder Manus es getan hatte. Dort kam er seinen Versäumnissen nach. Er fragte den Mann nach seinem Namen, seiner Familie, seinem Beruf, und erkundigte sich auch, wie es denn zu den Verletzungen gekommen sei. Zum Schluss holte er dem Kranken noch etwas zu Trinken und fragte, ob er jetzt denn alles hätte, was er für die Nacht bräuchte, dann verließ Alaric als letzter die Krankenstube.

Doch er begab sich nicht gleich in seine Kammer, sondern auf den Kampfplatz hinaus, welcher still und verlassen im Mondlicht dalag.[1] Dort vollführte er alle sechs Formen seines Abendtrainings: Schattentänzer, Schattenhatz und Schattenkrieg; und dann die drei, die dazu gedacht waren, den Trainierenden Schritt für Schritt wieder zur Ruhe kommen zu lassen: Weide im Sturm, Feder im Wind, Blatt im Fluss.

Er wusste nicht genau, wie lange es bereits nach Mitternacht war, als er endlich in seinem Bett lag. Es mochten noch drei Stunden bis zur Frühmette sein.
 1. vorausgesetzt, er wird nicht daran gehindert und von einem Bruder in seine Kammer geschickt.
« Letzte Änderung: 11.08.2014, 16:34:02 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #49 am: 25.09.2014, 21:12:20 »
Es vergingen weitere Wochen, in denen Alaric am Tempelleben teilnahm. Was am Anfang irritierte oder herausforderte, wurde zur Gewohnheit und mit der Zeit wurde Alaric mit den Novizen besser bekannt, jedenfalls so sehr, wie es Alaric zulies. Die Novizen waren ungewöhnlich gesellig und manche nannten sich Freunde. Alaric hatte keinen Freund hier, vielleicht abgesehen von Benno. Doch war dieser wirklich ein Freund? Was macht jemanden zum Freund?

Auch der Unterricht bei Pater Johannes ging weiter. Alaric kannte mittlerweile das Schema, nac dem der Unterricht ablief, sehr genau. Er konnte mittlerweile intuitiv sagen, wann die Wendung kam und manchmal konnte er sogar die Richtung vorhersagen. Trotzdem wurde der Unterricht selten richtig langweilig. Alaric konnte die Begeisterung seiner Mitschüler für diesen Lehrer mindestens nachvollziehen. Alaric meldete sich trotzdem eher selten zu Wort und begnügte sich, die Erkenntnisse mitzuschreiben oder Bilder vom Unterricht zu malen.

Pater Johannes sammelte noch immer regelmässig die 'Heiligen Schriften' der Novizen ein. Alaric bemerkte, dass sich der Pater in letzter Zeit mit Kommentierungen zurückgehalten hatte. Die Diskurse, die seine Mitschüler mit dem Pater in ihren Heften zuweilen austrugen, fehlten bei Alaric. Stattdessen fand er solche Anmerkungen an den Rand geschrieben, wie: "Was sagt Dir Dein Gefühl?", "Wo findest Du ein Beispiel? Und wo ein Gegenbeispiel?" und einmal sogar - und das fand Alaric befremdlich - "Erkläre Du es mir!".

Am Ende der Woche fand Alaric nur drei Sätze unter seinen Aufzeichnungen: "Wie siehst Du Dich? Wie sehe ich Dich? Was ist Dir lieber?"
« Letzte Änderung: 25.09.2014, 21:22:24 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #50 am: 26.09.2014, 00:46:42 »
Als Pater Johannes Alarics Heilige Schrift das nächste Mal öffnete, sah er unter seinen drei Fragen folgende Antwort:

"Ich sehe einen Mann, der gerne mit den anderen lachen würde, aber er hat das Lachen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne fühlen würde, aber er hat das Fühlen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne etwas sagen würde, aber er weiß nur zu schweigen.
