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Autor Thema: Vom Schicksal verweht  (Gelesen 16246 mal)

Beschreibung: Henry und Harry in der Windigen Stadt

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Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #60 am: 01.10.2014, 14:37:14 »
Henry saß schweigend neben ihm, Jurij—ebenso schweigend und dabei immer blasser werdend—ihm gegenüber, und auf jeder Seite ein Polizist. Für einige Minuten ging alles gut und Harry dachte schon: Vielleicht kommen wir ja doch heil an!

Dann stieß ihn der Polizist neben ihm an. "Hör doch endlich mit dem nervigen Brummen auf!"

Harry zuckte zusammen. Der Polizist auch. Der Schlagstock in seinem Holster hatte ein paarmal zischend um sich geblitzt und rauchte nun. Auch aus der Brusttasche des Polizisten quoll Rauch. Auf Deutsch "Ey, was soll denn der Scheiß?" rufend, griff er hinein und zog ein Mobiltelefon heraus, das, kaum an der Luft, sofort Feuer fing. Er warf es zu Boden. Alle außer Harry starrten das brennende Teil an und wussten für eine Schrecksekunde nicht, was tun. Dann griff sich der zweite Polizist mit einem Schmerzensschrei an das linke Auge, welches plötzlich wild in alle Richtungen zuckte und dabei zappende Geräusche von sich gab, bis es mit einem elektrischen Knall stehenblieb, nach oben schielend. Der Polizist öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da schnellte sein rechter Arm plötzlich nach vorn und sein Unterarm begann, sich im Sekundentakt anzuwinkeln und wieder zu strecken, als würde ein Roboter jemanden heranwinken. Mit dem linken Arm versuchte der Mann, den anderen Arm festzuhalten, doch schien im rechten weit mehr Kraft zu stecken. Dann begann auch sein Schlagstock unkontrolliert zu blitzen, sodass der arme Kerl auch noch zu Boden ging.

Ungefähr gleichzeitig tönte ein dumpfer Fluch aus dem Fahrerraum und man sah hektische Bewegungen durch das vergitterte Sichtfenster. Das Gefährt beschleunigte mit quietschenden Reifen und steuerte dabei leicht nach links, es tat einen gewaltigen Rumps, gefolgt von einem Gekratze und Geraschel, als das Auto den mit Büschen bepflanzten Mittelstreifen überfuhr, worauf erst vor ihnen dann ringsum das Gehupe losging, während ein rotes Signallicht über ihnen aufblinkte und eine elektronische Stimme—auf Deutsch, aber trotzdem für alle verständlich—unermüdlich wiederholte: Kollisionsalarm. Kollisionsalarm. Kollisionsalarm", bis sie immer langsamer und dumpfer wurde und schließlich quäkend verreckte.

Was den Polizisten in diesem Tohuwabohu entging, aber sowohl Henry als auch Jurij auffiel: dass bei jedem einzelnen dieser Technikausfälle Harry stets eine halbe Sekunde vor den anderen Insassen zusammenzuckte.

"Manuelle Steuerung! Manuelle Steuerung!" brüllte der Fahrer derweil und hieb verzweifelt auf irgendwelche Armaturen ein. Dann tat es einen gewaltigen Schlag, alle wurden nach vorne geschleudert, und das Gefährt stand.

Das einzige, was noch funktionierte, war die Hupe.
« Letzte Änderung: 01.10.2014, 14:51:05 von Harry Webster »
My name is Harry Aleister Mulholland Webster. Conjure by it at your own risk.

Paranoid? Probably. But just because you're paranoid doesn't mean that there isn't an invisible demon about to eat your face.

Jurij Klee

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #61 am: 01.10.2014, 16:18:40 »
Sie hallte in einem unaufhörlichen Ton hinaus. Vielleicht war die Funktion der Hupe eingefroren oder etwas lag auf der Taste. Egal, sie hörte nicht auf.

So ging das leise Stöhnen der Insassen im hinteren Teil fast unter. Zum Glück saßen alle seitlich zur Fahrtrichtung. Sonst lägen sie alle nun auf einen Haufen. So jedoch sah es nur auf einer Seite ziemlich ungemütlich aus. Harry war zwischen Henry und dem Polizisten neben ihm eingeklemmt. Auf der anderen Seite hatte Jurij unsanft Bekanntschaft mit der Trennwand machen müssen. Der Polizist der neben ihm gesessen hatte, lag bewusstlos am Boden zu seinen Füßen. Zum Glück hatte der bionische Arm des Mannes aufgehört zu zucken.

Jurij schlug die Augen auf. Außer dem Polizisten am Boden schienen die anderen drei wie er bei Bewusstsein zu sein und ziemlich unverletzt. Gerade als er fragen wollte, was passiert sei, weitete er seine Augen und biss die Zähne zusammen. Mit der rechten Hand versuchte er die aufflammenden Schmerzen zu kanalisieren. Er krallte sich in das nächst beste was er fand, seine eigene Tasche. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht, blickte er zu Harry. Was hatte er nur getan? Sein Körper fühlte sich an, als würde er zerrissen und gleichzeitig von tausend Nadeln malträtiert werden. Er konnte nicht einmal Schreien, so sehr verkrampfte er gerade. Langsam beugte sich der Junge vor Schmerzen nach vorne, rutschte dabei vom Sitz und landete neben dem Polizisten am Boden. Kaum war er auf dem Boden begann die Luft um seinen Körper an zu flimmern, so wie eine Straße bei großer Hitze. Der sitzende Polizist, sprang auf und wollte Jurij zur Hilfe kommen. Doch seine Finger glitten durch den Jungen durch. „Was zur Hölle?!“ rief er in Deutsch aus, während Jurijs Körper immer mehr schwand, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.

Das durchgehende Geräusch der Hupe endete und die Wagentüren wurden aufgemacht. „Kommt raus ... Go out.“ ertönte eine Männerstimme. Es war ein Polizist der seine Hand hinein streckte. Sie hatten den Unfallort ziemlich schnell erreicht. Die Frau neben ihm, sah jedoch nicht sehr hilfsbereit aus. Sie hatte die Arme verschreckt und blickte eher Tadelnd in den Wagen.

Ihre Augen hatte dasselbe Gold wie der Polizist von vorhin.
Wenn du etwas machst, mache es mit jeder Faser deiner Selbst. -Status-

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #62 am: 01.10.2014, 16:43:55 »
"Oh-oh, there he goes", murmelte Harry zu Henry, als Jurij sich auf dem Boden zusammenkrümmte. "So I was right, it was a pickup."

Und dann war der junge Mann auch schon verschwunden—nach einem letzten, panischen Blick in Richtung Harry—und ein Polizist befahl ihnen, auszusteigen. Und Harry fand sich zum zweiten Mal an einem Tag Auge in Auge mit einem goldenen Drachen, und sie sah gar nicht erfreut aus.

"It wasn't my fault", sagte Harry. "I did try to tell them I had better walk to the station, and when they wouldn't let me, I meditated and everything..."

Die Polizistin, die übrigens keine Uniform trug, sondern ein Outfit, das Harry an die MIB erinnerte, zückte ihren Ausweis, hielt ihn ihrem uniformierten Kollegen unter die Nase und sagte:

"Die beiden übernehmen jetzt wir. Kümmern Sie sich um ihren verletzten Kollegen. Vergessen Sie, dass Sie die beiden hier gesehen haben."
« Letzte Änderung: 01.10.2014, 16:47:35 von Harry Webster »
My name is Harry Aleister Mulholland Webster. Conjure by it at your own risk.

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Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #63 am: 01.10.2014, 16:54:48 »
Zu Gast bei Familie Chang

Und zu Harry sagte die Polizistin: "Shut up!" Was dieser auch tat. Sie nickte zufrieden.

"Chang Jiang-Li", sagte sie. "Folgt mir."

Und so führte die Polizistin mit den goldenen Augen Henry und Harry ein ganzes Stück von der Unfallstelle entfernt zu einer kleinen schwarzen Limousine, bei deren Anblick Harry die (bernsteinfarbenen) Augen übergingen, ganz zu schweigen von der Kinnlade, die ihm auf die Brust fiel, und den Beinen, die nicht mehr weiter wollten, weil seine Knie plötzlich butterweich waren...[1]

Henry begriff die Welt nicht mehr: sie hatten sich in eine Schlägerei zwischen Polizei und jugendlichen Aufrührern verwickeln lassen, waren von der Polizei folgerichtig—was, verhaftet?—worden, hatten einen Unfall gehabt, an dem Harry irgendwie schuld war, ein weiterer Mensch war vor ihren Augen verschwunden, sie selbst könnten auch jeden Augenblick in sonst eine fremde Dimension entrissen werden—und Harry starrte dieses seltsame Kutschengefährt an, als tanzten zehn nackte Weiber vor ihm.

(Woher dieser Vergleich kam, noch dazu in einem derart gehässigem Unterton, konnte Henry sich nicht erklären. Er verdrängte ihn schnell.)

