Finsternis
Die kalte, undefinierbare, alles-verschlingende Dunkelheit hatte sie erfasst und hielt sie in ihrem stählernen Griff. Eisern. Gefühllos. Atemraubend.
Sieben Seelen. Erwählt vom Schicksal. Vom Geist der Maschine auserkoren. Dazu verdammt, ihr Leben der Stadt zu opfern.
Doch etwas war falsch. Jemand hatte sich Zugriff verschafft und das
Grim Noria verdorben.
Eine Macht, jenseits der Spiegel.
Das Böse.Das Dunkle Drüben ward gekommen. Und noch bevor die Uhrwerksbrigadiere sich ihrer Bestimmung bewusst wurden, hatte man sie außer Gefecht gesetzt.
'… Und siehe dort, jenseits der Mauer...
… Die Toten scharren in verdorbner Erde...
… Im Schatten, drohend auf der Lauer...“
Raben. Zu Dutzenden versammelten sie sich in den Winden über Mechanika. Überall schossen schwarze Federn hervor. In jeder Gasse hallte das Krächzen grauer Schnäbel...
Eine dunkle Wolke verräterischer Unheilbringer glitt durch die von Blitzen erhellte Nacht über jene Mauern, welche das Volk am Leben erhielten, hinaus in die ewige Verderbtheit des Ödlands.
Jenseits der Reichweitenlinien, nicht weit ab des Brethonn Klammes, hatte sie jemand gerufen.
Verzweifelt krallte sich Kilian Brightmore in den Staub und versuchte, seinen geschundenen, Blut verschmierten Körper von
ihm weg zu ziehen. Das um sich schlingende Feuer der abgestürzten, am Fels geborstenen Himmelsschwert erfüllte die Nacht mit gespenstisch tanzendem Licht, als die Funken an den uralten, toten Ästen und verkümmerten Überresten einstiger Bewaldung leckten und sich langsam ausbreiteten. Der erste Offizier der Kaserne Apostaria, Schildwächter der Eisernen und Verteidiger der Stadt war am Ende und wagte es dennoch nicht, aufzugeben. Er konzentrierte seine schwindenden Sinne und kanalisierte die Qual der todbringenden Wunden, welche seinen geschundenen Körper übersäten. Verfaulter, modriger Geruch biss in seiner Nase, als einer der verstümmelten Thors ebenfalls von dem Feuer ergriffen wurde. Kilian zwang sich unter unendlicher Pein, bei Bewusstsein zu bleiben.
Denn er wusste, es gab Schlimmeres, unendlich Grausameres als den glückseligen Tod am Ende seiner Existenz.
Und deshalb durfte der Schwarze Mann ihn nicht bekommen.
Randall Flagg beobachtete ihn. Seine pechschwarzen, schulterlangen Haare umsäumten die leichenblasse Fratze, welche in dem Licht der züngelnden Flammen gar wahnsinnige, diabolische Züge annahm. Er ließ dem ersten Offizier Zeit. Nur wenige Meter trennten ihm von dem verkrüppelten Mann, doch Flagg verharrte an Ort und Stelle. Er wollte Brightmore Hoffnung geben. Den Schimmer eines Auswegs. Ihn glauben lassen, dass sein Schicksal noch nicht besiegelt wäre.
Denn nichts liebte der Schwarze Mann mehr, als das Entsetzen in den Augen, wenn seine Beute realisierte, dass die letzten Augenblicke ihrer kümmerlichen Existenz aus nichts anderem als bloßen Lügen bestanden hatten. Die Panik, das Adrenalin. Der Wahn.
Köstlich.
Er beschloss voll Vorfreude, dass Kilian Brightmore weiterleben sollte. Zumindest für eine Weile...
Plötzlich verspürte er die Ankunft der Raben und reckte den Kopf nach oben, gleich einer Hyäne, welche den süßlichen Geruch halb vergorenem Aases im Wind erhascht.
Die pechschwarzen Vögel waren gekommen um ihrem Meister zu berichten.
Ein Schwarm aus Federn fegte über den Schauplatz des Massakers hinweg. Krallen gruben sich in erkaltetes Fleisch. Schnäbel bissen, zerrten, rissen. Ein Festmahl für das Unheil. Ein Schmaus für die Verdammten!
Ein Vogel ließ sich sanft auf der Schulter Flaggs nieder. Unheilige, stumme Worte wurden auf eine Art gesprochen, wie es selbst die Altvorderen nicht gewagt hätten, sich zu verständigen. Eine Nachricht, so furchterregend, wie sie überraschend war. Doch das Ende der Erzählung hielt eine Wende für den Schwarzen Mann bereit, welche er sich selbst in seinen kühnsten Träumen von Vernichtung und Teufel nicht hätte ausmalen können.
Randall Flagg begann zu lächeln und eine Stimme, so grausam wie das Wehklagen tausender Schlachtfelder ließ den ersten Offizier, Kilian Brightmore bis ins Mark erzittern.
„Wahrlich überraschend dreht sich der Wind in dieser Nacht, Mister Brightmore. Wundersam, äußerst wundersam.“Und zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf dieser Welt begann er, das Schicksal in Frage zu stellen.
Von Verzweiflung und Heldenmut gepackt, hielt der mutige Offizier in seiner Bewegung inne, ergriff den verborgenen Colt in seinem Stiefel und rollte sich auf dem Boden zur Seite, um den Schwarzen Mann ins Visier nehmen zu können. Unter ohrenbetäubendem Krachen entlud er die sechs einzelnen Kugeln der Waffe, begleitet von einer meterlangen Rauchsäule, direkt in den Oberkörper des Wesens.
Flagg riss den Kopf nach hinten. Ein Wahnsinn erregendes Lachen hallte durch die Einsamkeit der Brethonn Ebene, als er die geschleuderten Patronen mit seinem Körper empfing und die Kugeln, ohne in der Bewegung innezuhalten, direkt durch ihn hindurch glitten.
Ja, heute war eine wahrlich tolle Nacht! Der Schwarze Mann war guter Dinge. So lange war es her, dass er nicht gewusst hatte, was sich hinter dem Horizont vor ihm verborgen hielt! Niemals hätte er sich ausmalen können, dass diese unerwarteten Gegebenheiten, welche seine Wiedererweckung begleiteten, sein Gemüt so sehr erhellen würden. Seine Vorfreude war entfacht.
Oh ja, Kilian Brightmore durfte noch ein wenig weiterleben...
Und seine Schreie würden die Grundfesten Mechanikas erzittern lassen!
"… Genannt der scharze Mann,
… denn Pein war sein Wille,
… Des Drübens Untertan!“