Vor allem aber sehe ich einen Mann, der einen schrecklichen Fehler begangen hat.
Vier Menschen hat er ermordet, vier Unschuldige gerichtet, als wären sie schuldig, als wäre er ihr Richter und Henker zugleich. Im Namen Kelemvors noch dazu, dem diese Taten doppelt ein Greuel sein müssen.

Ich sehe einen Mann, der sich gerne dahinter verstecken würde, dass er in jugendlichem Alter dazu verführt wurde, dass er mit seinen elf, zwölf Jahren sich nicht gegen die Lehren des Meisters hat wehren können, dass es nur ein böser Zufall gewesen ist, dass der Meister ihn aus den zehn oder mehr Kandidaten ausgewählt hat, aber damit würde ich mich selbst belügen. Meister Hairon hat schon mir schon als Zehnjährigem angesehen, dass ich des Mordens fähig bin.

Wie Ihr mich seht? Ich weiß es nicht. Wie jemand, dem vergeben werden kann? Dann hoffe ich, dass Ihr recht habt. Wenn ich es selbst nicht auch ein wenig glauben würde, wäre ich nicht hier. Aber habt Ihr auch wirklich genau hingeschaut?
"

Als der Pater umblätterte, fand er die folgenden vier Zeichnungen lose in das Büchlein hineingelegt.[1]

Die vier Opfer am Tatort (Anzeigen)

Auf der nächsten Seite stand:

"Und wenn Ihr jetzt genau hingeschaut habt, dann könnt Ihr mir vielleicht eine Frage beantworten: Warum sollte Kelemvor mir das vergeben? Warum solltet Ihr oder Lord Nasher oder auch Ilmater mir das vergeben? Warum sollte ich mir das vergeben?"

~~~

Am nächsten Morgen während der Frühmette dachte Alaric über Freundschaft nach. Wie konnte man sie definieren? Dabei meinte er die Freundschaft zwischen Erwachsenen, nicht die Geschwisterliebe oder das sorglose Spiel der Kinder; beides hatte er erfahren, das kannte er. War Benno ein Freund? War Alaric ihm ein Freund? Was machte zwei erwachsene Menschen zu Freunden?

Eine grundlegende Voraussetzung schien ihm, dass man die Gesellschaft des anderen schätzte und sich nicht die ganze Zeit wünschte, bei seinem Tun lieber allein zu sein. Und daran haperte es ja schon, denn er würde Benno bisweilen wirklich zu gern sagen: Jetzt lass mich endlich in Ruh! Zwar tat er dies am Ende nie, aber war gedacht nicht fast dasselbe wie gesagt? Nun gut. Was also weiter? Dass man sich in einer Gefahrensituation aufeinander verlassen konnte—nein, halt, das war die Definition von Kampfkamerad.

Neuer Versuch: dass man miteinander lachen und reden konnte, aber auch von seinen Sorgen erzählen (er hatte Benno noch von nie von seiner Sorge erzählt, genausowenig wie dieser ihm offenbart hatte, was ihn denn nun wirklich plagte); dass man Ratschläge erwarten und geben durfte, die der andere dann auch, wenn nicht jedesmal beherzigte, so doch ernsthaft bedachte (er hatte von Benno noch nie einen Rat erbeten oder erhalten und dieser aß Tag für Tag die Reste von Alarics Teller und auch immer noch zu viel Naschwerk zwischendurch); dass man dem anderen nicht über das Maul fuhr und ihm sagte: "Jetzt schweig endlich still, du Dummkopf!", auch wenn derjenige etwas dummes gesagt hatte...

Nun gut, wenigstens das hatte Alaric bisher weder gesagt noch gedacht, aber nur, weil er stattdessen einfach weghörte, und das war dasselbe wie Abwenden, vielleicht noch schlimmer, denn es war eine Art von Täuschung. Überhaupt, die eigenen Sorgen für 'wichtiger' erachten als die des anderen war... selbstsüchtig.