Harry hatte derweil zwei Schritte auf das Auto zugetan. Und noch zwei. Und abermals. Dann war er heran.

"May I?" fragte er schüchtern, eine Hand in Richtung des vorderen Kotflügels erhoben. "I'll be gentle..."

Chang Jiang-Li zuckte mit den Achseln und schaute sich nach ihrem Partner um, der beim Unfallwagen zurückgeblieben war, um sich von den Streifenpolizisten noch kurz den Hergang schildern zu lassen.

Harry strich erst mit der einen Hand sanft über den Kotflügel, dann mit beiden, wobei er leise Laute der Wollust ausstieß. Viel zu schnell war Changs Kollege da und Harry wurde angeherrscht, doch endlich einzusteigen. Fast noch schwieriger allerdings, war Henry dazu zu überreden, noch einmal in ein solches Höllengefährt einzusteigen, bis Harry ihm schließlich versicherte: "Du brauchst dir echt keine Sorgen zu machen. Das ist ein vintage car. Völlig ohne Elektronik! Baujahr, was, '55? '52?"

"'51", sagte die Jiang-Li, gab Henry noch einen leichten Schubs und schlug die Tür hinter ihnen zu.

Die Ankunft

Das Anwesen der Familie Chang lag am äußersten Rand des Regierungsviertels. Es war von einem 5m hohen Zaun mit Stacheldrahtzinne und einem 100m breiten Rasenstreifen umgeben, auf welchem Wach- und Dobermänner patrouillierten. Ansonsten war es aber ein gewöhnliches, neunstöckiges Wohnhochhaus, das von außen sogar eher den Flair "gehobener Sozialbau" ausstrahlte. Von Innen wiederum sah die Sache völlig anders aus.

Die Eingangshalle, die Henry und Harry im Gefolge von Chang Jiang-Li betraten, war holzgetäfelt, ebenso der breite Flur, der geradewegs in die Mitte des Gebäudes führte, wo sich eine enorme Wendeltreppe in die Höhe wand. Als sie diese erreichten, stand beiden bereits der Mund vor Staunen offen. Die chinesischen Schriftzeichen, die als Intarsien im Treppenhaus wie in der Eingangshalle rundum und im Flur auf ganzer Länge und zu beiden Seiten in den Wanden eingelassen waren: konnte das alles echtes Gold sein? Die Drachenstatuen etwa auch, die jeden Torbogen flankierten? Und deren Augen: waren das echte Smaragde?

Jiang-Li führte die beiden die Wendeltreppe hoch und erklärte dabei, dass sich auf jedem Stock außer dem vierten und den beiden obersten jeweils fünf Wohnungen—alle bis auf drei zurzeit belegt von diversen Familienmitgliedern—und ebensoviele Gästezimmer befänden. Das Gebäude besaß offenbar einen pentagonförmigen Grundriss. Harry spürte sofort, dass die magischen Ströme hier besonders harmonisch flossen, man konnte schon sagen: in wohlgeordneten Bahnen verliefen. Auf dem vierten Stock legte Jiang-Li eine Pause ein, ihren schnaufenden Gästen zuliebe. Also gut: dem schnaufenden Harry zuliebe.

"Hier befindet sich die Bibliothek", erklärte Jiang-Li, "sowie Klassenräume und ein kleines Kino mit abgeschirmtem Projektor, das täglich drei Vorstellungen zeigt. Wünsche bitte dort auf der Liste eintragen."

Was immer ein 'Kino' und ein 'abgeschirmter Projektor' sind, dachte Henry, aber Harrys nächster Kommentar klärte dies auf.

"Da kannst du zum Beispiel Deine Lieblingsstücke von Shakespeare eintragen."

Aha. Kino ist wohl die heutige Variante von Theater. Ich erinnere mich, dass Harry so etwas mal erwähnt hatte—vor drei Jahren.

"Vielleicht ebenfalls für Euch von Interesse", fuhr Jiang-Li fort, und zwar mit Blick auf Harry, der noch immer nicht ganz bei Atem war, "wären die Gemeinschaftsräume im Keller. Dort finden sich ein Fitnessraum, Schwimmbad, sowie verschiedene Sport- und Kampfsportarenen, von Tischtennis über Volleyball bis hin zur Kegelbahn." Bei letzterem rümpfte sie ein wenig die Nase. "Im Prinzip habt Ihr überall Zugang. Nur die beiden obersten Stockwerke sind für Euch Tabu, und zwar bei Todesstrafe." Das sagte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Dann ging's weiter in den siebten Stock hinauf, wo Henry und Harry dankbar die beiden Zimmer, die Jiang-Li ihnen gleich bei der Treppe zuwies, in Beschlag nahmen. (Sie wagten es kaum, die Treppe hinaufzuschielen, die in das achte und somit schon verbotene Stockwerk führte.) Ihre Zimmer waren relativ groß, etwa fünf auf fünf Schritt. Ebenso dankbar nahmen sie auch Jiang-Lis Einladung an, ihnen das zentrale Badezimmer des Stockwerks zu zeigen, "falls Ihr Euch erst einmal frisch machen wollt."

In dem riesigen, türkis-gold-grün gekachelten Badezimmer waren rundum verschiedenste Düsen und Duschköpfe an der Wand angebracht, die Armaturen allesamt aus Gold, während in der Mitte verschieden große Becken wahlweise zum Schaumbad oder zum Schlammbad einluden. Jiang-Li versorgte die beiden noch mit Seife, Handtüchern und Bademänteln und empfahl ihnen, Rüstung und Kleidung einfach liegen zu lassen, es kümmere sich jemand um deren Reinigung. Dann zog sie sich zurück, ein späteres Gespräch in ihrem "Salon" in Aussicht stellend.

Henry und Harry sahen sich einen Augenblick lang sprachlos an, dann grinsten sie.

"Pass nur auf, es könnte alles ein wenig zu heiß für dich eingestellt sein", warnte Harry den Freund und zeigte ihm, wie er die Temperatur herunterregeln konnte.

Tatsächlich war Henry schon aufgefallen, dass es in diesem Gebäude allgemein eher unangenehm warm war, bestimmt ebenso warm wie draußen in der Sommerhitze, was man von einem großen Steingebäude wie diesem ja nicht erwarten würde. Harrys Tip erwies sich dann auch als goldrichtig; Henry musste den Hebel ordentlich in Richtung "Blau" verstellen, damit er die Wassertemperatur ertrug. Harry dagegen stellte sich einfach so unter den Strahl, obwohl das Wasser derart heiß war, dass es Harry trotz der hohen Zimmertemperatur in eine Nebelwolke hüllte.

Aber wenn Henry dachte, das alles wäre schon sehr merkwürdig, so sollte der eigentliche Schock erst noch kommen. Die beiden hatten soeben fertiggeduscht und waren dabei, sich abzutrocknen, da betrat eine Traube aus fünf jungen Mädchen den Raum, entledigten sich ihrer Bademäntel völlig ohne Scham—wohl aber mit neugierigen Blicken in Richtung der Gäste und auch einigem Kichern—und gingen dann ihren diversen Badevergnügen nach. Ob Harry dabei auch rot wurde, ließ sich nicht feststellen—durch das heiße Wasser war er am ganzen Körper krebsrot—jedenfalls warf er sich ebenso eilig in seinen Bademantel wie Henry und verließ das Zimmer nur einen Schritt hinter ihm.

Tee und Plätzchen

Jiang-Lis Salon strahlte, wie der Rest des Hauses, eine fernöstliche Atmosphäre aus: spärlich möbliert, niedrige Esstische mit Sitzkissen davor, mit Seidenstoffen bespannte Raumteiler, Zimmerbambus und Bonsaibäumchen, große Fenster, und überall standen Figürchen aus bemaltem Porzellan und Statuetten aus Gold oder Jade herum, die manchmal Menschen, manchmal Drachen, manchmal etwas dazwischen darstellten.

Das Gespräch mit der Gastgeberin verlief relativ angenehm—fand Henry. Außer ihr war nur noch ein weiterer Bruder, den sie als Guan-Yin vorstellte, und ihr Vater Chang Yan-Tao anwesend. Anders als die sehr authentisch chinesische Inneneinrichtung waren die drei Changs, sowohl in ihren Gesichtszügen als auch der Wahl ihrer Kleidung, von eher gemischtem Aussehen: halb europäisch, halb asiatisch. Guan-Yin war sogar blond, auch wenn er eine blau-gelbe Seidenrobe trug, deren Ärmel bis zum Boden reichten, und dazu, als einziges Zugeständnis an den westlichen Dresscode, eine weiße Krawatte (mit diamantbesetzter Krawattennadel).

Man plauderte zunächst über dies und das, bis Henry sich immer mehr entspannte und auch Harry, dessen erste Reaktion, als er sich plötzlich mit drei Changs in einem Zimmer konfrontiert sah, ein erneuter "Katzenbuckel" war, konnte dazu überredet werden, mit einer Pobacke auf dem vordersten Ende des Sessels gleich neben der Tür Platz zu nehmen.

Es gab Ingwerplätzchen zu Jasmintee. Harry nippte nur am Tee und biss einmal in ein Plätzchen. Henry langte zumindest bei dem Backwerk ordentlich zu und lobte es vielmals, was mit viel Lächeln aufgenommen wurde und den bescheidensten Beteuerungen, dies sei leider noch gar nichts im Vergleich zu den Plätzchen von Urgroßmutter Wei-wei.

Dann kam das Gespräch auf das Wie, Woher und Warum. Woher kamen sie? Was wollten Harry und Henry in Berlin? Wie lange würden sie bleiben? Wie waren sie hierhergekommen? Auf all diese Fragen antwortete Harry erstaunlich freimütig und direkt, worauf Henry, sich auf Harrys Instinkt verlassend, ebenso freimütig von seiner Zeit auf Sankturio erzählte. Die drei Changs waren exzellente Zuhörer, wussten aber leider auch keine neuen Erkenntnisse beizusteuern, was da wohl mit den beiden geschah.

"Da müsstet Ihr Euch an Sima Qian wenden", sagte Vater Chang Yan-Tao. "Wenn einer etwas darüber wissen könnte, dann er. Er spricht allerdings nicht mit jedem. Aber vielleicht habt Ihr Glück und er interessiert sich für Euch und Eure Geschichte. Ich werde ihn, wenn Ihr erlaubt, bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen."

Zum Schluss bot er ihnen noch die Gastfreundschaft der gesamten Familie auf, so schien es, unbegrenzte Zeit an. "Ihr dürft so lange bei uns als verehrte Gäste wohnen, wie Eure Geschäfte Euch in Berlin halten. Fühlt Euch bei uns ganz wie zuhause."

Jiang-Li übersetzte, was ihr Vater wirklich damit meinte: "Entweder, Ihr logiert hier bei uns, wo wir ihn im Auge behalten können", mit einem Kopfnicken bedeutete sie Harry, "oder Ihr verschwindet aus unserer Stadt."

Henry, dem Harrys seltsames Gebaren seit der Szene am Fluss allmählich zu viel wurde, fragte leicht gereizt: "Würde endlich mal einer die Güte besitzen, mir zu erklären, was hier eigentlich los ist?"

"Wir mögen keine Roten", sagte Guan-Yin.

Harry entblößte nur die Zähne.

Ein Tag in der Vergangenheit

"Lass mich sehen, ob ich das richtig verstehe", eröffnete Henry am nächsten Morgen das Frühstücksgespräch in der Gästeküche. "Es geht hier um rivalisierende Zaubererclans. Die Changs nennen sich die 'goldenen Drachen' und deine Familie, die Marcones, nennen sich die 'roten Drachen' und aus irgendeinem Grund, der so weit zurückliegt, dass sich kein Lebender mehr daran erinnert, seid ihr Erzfeinde?"

"Hm, ja, so ungefähr", sagte Harry zwischen zwei Löffelvoll von etwas, das er "fruit loops" nannte, das aber keinerlei Früchte enthielt. "Wobei 'Erzfeinde' jetzt übertrieben wäre. Wir können uns einfach nicht riechen. Deshalb haben wir die Welt unter uns aufgeteilt, und so lange wir Roten in Amerika bleiben und die Goldenen in China, ist alles OK. Obwohl Europa zu meiner Zeit auch noch 'zu uns' gehörte. Ich wüsste wirklich zu gern, was da passiert ist."

Dass Harry damit mehr als nur die uralte, halb vergessene Fehde zwischen goldenen und roten "Drachen" meinte, sondern vielmehr an das dachte, was er in der Seele des jugendlichen Aufrührers am Fluss gesehen hatte, erkannte Henry (der im Bilde war) an Harrys entsetzt-besorgter Miene.

"Dann lass uns die Bibliothek hier im Haus ausprobieren und es herausfinden", sagte Henry entschlossen. "Ich habe ja auch noch an die 430 Jahre irische Geschichte aufzuholen."

"Und all die Shakespeare Werke, die dieser nach Deinem Sphärensprung geschrieben hat!" sagte Harry, dankbar dafür, dass der Freund das Offensichtliche vorschlug, was er selbst womöglich noch Tage hinausgezögert hätte—aus Angst vor der Wahrheit. Er beeilte sich mit seinen fruit loops.

Die Bibliothek im vierten Stock war gewaltig. Sie nahm fast das halbe Stockwerk ein, war dabei aber ein einziger Raum, von Marmorsäulen gestützt, mit deckenhohen Bücherregalen gefüllt. Dazwischen gab es immer wieder kleine Sitzgruppen mit Pulten, an denen aber zurzeit niemand saß. Ihre Schritte wurden von dicken Teppichen gedämpft, während ihre Blicke von den kristallenen Kronleuchtern angezogen wurden, die einer Staatsoper oder eines Königspalastes würdig gewesen wären und die ohne Strom (den gab es im ganzen Haus nicht) und ohne Kerzen strahlten. Natürlich standen auch wieder goldene Drachenstatuen herum, viele kleine und eine gewaltige in der Mitte des Raumes, letztere mit Rubinaugen und Diamantzähnen und diversen anderen Edelsteinen am Leib.

Und es gab bestimmte eine Millionen Bücher. Aber keinen Index und keinen Bibliothekar. Die Gänge und Regale waren nur numeriert (in chinesisch noch dazu), und trugen keinerlei Hinweise auf die Themen. Nachdem die beiden eine Weile ratlos umhergeirrt waren, wandte Harry sich einfach an den einzigen Anwesenden, der sich außer ihnen hier befand: die riesige Drachenstatue.

"Ehrwürdiger Meister", sagte er auf Drakonisch. "Wir suchen Werke zur irischen Geschichte der letzten vierhundert Jahre und zur amerikanischen der letzten 30 Jahre, und nicht zu vergessen: ein Gesamtwerk von Shakespeare."

Die Drachenaugen leuchteten auf, der Mund mit den Diamantzähnen bewegte sich und auch sonst sah die Statue auf einmal verstörend lebendig aus, als sie den beiden in einer tiefen, sonoren Stimme und auf Englisch, wenn auch mit chinesischem Akzent, die Gänge und Regalfächer benannte, in denen sie fündig würden.

"I thank you most humbly, revered master", sagte Harry.

"Your Resplendence", korrigierte der Drache.

"I beg your forgiveness, your Resplendence", sagte Harry.

Worauf Henry ihn ein wenig verzweifelt ansah. Dass er in einem Haus mit Zauberern wohnte, das war ihm klar und damit kam er klar, wenn er möglichst wenig daran dachte. Aber Drachen?

"Sag, ihr seid nicht wirklich Drachen, oder?" fragte er. "Ihr nennt euch nur so?"

"Genau, wir nennen uns nur so", bestätigte Harry. "Alles andere wäre zu lang oder zu kitschig."

Und so stöberten sie den Rest des Tages in der Geschichte ihrer jeweiligen Heimatländer. Nach kürzester Zeit war Henry sprachlos vor Entsetzen. So viel Krieg und Gewalt, und Armut und Hungersnot noch dazu! Und Bomben gegen Zivilisten! In der komprimierten Zusammenfassung musste dies alles natürlich noch drastischer, noch erschreckender wirken, das war ihm klar, aber dennoch... Die Probleme, mit denen man sich in Irland schon zu seiner Zeit herumgeschlagen hatte, die waren offenbar in 415 Jahren nicht gelöst und vor ungefähr zehn Jahren dann auch bloß quasi unter den Teppich gekehrt worden. Neben sich hörte er Harry verzweifelt murmeln: "Civil war, seriously? You'd think they'd figured out the first time around what a bad idea that was!"

Abends waren sie blass und erschöpft und zu kaum einem klaren Gedanken fähig. Beide schworen sich jedoch, egal wie lange sie hier in Berlin bleiben würden, nicht weiter in der Vergangenheit zu stöbern.

Sima Qian[2]

Harry und Henry blieben also im Haus der Familie Chang und ließen es sich, so weit möglich, gut gehen. Die Zeit verging, erst Tage, bald schon Wochen. Die beiden mieden die geschichtliche Abteilung der Bibliothek und machten auch nur wenige Ausflüge in die Stadt außerhalb des hohen Zaunes. Henry hätte eigentlich ganz darauf verzichten können, aber Harry drängte darauf, dass er hin und wieder "hier raus" musste, um seinen "Adrenalinspiegel wieder etwas runterzukriegen."

Ausnahmsweise bedurfte Henry keinerlei Erklärung, was das sei. In der Stadt schien der Freund regelrecht aufzuatmen, ging aufrecht, mit beschwingtem Schritt, während er im Hause Chang die ganze Zeit mit eingezogenem Kopf durch die Gänge schlich. Bei dem kleinsten Geräusch und bei jeder aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Bewegung zuckte er zusammen, und mehr als ein männlicher Chang sollte ihm besser nicht auf einmal begegnen. Bei Frauen dagegen schien die Schmerzgrenze deutlich höher: erst vier oder fünf machten ihn nervös.