Das sah nicht gut aus, da blieb nichts übrig, das ihn mit Benno verband, außer den (nicht gänzlich unerwünschten) Gesprächen über dies und jenes—die von Alarics Seite her zumeist aus geduldigem Zuhören bestanden, mit dem ein oder anderen Einwurf—und der gelegentlichen Erheiterung, ob still lächelnd oder als Lachen geäußert. Und trotzdem, wenn er sich vorstellte, der Junge würde morgen vielleicht den Tempel verlassen, woanders hinziehen oder gar krank werden...

Vielleicht war Alarics Definition von Freundschaft ja zu hoch gegriffen; vielleicht war dies alles das hehre Ziel, Freundschaft aber einfach nur der gemeinsame Weg darauf zu.

Ein tröstlicher Gedanke, der eine Welt von Möglichkeiten zu öffnen schien—bis Alaric auffiel, dass er einen wichtigen Punkt bei seiner Definition vergessen hatte: Freundschaft ist, wenn man einander vergibt.

Und das Tor zu seinen Mitmenschen, das sich für einen Augenblick geöffnet hatte, schlug wieder zu.
 1. Zeichenwürfe in dieser Reihenfolge: 15, 17, 12, 22
 2. Details kennt der SL besser als ich; vielleicht erkennt der Pater den Mann gar.
« Letzte Änderung: 27.09.2014, 23:19:26 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #51 am: 02.10.2014, 19:27:08 »
Einige Tage später klopfte es an der Tür von Alarics Zelle. Es war bereits spät abends, das Komplet wurde schon gesprochen, und die Novizen hatten sich zur Ruhe zurückgezogen. Als Alaric die Tür öffnete, fand er den Pater davor, welcher darum bat, auf ein paar Worte eintreten zu dürfen. Alaric gab den Weg frei und der Pater setzte sich auf den Stuhl neben dem kleinen Pult, welche neben dem Bett die einzigen Möbel in der Zelle waren. Er kramte aus einer Mappe einige Blätter Papier hervor und legte sie mit der freien Seite nach oben auf das Pult. Alaric erkannte die Blätter als seine Zeichnungen.


Pater Johannes
Pater Johannes lies einige Momente Zeit, bis er das Gespräch eröffnete. "Ich habe lange nachgedacht, Alaric, über das, was Du in Dein Buch geschrieben hast. Um offen zu sein, es hat mich sehr beschäftigt.", begann er langsam. "Du fragst mich, warum Dir Kelemvor, warum Fürst Nasher, selbst warum ich Dir vergeben sollte. Und um diese Frage zu untermauern hast Du mir diese Zeichnungen beigelegt." Der Pater lächelte schief. "Sie sind künstlerisch sehr gut. Aber das ist bestimmt nicht die Reaktion, die Du von mir erwartest, nicht wahr? Du möchtest, dass ich die Zeichnungen betrachte und denke: 'Wie schrecklich! Nein, für einen Menschen, der so etwas getan hat, gibt es keine Hoffnung!' Du möchtest, dass ich Dir Dein Urteil über Dich selbst bestätige, nicht wahr? Oder wartest Du darauf, dass ich Dir Deine Schuld mindere, indem ich sage, dass Du wenig Schuld an diesen Morden trägst, weil man Dich von Kindheit an dazu bestimmt hat, zu morden? Nein, sag jetzt nichts, denn diese Fragen sind es nicht wert, diskutiert zu werden. Lass mich nur dazu sagen, dass Deine Taten weder vergolten noch relativiert, nicht vergessen und nicht anderen angelastet werden können. Aber Du sollst Vergebung erfahren und darum geht es bei der Gnade. Nur dass Du es, wie mir scheint, noch nicht verstanden hast, was diese Wörter bedeuten. Vergebung ist etwas, was gegeben wird und an dem Du nichts hinzutun kannst."