Und so lernten die beiden nach und nach die gesamte (sehr weitläufige) Familie kennen: zunächst in Dreiergruppen, dann paarweise, später traten auch Einzelpersonen an sie heran und suchten das Gespräch oder den sportlichen Wettbewerb. Offenbar wurde Harry nach und nach als immer "harmloser" eingestuft, bis man schließlich sogar den Kindern erlaubte, mit den Gästen zu spielen. Und die Kinder, die schienen für Harry nun gar kein Problem zu sein. Da konnten zehn oder mehr auf einmal auf ihn einstürmen und er lachte nur und balgte sich mit den Jungs (erstaunlich ruppig, aber ihnen gefiel es!) und packte die Mädchen an den Fußknöcheln und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie jauchzten.

Henry wurde auch eingespannt und lernte binnen kürzester Zeit die wichtigsten Kommandos auf Deutsch, Chinesisch und auch in dieser etwas fauchig klingenden Sprache, in der Harry und die Kinder sich zu unterhalten schienen: "Schneller, schneller! und "Nochmal! Nochmal! oder auch: "Höher!" Und wenn die Mütter riefen, dann konnte das folgende Gebrabbel eigentlich nur heißen: "Aber Mama, ich hab doch noch gar keinen Hunger, ich muss noch gar nicht zum Mittagessen kommen!"

Überhaupt wurde es Henry und Harry in den ersten Wochen nicht langweilig. Henry war erst einmal froh, sich von den auf Sankturio erlittenen Strapazen erholen zu können. Das Kino probierte er gern und häufig aus, obwohl die ganzen Shakespeare "Filme" für seinen Geschmack äußerst befremdlich inszeniert waren. Aber die Texte waren wenigstens original. Er litt auch, Harry zuliebe, durch alle drei Star Wars Filme (welche dieser: "the original trilogy" nannte) und durch zwei Spider-Man Filme. Und als er nach anderthalb Wochen eine Rastlosigkeit in seinen Gliedern verspürte, nahm Henry das Kampftraining im Keller des Hauses auf, wozu er unter den Changs zu nahezu jeder Tages- und Nachtzeit willige Partner fand. Und weil Harry von sich aus keinerlei Anstalten machte, sich körperlich zu betätigen, stellte Henry entschlossen auch für ihn ein Trainingsprogramm zusammen und unterwies ihn eigenhändig in den Grundlagen des Stockkampfes. "Wenn du schon so etwas mit dir herumträgst", wischte er Harrys Protest beiseite, "solltest du auch wissen, wie man es richtig benutzt."

In ihrer Tagesgestaltung waren die beiden also völlig frei, an den Abenden aber wurden sie im ganzen Haus herumgereicht, und zwar ordentlich der Reihe nach, vom 7. Stock Wohnung für Wohnung bis in den 1. Stock hinab, und nach 27 Abenden fing es wieder oben an. Es wurde reichlich aufgetischt: Speisen, die Henry noch nie gesehen hatte, von einer Vielfältigkeit, die er ebenfalls nicht kannte, und man durfte nicht mit den Fingern essen, sondern musste so komische Holzstäbchen benutzen. Die Kinder lachten, weil Henry und Harry sich damit so ungeschickt anstellten, und zeigten ihnen, wie es richtig ging. Nach dem Essen wurde geplaudert, meist bei Karten- oder Brettspielen, die so seltsame Namen trugen wie: Xiangqu, Mahjong, Weiqi oder aber Dou di zhu, Da Lao Er, Zheng Fen, Zheng Shangyou und Guan Dan.

Während der ersten 27 Tage hofften die beiden jeden Abend erneut, nun endlich diesem "Sima Qian" vorgestellt zu werden, doch dann waren sie einmal durch alle Wohnungen durch und hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.

Das mochte erklären, warum Harry allmählich unruhig wurde, denn anders als Henry erhoffte er sich tatsächlich noch Antworten auf das "Wie" und "Warum" ihrer Situation. Das konnte es aber nicht sein, was Henry in der Seele rastlos machte. Zunächst lenkte er bei ihren Stadtgängen ihre Schritte immer häufiger in eine der protestantischen Kirchen, wo er das stille Gebet oder auch gelegentlich das Gespräch mit einem Pastor suchte—obwohl weder deren Englisch noch deren Latein flüssig genug war, um ein wirklich tiefgehendes Gespräch über den Glauben zu führen; im Ernst: da konnte man mit Harry besser reden, sowohl über den Glauben als auch auf Latein. Das taten sie dann auch öfters: letzteres zum Spaß, ersteres, weil es Henry ein echtes Bedürfnis war. Dabei stellte sich heraus, dass Harry nur die gröbste Vorstellung davon besaß, wofür der christliche Glaube überhaupt stand, und dass er nicht einmal das Neue Testament "ganz durchbekommen" hat, während er beim Alten Testament gar schon "im ersten Drittel stecken geblieben" war.

"Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass Pharaoh einen Traum hatte von sieben hübschen, fetten Kühen, die aus dem Nil auftauchten und Gras fraßen. Dann tauchten sieben hässliche, magere Kühe auf und fraßen die hübschen, fetten. Dann wachte Pharaoh auf."

"Genesis 41", sagte Henry und verdrehte die Augen. "Das heißt bei dir: das erste Drittel?"

"Ich stecke noch im ersten Drittel, habe ich ja nur behauptet", verteidigte Harry sich ohne Anzeichen von Reue.

Also ordnete Henry eine allmorgendliche Bibellesung an. Die Begierigkeit, mit der Harry zustimmte und auch Henrys Erläuterungen lauschte und danach von sich aus das Gespräch suchte, versöhnte diesen wieder mit dem Unwissen und heidnischen Vorstellungen des Freundes—offenbar war bei ihm Hopfen und Malz noch nicht gänzlich verloren. Zudem linderten diese Gespräche auch die Rastlosigkeit, die Henry ergriffen hatte, obwohl es sie nicht heilte. Besonders abends, wenn er schon im Bett lag und auf den Schlaf wartete, spürte er, dass ihn etwas weiterzog, dass er es hier nicht mehr lange würde aushalten können...

Henry war dabei nicht der einzige, der sich um Harrys Seelenheil Gedanken machte. Auch verschiedene Mitglieder der Familie Chang verwickelten letzteren immer wieder in Gespräche über den richtigen Einsatz von Magie zum Wohle der Gesellschaft und zum Schutz von Recht und Ordnung. (Eigentlich waren es mehr Predigten denn Gespräche.) Wenn sich diese zu lange hinzogen, konnte Harry ungehalten, bissig oder gar richtig laut werden. "Ich brauch echt von euch keine Nachhilfe in Sachen Moral. Dankeschön, aber soviel krieg ich ganz allein hin, egal wie rot mein Blut ist!"

Die Changs ließen sich keinesfalls beirren, und als sie Harry fragten, wie es denn mit "Nachhilfe in Sachen Magie" stünde, lehnte er nicht ab.

~~~

Und so blieb Henry am nächsten Vormittag nach der Bibellesung, und so ganz ohne abschließendes Gespräch, allein in der Bibliothek zurück und wusste nicht so recht, was mit sich anfangen. Er las noch ein wenig weiter, aber fand keine Ruhe. Da kam ihm die Idee, dass er sich doch einmal über Zauberer, "Drachen" und diese ganzen magischen Belange ein wenig schlau machen könnte. Ja, eigentlich schuldete er es Harry inzwischen sogar, allein schon um zu verstehen, weshalb dieser glaubte, sein Familienerbe allein nähme ihn vom christlichen Heilsversprechen aus. Henry trat also an die riesige Drachenstatue in der Mitte der Bibliothek heran und fragte, unter der Verwendung der Anrede: "Your Resplendence", wo er Abhandlungen für den Anfänger fände, die über gute und schlechte Magie aufklärten, sowie über die beiden Drachenfamilien und deren Fehde.[3]

Henry wartete eine ganze Weile auf Antwort, doch die Statue regte sich nicht und sagte auch nichts, obwohl er das Gefühl hatte, auch wenn die Rubinaugen nicht aufleuchteten, dass sie ihn ansahen.

"Was ist?" fragte er herausfordernd. "Habt Ihr etwas zu verbergen? Oder warum darf ein Nichtzauberer wie ich Eure geheimen Bücher nicht lesen?"

Die Drachenstatue blieb stumm.

Enttäuscht wandte Henry sich zum Ausgang. Er hatte die Türklinke schon in der Hand, da hielt ihn eine aufgeregte Greisenstimme auf.

"Verzeiht, ich kam nicht umhin", krächzte der Alte atemlos; offenbar war er Henry ein ganzes Stück nachgeeilt, "mitanzuhören, dass Ihr Fragen über Magie und über uns Drachen habt. Nun, die wenigsten Bücher in unserer Bibliothek zu dem Thema sind auf Englisch—bei Latein könnten wir etwas mehr Glück haben, aber das wären dann doch sehr veraltete, teils auch sehr fehlgeleitete Werke. Südeuropa und Teile von Nordafrika standen bis vor wenigen Jahren unter dem Einfluss der Roten, und niemand kann die Wahrheit so herrlich verdrehen wie diese Burschen! Die einzig verlässlichen Werke sind entweder auf Chinesisch oder Drakonisch, deshalb konnten wir Euch nicht weiterhelfen. Aber ich antworte gern direkt auf Eure Fragen."

Der alte Mann schien von allen Bewohnern dieses Hauses, soweit Henry das beurteilen konnte, der einzige echte Chinese zu sein. Klein und drahtig, in bodenlangen, mit Schriftzeichen bestickten Seidenroben und runder Kappe auf dem Kopf, mit dünnen weißem Schnurrbart und weißem Zopf, mit Schlitzaugen, Lächeln, und höflich-bescheidener Körperhaltung.

"Wollen wir uns setzen?" fragte der alte Chinese und zeigte einladend auf die nächstgelegene Pultgruppe.

Als sich der alte Mann drei Stunden später erhob und mit Bedauern verabschiedete, hätte Henry nicht sagen können, über was sie alles gesprochen hatten. Das heißt, er selbst hatte zunäch nur sprachlos zugehört. Was der alte Mann alles zu erzählen hatte! Aus China hatte er berichtet, nicht dem modernen, sondern dem alten China, noch vor christlicher Zeitrechnung. Er hatte so lebendig davon erzählt, dass Henry sich fast dorthin versetzt gefühlt hatte, obwohl er doch so gar nichts darüber wusste. Dann hatten sie über Recht und Ordnung, Gerechtigkeit und Strafe, über Sünde und Versuchung, Reue und Vergebung, über Tugend und Ehre, und, und, und... gesprochen. Und obwohl Henry sich in diesem Gespräch tapfer schlug, fiel ihm manchmal die Kinnlade herunter oder seine Augen weiteten sich vor Entzücken. In seinem ganzen Leben war ihm noch kein so gelehrter und dabei so weiser Mann begegnet. Für jede halbe Stunde ihres Gespräches würde Henry nun eine ganze nachdenken müssen, um auch nur halbwegs die Bedeutung und Tragweite von dessen Aussagen zu erfassen.

Am nächsten Vormittag, kaum dass Harry sich in seine "Nachhilfe" verabschiedet hatte, setzte sich der alte Chinese wieder zu Henry. Diesmal sprachen sie über die verschiedenen Arten von Magie.

"Zu meiner Zeit galt Magie entweder als schwarz oder als weiß", sagte er. "Weiß, wenn sie heilsam, beschützend oder stärkend war; schwarz, wenn sie schädigte, verseuchte oder versklavte. Heutzutage schreckt man ja vor solch klaren Unterscheidungen zurück, redet gerne von 'Grautönen.' Papperlapapp! sag ich. Wenn man einmal damit anfängt! Dann wird aus grau schnell dunkelgrau, und aus dunkelgrau ist noch schneller schwarz geworden! Euer Freund ist auch so jemand, der sich auf der sicheren Seite fühlt, solange er nur hin und wieder mal einen grauen Zauber wirkt, für einen guten Zweck, wo's doch nicht anders geht! Aber Magie hat ihren eigenen Kopf. Magie ist wie ein lebendiges Wesen und, wie alle Lebewesen, gierig. Wenn es an einer Sache Geschmack findet, will es immer mehr davon. Zuviel Grau verdichet sich zu schwarz. Er soll sich nur vorsehen, Euer Freund!"

Am dritten Tag sprachen sie dann über Geschichtsschreibung und die doppelte Verantwortung eines Historikers und welche davon größer sei: die gegenüber seinen Zeitgenossen oder die gegenüber der Nachwelt. Am vierten Tag, als Henry schon allmählich den Verdacht gewann, der alte Mann ginge dem Thema aus dem Weg, sprachen sie endlich über Drachen.

Doch wenn Henry sich neue Erkenntnisse oder Einsichten erhofft hatte, so enttäuschte der alte Chinese ihn zum ersten Mal—vielleicht verständlicherweise. Er war schließlich kein neutraler Beobachter, sondern selbst ein goldener "Drache". Da durfte es nicht verwundern, dass er die Schuld an ihrer jahrtausendalten Fehde eindeutig auf Seite der Roten sah. Mehr noch: er beschuldigte die Roten, sich seit eh und je jeglicher Mittel zu bedienen, um zu Macht und Reichtum zu gelangen, von allen nur denkbaren Arten des Verbrechens bis hin zu schwarzer Magie.

An dieser Stelle musste Henry an seine Begegnung mit Harrys "Auntie Trish" denken und was dieser über sie gesagt hat: größenwahnsinnig vielleicht...

"Ich habe doch keine Lust mehr, über Drachen zu reden", sagte Henry. "Und überhaupt seid Ihr mir bei all dem viel zu schnell dabei, Harrys Seite zu verteufeln und die Eure in den Himmel zu loben. Ich habe ihn noch nichts Böses tun sehen, und Euch noch nichts Gutes."

Vielleicht wegen dieser Worte kamen sie am fünften Tag auf das Christentum zu sprechen. Der alte Chinese kannte sich auch hiermit erstaunlich gut aus. "Als ich mich in meinen besten Jahren befand—heute sagt man 'midlife crisis' dazu—packte mich die Reiselust. Ich verließ China und bereiste die ganze Welt, darunter Rom, Griechenland, Kleinasien und das, was später das heilige Land genannt werden sollte." Und er berichtete auf dieselbe lebendige Art wie zuvor von China von seinen Reisen am Mittelmeer.

"Eine ganze Zeit lang bin ich einem Wanderprediger und dessen Anhängern gefolgt", näherte er sich schließlich dem Ende seiner Erzählung. "Nicht wegen der Predigten, zumindest nicht vordringlich, sondern weil es mich fasziniert hat, wie er seine Mitmenschen mit einfachen Worten so begeistern konnte, wie er es tat—als trüge er das Licht des Göttlichen in seinem Herzen. Und egal, wie sehr er mancherorts verspottet, bedroht, eingesperrt, sogar ausgepeitscht wurde, er ließ nicht ab von seinem Tun, nein, dies alles bestärkte ihn nur darin. Er fühlte sich geheiligt durch sein Leid, dem Heiland näher. Manchmal gewann ich den Eindruck, dass es zwischen den Predigern in dieser Hinsicht eine Art Wettbewerb gab; er jedenfalls führte ganz genau Buch. Es war aber auch irgendwie beeindruckend. Seine Zuhörer hat es ganz sicher beeindruckt: das muss ja eine wichtige Botschaft sein, wenn ein Mann so viel Schmerz und Unbill auf sich nimmt, um sie zu verbreiten!"

Es folgten ein halbes Dutzend Episoden von dieser Reise im Gefolge des Prediger—spannend, ja!—doch Henry musste sich immer öfter wundern, warum zum Beispiel die Römer immer wieder auftauchten und überhaupt alles so... altertümlich klang, sogar mit der Zeit daheim in Irland verglichen. Dass tatsächlich etwas gänzlich faul an der Sache war, bemerkte er mit Gewissheit aber erst nach einer Stunde, als der Alte nämlich fortfuhr: "Ja, und dann wollte der Prediger unbedingt in Jerusalem in den Tempel, obwohl er wusste, dass er den Leuten dort längst als Ungläubiger galt und das Betreten des Tempels einem solchen bei Todesstrafe verboten war... Ja, was soll man dazu sagen. Den Mund fusselig hab ich mir geredet, um ihn davon abzubringen. Natürlich kam es, wie es komme musste. Flucht vor der aufgebrachten Menge, Gefangenschaft, zwei Jahre später Überstellung an ein Gericht in Rom, auf eigenen Wunsch... Na ja, ich habe das ganze Trauerspiel nicht so genau weiterverfolgt. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was es eigentlich war, das ich da bezeugte. Die Tragweite! Wer hätte ahnen können, dass vor meinen Augen eine Kirche geboren wurde, die zweitausend Jahre später noch bestehen würde! Keine schlechte Leistung, für euch Menschen..."

Henry starrte den alten Chinesen entsetzt an. Will der mich auf den Arm nehmen oder ist er senil?