Der Pater drehte die Zeichnungen um, so dass Alaric einen kurzen Blick werfen konnte auf sein letztes Opfer, bevor der Pater seine Hand darauf legte. "Was Du hier vor Dir hast sind Deine Sünden und wir sprechen von Vergebung. Alaric, es ist sehr wichtig, dass Du das folgende verstehst: Wenn Du an diesen Sünden festhälst, dann begehst Du eine weitere Sünde. Wenn Du sagst, dass Du nichts tun kannst, um diese Schuld auszugleichen, dann schmähst Du die göttliche Gnade, welche Dir unverdient zu Teil wird. Und wenn Du daraufhin sagst, dass Du diese Gnade nicht verdienst, dann ist das eine noch größere Sünde, denn im Hochmut stellst Du Dein Urteil über das Deiner Gottheit. Du musst aber demütig sein, um die Gnade zu empfangen. Ist Dir das verständlich?"
« Letzte Änderung: 21.10.2014, 02:06:00 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #52 am: 02.10.2014, 20:18:11 »
Die längste Zeit, da Pater Johannes redete, lauschte Alaric mit niedergeschlagenem Blick. Erst bei den Worten "es ist sehr wichtig, dass du das folgende verstehst" sah er auf und schaute ihm in die Augen, doch seine Miene verwirrte sich während der weiteren Ausführungen des Paters zusehends. Zum Schluss lachte er verzweifelt.

"Dann ist es wahrlich hoffnungslos! Denn alles, was ich anstelle, um meiner Vergangenheit zu entgehen, um meine Sünden zu büßen, ist offenbar eine noch größere Sünde! Jeder Zweifel in meinem Kopf: Sünde! Jeder Gedanke: Frevel! Nicht einmal die wahre Bedeutung der Wörter kenne ich! Demütig? Kniee ich denn nicht voller Demut, voll unaussprechlicher Reue vor meinem Gott? Und wenn Ihr sagt, meine Sünde kann niemals vergessen werden, aber daran festzuhalten sei eine weitere Sünde—das widerspricht sich doch!"

Schwer atmend wandte er sich ab und starrte die Wand an.

"Es ist nicht die 'Sünde', an der ich festhalte, es sind jene Momente, in denen ich noch hätte innehalten können. Der junge Luskaner in der Gasse, er hat um sein Leben gefleht. Er bot kein Geld, hat nicht versucht zu handeln, drohte nicht mit der Rache seiner Familie, nichts. Er hat mich nur in einem fort angefleht: 'Hör auf, ich bitt dich, nein, nicht, hab Mitleid, ich kann nicht mehr, bei allen guten Göttern, hör doch auf!' Und ich wollte aufhören, aber ich habe nicht aufgehört. Warum nur habe ich nicht aufgehört? In meinen Träumen sehe ich diesen Augenblick wieder und wieder vor mir—zum Greifen nahe—und bilde mir ein, es diesmal anders machen zu können, wenigstens im Traum! Aber es geschieht immer wieder so, wie es geschehen ist."

Er sah wieder zum Pater auf. Seine Unterlippe zitterte und er musste schlucken und trotzdem war seine Stimme belegt, als er fragte: "Wie kann man etwas loslassen, das man so sehr bereut?" Und noch leiser: "Wie kann ich um Erbarmen bitten, wenn ich selbst es einem anderen ausgeschlagen habe?"