"Weder noch", erwiderte der Chinese lächelnd. "Ich sagte doch, dass ich die Reise meiner midlife crisis schuldete, und inzwischen geht es doch allmählich auf mein Ende zu. Aber verzeiht die Unterbrechung, man wünscht mich zu sprechen."

Offenbar schon seit längerer Zeit wartete ein junger Mann aus der Famile Chang in höflichem Abstand darauf, dass sie ihr Gespräch unterbrachen. Henry erkannte den Polizisten, der beim Kampf am Fluss verletzt worden war: Wen-Hao, Jiang-Lis kleinen Bruder. Als der Alte sich ihm zuwandte, sagte Wen-Hao etwas auf Chinesisch.

"Wie unhöflich!" schalt ihn der Alte. "In einer Sprache zu reden, die der Gast nicht versteht!"

"Verzeiht", sagte Wen-Hao mit einer Verbeugung in Richtung Henry, dann wandte er sich wieder an den Alten. "Sima Qian, ich wurde geschickt Euch zu sagen, dass oben alles vorbereitet ist. Der Rote ist auch schon da. Alle warten gespannt darauf, dass Ihr ihn Euch vorknöpft."

"Dass ich ihm eine Audienz gewähre", korrigierte Sima Qian. "Er hat darum gebeten." Auch er verneigte sich vor Henry. "Ich muss unser Gespräch heute leider etwas früher beenden. Ich hoffe, Ihr verzeiht." Dann erhob er sich und folgte Wen-Hao aus der Bibliothek hinaus.

Auf halbem Weg zur Tür hielt er noch einmal inne und drehte sich zu Henry um, welcher ihm besorgt gefolgt war. "Fürchtet nicht um Euren Freund. Er wird meine Gemächer unversehrt und im schlimmsten Fall ein wenig klüger und einsichtiger wieder verlassen." Sima Qian lächelte. Er hatte noch alle Zähne im Mund, fiel Henry auf. Erstaunlich für einen Mann, der aussah, als habe er die Hundert überschritten.

Selbst bereits an der Tür, musste Henry noch einmal umkehren, um seine Bibel zu holen, die er auf dem Pult vergessen hatte. Als er sich dann wieder zum Gehen wandte, fiel ihm auf, dass die Drachenstatue, die am Morgen noch ganz normal auf ihrem Platz in der Mitte der Bibliothek gestanden war, jetzt plötzlich fehlte.

Harrys Audienz dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Harry machte kaum ein Auge zu. Das lag nur zum Teil an seiner Sorge um Harry, zum anderen Teil an den fürchterlichen Geräuschen im Stockwerk über ihm. Da schabte ständig etwas über den Boden, wie gewaltige Krallen über Stein; dann ertönte immer wieder ein fürchterliches Brüllen, einem wilden Tier ähnlich; dann tat es einen gewaltigen Rumps; dann klatschte etwas so laut wie hundert Peitschen, die gleichzeitig ihr Ziel fanden. Dann war es plötzlich still, und diese Stille war noch unerträglicher, weil Henry nicht aufhören konnte, das nächste Geräusch zu erwarten... Schließlich nahm er seine Decke und ein Kissen und legte sich drei Stockwerke tiefer in die Bibliothek, wo es mehrere Sofas gab.

Dort fand Harry ihn dann am nächsten Morgen, pünktlich zu ihrer nächsten Lesung. Er sah müde aus und war noch etwas schreckhafter als in den letzten Wochen, aber durchaus vergnügt.

"Nicht, dass Sima Qian hätte sagen können, was mit uns los ist", fiel er gleich mit der Tür ins Haus. "Er ist sich nur sicher, dass zu seinen Lebzeiten und auf den sieben oder acht Welten, die er bereist hat, so etwas noch nicht vorgekommen ist."

"Warum bist du dann so fröhlich?" fragte Henry, obwohl fröhlich es nicht ganz traf. Der Freund konnte kaum still sitzen, weil das Erlebte ihn so erregt hatte, so beeindruckt offenbar.

"Du hättest ihn sehen müssen!" sprudelte Harry da auch schon heraus. "Your Resplendence ist nicht übertrieben, glaub mir! I was scared shitless the whole time but what a sight! Außerdem wissen wir jetzt immerhin, dass so etwas in den letzten viertausend Jahren hier und in der 'näheren Umgebung' nicht vorgekommen ist, das ist doch schon einmal ein Ansatzpunkt, wenn auch kein sehr beruhigender. Übrigens, er hat mir gesagt, ich müsse mich bei dir bedanken, dass ich die Audienz überhaupt bekommen habe, und vor allem dafür, dass er mich nicht zum Frühstück verspeist hat. Ich verstehe nicht ganz, was er meint... hast du schon mit ihm gesprochen? Warum hast du mir das nicht gesagt? Na, sei's drum. Ich soll dir noch was sagen. Moment, ich war zu aufgeregt, um mir's zu merken, deshalb hab ich's aufgeschrieben..."

Ein Griff in seine Hosentasche förderte ein zerknittertes Papier zutage. Er drückte es auf seinen Bauch und versuchte es ein wenig zu glätten, bevor er es Henry überreichte. Dieser las darauf, in krakeliger Handschrift: "So when I could not see for the glory of that light, I was led by the hand of them that were with me."[4]

Henry erkannte sofort, dass dies ein Zitat aus der Apostelgeschichte war, genauer der Augenblick gleich nach Paulus' Berufung zum 13. Apostel,[5] aber was wollte Sima Qian ihm damit bedeuten? Er blickte Harry entgeistert an.

"Ja, genau so habe ich ihn auch angeschaut. Aber warte, das zweite, was ich dir sagen sollte, hat er mich nicht aufschreiben lassen, weil du es unbedingt aus meinem Mund hören müsstest. Also, er habe weder das Licht gesehen noch die Stimme gehört, aber zwei der Hände seien die seinen gewesen. Um dich aber mache er sich gar keine Sorgen, denn du hättest das Licht gesehen und die Stimme gehört, und solltest du je vor lauter Erkenntnis geblendet oder umgekehrt in den schwärzesten Abgründen der Verzweiflung verloren sein, so würden die Hände, die du dir für deine Seite auserwählt hättest, dich ebenso treu führen wie er ihn geführt habe. Davon sei er nunmehr überzeugt."

Harry versuchte nachdenklich dreinzublicken, was ihm nicht gelang, und so zuckte er mit den Achseln. "Beeindruckend ist der Alte ja, aber ein wenig wirr. Wer wäre das nicht im Alter von viertausend! Oder hast du etwa eine Ahnung, was er mit all dem meint?"

Das hatte Henry in der Tat. Nachdem Sima Qian zuvor doch so sehr davon überzeugt gewesen war, dass 'rote Drachen' im allgemeinen und Harry im besonderen der Dunkelheit näher stünden als dem Licht, dem Verbrechen und der schwarzen Magie näher als allem, was gut und richtig ist, schien der alte Chinese Henry nun zuzugestehen, dass er sich seinen Freund und Weggefährten doch richtig ausgesucht habe, dass Harry offenbar doch jemand sei, auf den man sich in der Not verlassen könne.

Wenn man da von 'auserwählen' sprechen kann! dachte Henry schmunzelnd. Mir käme ja ein ganz anderes Zitat in den Sinn, um bei Paulus zu bleiben: 'And lest I should be exalted out of measure through the aboundance of revelations, there was given unto me a pricke in the flesh, the messenger of Satan to buffet mee, because I should not be exalted out of measure.'[6] Wenn Harry nur seine Magie aufgeben könnte! Aber in der Hinsicht verspürt er ja nicht die geringste Reue. Sein Herz hat er ja auf dem rechten Fleck, aber um die Wahrheit zu sehen, ist er zu eigensinnig. Und doch, so wie wir uns getroffen haben, möchte man von Vorhersehung sprechen.

"Auch keine, huh?" sagte Harry. "Das dacht' ich mir. Wenn die Goldenen eins mögen, dann sind es Wortspiele und Rätsel, die niemand außer ihnen versteht."

Henry lächelte nur und schlug Harry kameradschaftlich auf die Schulter. Den Zettel aber steckte er ein.


Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten

Am nächsten Morgen war Harry derjenige, der in der Bibliothek aufwachte, nur dass er nicht bequem auf einem Sofa lag, sondern an einem der Pulte eingeschlafen war. Komisch. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, gestern abend noch die Bibliothek aufgesucht zu haben. Im Gegenteil, er und Henry hatten ein wenig gepichelt und waren dann bleischwer in die Federn gefallen.

Vor sich ausgebreitet fand Harry drei aufgeschlagene Wälzer und einen Haufen Papierzettel, die mit unverständlichen Berechnungen vollgekritzelt waren. Die Zettel mussten aus einem der Bücher gefallen sein, denn Harrys Handschrift war das nicht, geschweige denn, dass er eine einzige Zeile davon kapierte. Auch die Bücher waren in ihm unverständlichen Sprachen verfasst. Chinesisch und was war das, Russisch? Das hier jedenfalls war Altgriechisch, da konnte Harry wenigstens die Schrift lesen und verstand auch ein paar Brocken. Großvater Mortimer hatte immer wieder versucht, Harry dazu zu bewegen, diese Sprache zu lernen, von wegen seiner Wurzeln und der Familientradition. Vielleicht hätte der gute Mann sich noch durchgesetzt, wenn er nicht so früh gestorben wäre.

Harry blätterte ein wenig in den Büchern, ob es dort Bilder gab, die auf ein Thema deuten würden, aber nur in dem altgriechischen Text fand er einige Zeichnungen. Diese bestanden aus einer Unzahl überlappender Kreise und Kringel und waren genauso unverständlich wie alles andere. Unter einer von ihnen entzifferte Harry die Worte "planetare Konstellation"—oder hieß das "planare Konstellation"? Unter der nächsten Zeichnung stand dann der Text:"Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten berechnet man, indem..."