« Letzte Änderung: 03.10.2014, 22:05:11 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #53 am: 21.10.2014, 02:04:15 »

Pater Johannes
Der Pater erwiederte den Blick von Alaric und ließ sich dann ein zustimmendes "Hmm..." vernehmen. Seine Finger suchten die Zeichnungen und der Pater sah sich die Bilder noch einmal an. Besonders lange blieb er bei dem Bild des letzten Opfers. "Hm..., ja, Alaric. Ich verstehe, dass Deine Erinnerung noch sehr lebhaft ist. Ich dachte, Du hättest vielleicht einen Teil in dieses Bild gelegt. Aber vielleicht dient es Dir auch als Gedankenstütze, um keines der grausigen Details zu vergessen. Du durchlebst diesselben Szenen immer wieder. Ein Alptraum, den Du immer wieder durchlebst. Gibt es keine Möglichkeit, dass es in dieser Nacht, vielleicht in dieser Nacht, ein gutes Ende gibt? Nein?"

"Du sprichst die ganze Zeit nur von Dir. Kann man sich selbst am Schopf aus einem Sumpf herusziehen? Nein? Natürlich nicht. Darum wiederhole ich mich noch einmal: Vergebung ist etwas, was gegeben wird und an dem Du nichts hinzutun kannst. Es geht nicht darum, ob Du Dich selbst für würdig hälst, dass Dir vergeben wird, oder ob Du Dir selbst vergeben kannst. Du musst es nicht einmal mit Deinem Intellekt durchdringen können, was es bedeutet, dass Dir vergeben ist. Was ich Dir sage, beansprucht nicht weniger zu sein, als göttliches Wort aus Menschen Mund: Dir ist vergeben!"
« Letzte Änderung: 21.10.2014, 02:23:50 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #54 am: 21.10.2014, 11:52:47 »
Eine ganze Weile lang sagte Alaric nichts, stand nur da wie erstarrt, die Augen schreckensweit. Er versuchte die Rede des Paters zu begreifen, doch seine Gedanken verstrickten sich sofort in den vielen Widersprüchen, die offenbar nur er in allem sah; was dem Pater ein geradliniger Weg zu sein schien, war ihm ein unentwirrbares Dornengestrüpp. Es blieb der letzte Satz: Dir ist vergeben.

Alaric wusste nicht, ob er es glauben sollte, und so wiederholte er die Worte ein paarmal still für sich. "Dir ist vergeben. Dir ist vergeben. Dir ist vergeben." Unbemerkt von ihm selbst, aber deutlich sichtbar für den Pater, der das Mienenspiel beobachtete, wandelte sich Unglaube in Erstaunen. Vielleicht war es so! Vielleicht hatten Kelemvor und Ilmater ihm längst verziehen! Vielleicht klingelten ihnen aber auch einfach nur die Ohren von seinen ständigen Reueschwüren, mit denen er jedes Morgen- und jedes Abendgebet füllte und jede einzelne Mette verbrachte. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, die Palette seiner Gefühle um ein zweites zu erweitern. Dank, würde sich anbieten. Dank dafür, dass Lord Nasher ihn hierher geschickt hatte, dass Pater Johannes die Aufgabe so ernst nahm, dass er Alaric ins Gesicht sehen konnte und etwas anderes erblickte als ein Monster...

Dir ist vergeben. Seit Wochen bat er um nichts anderes. Er hatte geglaubt, es würde der letzte Schritt sein, wenn alles andere, das er zu tun geschworen hatte, erreicht war. Doch was, wenn er sich geirrt hatte, wenn es der erste Schritt war? Überhaupt, am Anfang stand Lord Nashers Vergebung, oder teilweise Vergebung, ohne die Alaric niemals einen zweiten hätte tun können. Was wäre also nun der nächste Schritt? Dank fühlen, ja, aber die eigentliche Herausforderung schien ihm: diesen Dank auch zeigen.

"Ich...", sagte er. "Also..." Ihm fielen keine Worte ein, die auch nur annähernd ausdrückten, wie dankbar er dem Pater für seine Hilfe war. War er überhaupt in seinem Leben schon einmal dankbar gewesen für irgendwas? "Ich... werde darüber nachdenken, was das für mich bedeutet."

Er nahm die Zeichnungen und steckte sie, nach kurzem Überlegen, wieder in seine Mappe, ganz zuunterst, in das kleine Fach, das in der Rückseite eingelassen war.

"Ihr hattet schon recht. Ich habe meine Zeichnungen für mich fühlen lassen. Sie sollten sich erinnern, damit ich es nicht müsste. Aber dann sagte mir ein weiser Mann, ich müsse meine Gabe zur Betrachtung der Dinge nach innen anwenden und mich selbst erkennen. Das hat die Sache ziemlich aufgerüttelt. Jedenfalls habe ich eines heute erkannt: in Reue zu ertrinken macht einen taub für jedes andere Gefühl oder auch Mitgefühl. Es hält davon ab, sich anderen Menschen zuzuwenden. Von 'öffnen' will ich gar nicht erst reden. Das mag also meine nächste Herausforderung sein: Mitgefühl zeigen. Und Dank. Für die göttliche Gnade, so unbegreiflich sie auch ist. Und für die menschliche..."

Doch auch dieser zweite Versuch, dem Pater zu danken, scheiterte, weil Alaric die Worte dazu fehlten. Mit einem frustrierten Kopfschütteln brach er ab.
« Letzte Änderung: 22.10.2014, 15:08:46 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #55 am: 10.11.2014, 22:37:22 »

Pater Johannes
"Sehr gut, Alaric.", sagte Pater Johannes anerkennend. "Als Du damals ins Kloster kamst, hat derselbe Mann ein paar Verse rezitiert, deren Tragweite Du nun erkennen wirst. Diese Verse lauteten:

Komm, wer du auch seiest!
Wanderer, Anbeter, Liebhaber des Loslassens, komm.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Auch wenn Du deinen Eid tausendmal gebrochen hast,
komm nur!
Und noch einmal: Komm!

Du musst wissen, Novize, dass diese Verse für mich immer eine ganz besondere Bedeutung hatten. Sie sind so wirkmächtig, dass sie nicht nur den Geist, sondern auch das Herz ansprechen. Sie sind so einfach, dass sie ein einfacher Mann verstehen kann, und so gewaltig, dass ein Leben nicht ausreicht, um sie zu ergründen.

Das Bild ist vortrefflich. Die Wüste versinnbildlicht unser Leben, mit seiner ganzen Kargheit und seiner Unvollkommenheit. Gefühlsmässig ist die Wüste die erfahrene Gottesferne, wie es heißt: 'Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.' Und es ist klar, dass wir gewisslich sterben müssen, wenn wir in dieser Wüste bleiben werden.

Dann ist da die Karawane. Sie versinnbildlicht die heilige Kirche. Die Karawane ist zwar ebenfalls in der Wüste, aber sie hat einen Startpunkt ihrer Sendung und auch ein Ziel. Ihr Startpunkt ist der Ekel über die Welt, wie sie ist, und die Einsicht in unser gottloses Treiben in ihr. Aus Reue setzt sie sich in Bewegung und noch ist sie in der Wüste. Doch sie behält ihr Ziel im Blick, welches sie zu erreichen sucht. Es ist das Verlassen der Wüste und das vollkommene Sein bei Gott. Aus dieser Zuversicht, ihr Ziel erreichen zu können, kann sie jeden ansprechen, welchen sie durch Fügung in der Wüste begegnet.

Das bist Du. Ich sage Dir: 'Komm!' und noch einmal: 'komm!'. Es dürfte Dir nicht schwer fallen, nun zu verstehen, warum ich sage, dass Deine Taten nicht vergessen werden können.Es hieße, den Startpunkt Deiner Reise mit uns zu vergessen. Und ohne Startpunkt wissen wir auch nicht, warum wir auf der Reise zu unserem Ziel sind.

Es gäbe noch viel zu sagen, aber ich glaube, Du hast verstanden. Danke, dass Du mir zugehört hast. Gute Nacht.