Schnaubend klappte Harry das Buch zu. Ein mathematisches Lehrwerk für Anfänger! Er gähnte. Dann fiel sein Blick auf die Armbanduhr. Was, es war erst 5 Uhr 57? Verflucht, das kommt davon, wenn man in der Bibliothek einschläft, in der Nähe der großen Fenster, hinter denen sommerfrüh die Sonne aufgeht. Harry ließ kurzerhand alles liegen und stehen und schlurfte zurück in sein Zimmer und sein Bett.

Als er das nächste Mal aufwachte, lag er aber nicht in seinem Bett. Er war auch nicht wieder über einem Pult zusammengesunken. Er lag auf dem staubigem Boden einer ungepflasterten Landstraße—komplett angezogen, obwohl er hätte schwören können, dass er sich noch ausgezogen hatte—und neben ihm regte Henry sich, ebenso verdutzt und zudem in voller Rüstung, die wenigen Habseligkeiten zu einem Bündel verschnürt als Stütze unter dem Kopf.
 1. diese hier, s. auch hier bzw. hier
 2. dieser hier
 3. Wissen aus dem Off: "Your Resplendence" ist die korrekte Ehrenbezeichnung für den obersten Anführer der goldenen Drachen einer ganzen Welt (s. Draconomicon)
 4. Acts 22:11, zitiert nach der Geneva Bible, s. auch hier
 5. 
Zitat im Kontext (Anzeigen)
 6. 2 Corinthian 12:7
« Letzte Änderung: 04.12.2014, 20:15:51 von Harry Webster »
My name is Harry Aleister Mulholland Webster. Conjure by it at your own risk.

Paranoid? Probably. But just because you're paranoid doesn't mean that there isn't an invisible demon about to eat your face.

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #64 am: 01.10.2014, 16:58:50 »
Henry und Harry in Brückenstadt

Als Henry und Harry wieder zu sich kamen, waren sie statt in Berlin auf einer weiten Ebene. Es schien später Morgen zu sein. Sie standen erst einmal auf, klopften sich den Staub von der Kleidung und blickten sich um. Hier gab es nichts außer Himmel, Bäumen, Sträuchern, einer Handvoll Bauernhäuser inmitten bestellter Felder, auf welchen das Korn noch grün war. Am Horizont erhob sich eine Gebirgskette.

Die beiden machten sich zum nächsten Bauernhaus auf, und zum nächsten, und zum nächsten. Beim vierten endlich wurde ihnen die Tür geöffnet, wenn auch nur einen spaltbreit. Leider verstand man dort kein Englisch. Mit Gesten versuchten sie den Leuten klarzumachen, dass sie Unterkunft und Verpflegung bräuchten und dafür auch gerne arbeiten wollten, aber die Antwort bestand aus einem wortreichen Gebrabbel, von dem sie zwar keine Silbe verstanden, dessen ablehnende Grundbedeutung jedoch offensichtlich war. Als die beiden hartnäckig weitergestikulierten, ob sie wenigstens etwas Wasser und einen Kanten Brot haben dürften, wurde eine junge Frau aus den Tiefen des Hauses geholt, die in zwei oder drei weiteren Sprachen zu kommunizieren versuchte. Eine davon verstanden Henry und Harry sogar—sehr zu ihrer Überraschung, denn es war weder Englisch noch Latein (und auch nicht Drakonisch).

"Geht doch nach Brückenstadt", sagte die Frau[1]. "In Brückenstadt lassen sie jeden rein." Und sie deutete auf das Gebirge im Westen.

Also machten die beiden ungleichen Gefährten sich auf den Weg und kamen auch gegen Abend hungrig, durstig und erschöpft in Brückenstadt an. Doch wenn sie mit einem freundlichen oder zumindest bürokratisch-neutralem Willkommen gerechnet hatten, so sollten sie enttäuscht werden. Gleich am Tor wurden sie von mit Knüppeln bewaffneten Wachen gepackt und in einen Verhörraum gebracht. Dort warteten weitere Wachen, diese mit Kurzschwertern, und ein in schwarze Amtsrobe gekleideter Beamter auf sie. Dieser löste zunächst das Verständigungsproblem, in dem er eine kleine silberne Stimmgabel an die Tischkante schlug und dann zuerst an sein rechtes Ohr hielt, bevor er es bei Henry und Harry gleichtat. Nun konnten alle verstehen, was der andere sagte, obwohl ein jeder noch in seiner eigenen Sprache palaverte.

Dann erklärte der Beamte ihnen, was Sache war. Wer nach Brückenstadt hineingelangen wollte, musste sich erst "wiegen" lassen. Nicht der Körper werde da gewogen, sondern die Seele. Je dunkler diese sei, je mehr Verbrechen aus vergangenen Leben auf ihr lasteten, desto stärker würde die Seelenwaage ausschlagen, und von diesem Ergebnis hinge es ab, wo in Brückenstadt man sich einquartieren dürfe.

Henry trat als erster auf die Waage. Sie sank nicht einen Millimeter.

"Das habe ich nicht anders erwartet!" rief der Beamte. "Das sagt uns schon Euer Name. Henry, nach Henrianus, nicht wahr? Dem großen Heiligen. Willkommen in Brückenstadt! Hier, nehmt diesen Plan und diese Liste, dort findet ihr Adressen, an die Ihr Euch wenden könnt, wenn Ihr Euch allein nicht gleich zurechtfindet. Nehmt auch diese Stimmgabel! Und hier sind zehn Dukaten Begrüßungsgeschenk. Und diesen Ausweis tragt immer bei Euch. Wer ohne Ausweis erwischt wird, kommt nämlich in den Kerker, bis seine Identität festgestellt werden kann. Unterschreibt bitte hier. Dankeschön!"

Dann trat Harry auf die Waage. Sie schnellte zu Boden. So kraftvoll traf sie unten auf, dass es einen gewaltigen KLONK gab, der die Wachen entsetzt zurückspringen ließ. Plötzlich hatten sie alle ihre Schwerter in der Hand und auf Harry gerichtet. Er rührte sich nicht.

"Das habe ich nicht anders erwartet!" rief der Beamte. "Das sagt uns schon Euer Name. Harry, nach Harristrian, nicht wahr? Dem Satan persönlich. Schämt Euch! Nun, wir lassen Euch trotzdem herein. Keine Seele ist so verloren, dass ihr nicht gestattet werden muss, um ihr Heil zu kämpfen. Aber Ihr dürft das Nachtviertel nicht verlassen, darauf steht der Tod. Hier, nehmt diesen Zettel mit den wichtigsten Gesetzen unserer Stadt und einer Liste der Strafen, die Euch bei Missachtung blühen. Und damit Ihr wisst, dass wir es ernst meinen, erhaltet Ihr als Begrüßungsgeschenk zehn Hiebe. Wachen! Führt ihn kurz in den Hof und dann ab ins Nachtviertel."

"Zwei Buchstaben", protestierte Harry, als die Wachen ihn in Richtung Ausgang zerrten. "Es sind doch bloß zwei Buchstaben!" Er und Henry konnten nur noch einen entsetzten Blick tauschen, dann waren sie getrennt.

Harry allein

Zehn Fausthiebe später lag Harry in einer Zelle. War "Nachtviertel" ein Euphemismus für Kerker? Doch kaum war an jenem Abend die Sonne untergegangen, kamen drei Wachen und zerrten ihn erst aus der Zelle, dann mehrere Gänge hinunter ins Freie, dort noch drei Straßenecken weiter, wo sie ihn abermals zu Boden stießen. Sobald die Wachen verschwunden waren, näherten sich fünf zerlumpte Gestalten mit Knüppeln in den Händen und dreckigem Grinsen auf den Gesichtern. Die Wirkung der Stimmgabel hielt noch an und so hörte Harry genau, was die fünf mit ihm vorhatten. Bis auf die nackte Haut ausrauben war noch das netteste davon. Doch gleich der zweite Hieb traf ihn an der Schläfe und er verlor das Bewusstsein.

Als Harry zu sich kam, lag er in einem Bett. Seine Kleidung klebte ihm nass am Leib. Seine Hände waren voll Blut. Das Nasse auf seiner Kleidung, das war auch Blut. Er tasteste seinen Körper ab: außer Prellungen, einer aufgeplatzten Lippe und einem zerfetzten Hosenbein alles in Ordnung. Verwirrt stand er auf und untersuchte das kleine Haus, in dem er sich befand.

In der Küche lag ein totes Großmütterchen. Jemand hatte ihr den Kopf mit einer Pfanne eingeschlagen. Daneben lag ein totes Großväterchen. Jemand hatte ihm den Schürhaken in den Leib gerammt. Zwischen ihnen lag ein toter Hund. Zumindest glaubte Harry, dass es einmal ein Hund gewesen sein musste: die Leiche, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, hatte in etwa die Größe und Form eines deutschen Schäferhundes.  Das Tier hielt etwas zwischen den Zähnen. Harry bückte sich und zog es vorsichtig heraus. Es war ein Fetzen Jeansstoff. Harry untersuchte sein Hosenbein: der Fetzen passte. Die Bisswunde darunter passte auch.

Harry übergab sich in die nächste Suppenschüssel.

In den ersten Tagen wagte Harry nicht, das Haus zu verlassen. Die Vorratskammer war für einige Wochen bestückt, er müsste also keinen Hunger leiden. Nur ein großes Problem hatte er: Wohin mit den Leichen? Zerstückeln und im Ofen verbrennen war das einzige, was ihm einfiel. Am ersten Tag konnte er sich nicht dazu überwinden. Erst einmal darüber schlafen wollte er, vielleicht käme er mit klarem Kopf ja auf eine bessere Lösung! Als er jedoch wieder aufwachte—aus einem wenig erholsamen Schlaf und zudem splitternackt—waren die Leichen verschwunden. Eine blutige Säge lag noch in der ansonsten frisch geschrubbten Küche, seine Kleidung hing frisch gewaschen auf der Leine, und die Holzvorräte in der Küche waren aufgebraucht. Das Frühstück stand fertig auf dem Tisch. Eintopf aus Kohl und Graupen. Zum Glück ohne Fleischeinlage. Er war so ausgehungert, dass er sich tatsächlich darüber hermachte.

Erst nach dem Essen entdeckte er den aufgeschlagenen Notizblock auf dem Küchentisch. Es war sein eigener. Darauf stand, in weiblicher Handschrift, wie ihm schien, die der seinen trotzdem irgendwie ähnelte: "Jetzt habe ich schon zum zweiten Mal Deine Drecksarbeit erledigen müssen. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden. ~ Lasciel"

Lasciel? Wer war Lasciel? Wie kam die überhaupt hier rein, er hatte die Haustür doch gründlich verrammelt! Und was meinte sie mit: zum zweiten Mal?