"

Damit verließ der Pater Alarics Zelle. Er ging noch einige Schritte, bis er sich unbeobachtet fühlte. Dann lächelte er. "Allmächtiger, ich danke Dir für diese Verse. Ich muss sie aufschreiben, so dass sie der Welt erhalten bleiben.", murmelte er.
« Letzte Änderung: 10.11.2014, 22:41:45 von List »
"Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen."
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #56 am: 12.11.2014, 11:18:41 »
Als der Pater gegangen war, lief Alaric noch einige Zeit in seiner Kammer auf und ab, bis er bemerkte, dass er dies nicht aus Bewegungsdrang, sondern aus reiner Gewohnheit tat. Innerlich war er vollkommen ruhig. Wie war das möglich? Müsste er nicht aufgewühlt sein? Vor wenigen Augenblicken war er aufgewühlt gewesen.

Er setzte sich probehalber auf sein Bett und verspürte zu seinem Erstaunen nicht das geringste Bedürfnis, wieder aufzuspringen. Er legte sich hin. Hellwach starrte er die Decke an und glaubte dennoch, bis zur Frühmette hier liegen bleiben zu können, ohne einen Muskel zu bewegen. Auch seine Gedanken, die normalerweise tobten, sobald sein Körper zur Ruhe kam, glichen einem sachten Wogen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er läge auf einem Floß, das einen breiten, trägen Strom hinabglitt. Diese Form der Meditation—die stille Form, bei der die Bewegung einzig im Geist stattfand—war ihm nie leicht gefallen. Mehrere Lehrmeister waren daran verzweifelt und hatten es aufgegeben.[1] Je länger er so dalag, desto entrückter fühlte er sich, bis er schließlich seinen Körper nicht mehr spürte und nur noch aus Gedanken zu bestehen schien.

Er wusste, was er sagen wollte, aber dennoch kamen die Worte ihm nicht leicht. Wenn er nur einen Bruchteil von Pater Johannes' Redegewandtheit besäße! Wenn er die Worte nur so zusammenfügen könnte, dass sie warm und ehrlich klängen!

"Ich danke Dir, Kelemvor, für Deine Gnade. Was Du mir geschenkt hast, ist so groß, dass ich es noch kaum begreife, aber ich werde von nun an alles daran setzen, mich der zweiten Chance, die Du mir gegeben hast, als würdig zu erweisen. Nie wieder sollst Du mitansehen müssen, dass ich in Deinem Namen ein Leben nehme oder mir anmaße, über meine Mitgeschöpfe zu richten. Deine Gebote aber will ich ehren und danach leben, so gut ein Mensch es nur vermag.

Ich danke Dir, mildtätigster Ilmater, für Deine Barmherzigkeit, die so groß ist, dass Du sogar das Leid eines Mörders teilen willst. Du hast mich unter den Deinen aufgenommen, damit ich durch sie Liebe und Vergebung erführe und wieder lernte, was Hoffnung sei. Und auch wenn mein Herz niemals so groß sein wird wie das von Pater Johannes, niemals so unschuldig wie das von Benno, so will ich doch versuchen, es so weit zu öffnen, wie ich es nur vermag, auf dass andere durch mich Anteil an Deiner Güte und Barmherzigkeit nehmen mögen, die ich selbst so reichlich erfahren durfte."


Ein lautes Klopfen an seiner Tür brachte Alaric wieder zu sich. Er wusste nicht, wie lange er so gelegen war und ob er zwischenzeitlich eingeschlafen war oder die ganze Nacht im Gebet verbracht hatte. Die Morgensonne, die durch das kleine Fenster über seinem Bett schien, sagte ihm jedenfalls, dass er die Frühmette verpasst hatte. Das war ihm in seinem Leben zum ersten Mal passiert.



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 1. Nur zur Erinnerung: Alaric hat KEIN still mind, wegen der vows.
« Letzte Änderung: 18.11.2014, 22:13:50 von Alaric Schattenfels »

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