~~~

Doch so gruselig seine Ankunft in Brückenstadt auch war: irgendwann gewöhnte man sich an alles und lebte sich überall ein. Nach sechs Tagen begann Harry, seine Umgebung zu erforschen. Als erstes fiel ihm auf, dass die Leute einen Bogen um ihn machten. Niemand sah ihn an. Ängstlichere Personen wechselten die Straßenseite. Schlägertypen, die zu viert oder fünft unterwegs waren, rückten enger zusammen und blickten stur geradeaus, bis sie an ihm vorbei waren. Wer ihm allein in einer dunklen Gasse begegnete, drehte auf dem Absatz um und rannte um sein Leben.

Das machte es einerseits unmöglich für Harry, Leute kennenzulernen und diese über das Nachtviertel und Brückenstadt allgemein auszufragen—zumal er dafür erst noch so eine Stimmgabel bräuchte, deren Wirkung inzwischen verflogen war. Andererseits konnte er sich völlig frei bewegen, ohne vor Schlägerbanden Angst haben zu müssen.

Und so fand er schon bald von allein heraus, dass mit "Nachtviertel" die ganze Stadt gemeint war, man aber nur nachts raus durfte. Tagsüber waren Türen und Fenster von außen versperrt. Nahezu jedes Haus besaß zwei Eingänge: den einen für die Tagbewohner (bei Nacht verriegelt und verdeckt und nur anhand der Stufen erkennbar, die an manchen Häusern dort hinaufführten), den zweiten für die Nachtbewohner. Wand an Wand lebten diese und bekamen doch nichts voneinander mit. (Böden und Wände mussten magisch oder sonstwie schallgedämpft sein, denn Harry hörte wirklich nichts, egal wo er tagsüber sein Ohr an die Wand legte.)[2]

Natürlich lebten die Nachtbewohner in den Keller- und den Dachgeschossen, den alten, halb verfallenen Häusern oder den schmalen, zwischen zwei stattlicheren eingequetschten.

Nach drei Wochen aber hatte er ganz andere Sorgen, als sich über die soziale Ungerechtigkeit in Brückenstadt aufzuregen: ihm ging, trotz Rationierung, das Futter aus. Die beiden zermatschten Marsriegel aus seiner Jackentasche waren als letzte dran. Er musste dringend an Geld kommen, doch wie? Am Ende würde er stehlen und rauben müssen, wenn er nicht verhungern wollte. Arbeit zu finden hatte er schon versucht, aber niemand wollte ihm Arbeit geben, nicht einmal zum Latrinenschaufeln. (Außerdem war da wieder sein Sprachproblem; in dieser verdammten Stadt sprach einfach niemand Englisch!) Aber noch konnte er sich nicht dazu entschließen, die Leute hier—von denen die meisten ihre Familien mehr schlecht als recht ernähren konnten—auch noch zu bestehlen. Und so holte er manch eine Nacht, wie er hungrig dasaß, das Burger King Couponheftchen aus seiner Brieftasche und betrachtete träumend die Bilder darauf...

Fast schlimmer noch als der Hunger war die Einsamkeit. Wie es Henry wohl erging? Wahrscheinlich hatte er längst neue Freunde gewonnen und Harry vergessen; dank der Stimmgabel, die der Beamte ihm geschenkt hatte, konnte er sich ja mit allen unterhalten...

Dann geschah etwas seltsames. Eines Morgens legte Harry sich von nagendem Hunger geplagt ins Bett und wachte am späten Abend satt und mit einem leichten Kater wieder auf. Nicht nur das: er trug ein seidenes Hemd. Seidene Hose. Seidenstrümpfe. Schuhe, Hut, Gürtel: alles von feinster Machart. Wenn auch für seinen Geschmack reichlich weibisch: ein Bändchen hier, ein Schleifchen dort, und Rüschen überall. Und erst die Feder am Hut! Und in der Brusttasche der Seidenweste steckte ein Ausweis, auf dessen Vorderseite eine Sonne prangte. Dies waren die Klamotten eines Tagbewohners!

Und so wie in dieser Nacht ging es ihm in der nächsten und übernächsten. Sein Ernährungsproblem schien gelöst, doch er begriff nicht ganz wie. Schlafwandel ich? Oder ist das normal in dieser komischen Stadt, das man ein Nacht-Ich und ein Tag-Ich hat? Oder ist es gar der Drache in mir, der endlich "raus" will?

Das ging zwei Wochen so weiter. Jeden Abend, wenn er aufwachte, fiel ihm ein anderes seltsames Detail auf, und zwar in dieser Reihenfolge, an aufeinanderfolgenden Nächten:
—Er roch nach Parfüm. Einem blumigen Parfüm. Einem Damenparfüm.
—Er hatte Kratzer auf dem Rücken wie von Fingernägeln. Wie von Fingernägeln, die eine Frau ihrem Liebhaber in einem Moment höchster Leidenschaft über den Rücken ziehen mochte.
—In seiner Brusttasche befand sich ein Zettel mit einem Gedicht. Einem Liebesgedicht. Das Gedicht war so schlecht, es musste von einem Liebenden geschrieben worden sein.
—Er konnte das Gedicht lesen. (Dass dies nicht selbstverständlich war, fiel im tatsächlich erst in der Folgenacht auf.) Wieso konnte er das Gedicht lesen? Hatte ihm jemand eine Stimmgabel ans Ohr gehalten?
—Auf der Rückseite des Zettels fand sich eine Widmung: "Oh Harry! Noch nie traf ich einen Mann, der so einfühlsam ist wie Du, der mich so gut verstanden hat! Küßchen, Imona."

Einfühlsam, ich? Also, wenn ich's nicht eh schon gewusst hätte, wüsst' ich es jetzt: da ist etwas faul! Einfühlsam bin ich wie Conan der Barbar. Und Frauen verstehe ich so gut wie Donald Duck.

Das mit der Stimmgabel aber, das testete er gleich aus. Tatsächlich, er verstand die Leute auf der Straße plötzlich. Sie konnten ihn zwar immer noch nicht verstehen, aber das war doch schon einmal was! Nun konnte er sich irgendwo hinstellen oder hinsetzen, wo man ihn nicht bemerkte, und ihren Gesprächen lauschen. Nicht nur fühlte er sich dadurch etwas weniger allein, er erfuhr auch ein bisschen mehr über seine Umgebung und die Menschen hier.

Zum Beispiel, dass eigentlich niemand von ihnen in dieser Stadt sein wollte. Alle kamen woanders her und wollten woanders hin, saßen aber fest. Warum, das erfuhr Harry nicht. Auch nicht das woher oder wohin. Nur, dass es als Nachtbewohner offenbar einen einzigen Weg gab, hier wieder herauszukommen: mit beiden Füßen zuerst.

Und je mehr Harry ob dieser Erkenntnis in Trübsal und Hoffnungslosigkeit verfiel, desto wilder schienen seine Tage zu werden. Immer öfter wachte er jetzt mit einem ausgewachsenen Kater auf und dazu völlig gerädert, dass er sich oft einfach nur umdrehte und die halbe Nacht im Bett verbrachte.

Dann wurde er eines späten Mittags von Magengrimmen geweckt und befand sich nicht im eigenen Bett. Schlimmer noch: er war nicht allein im Bett. Ein ganz reizendes nacktes Geschöpf lag neben ihm und schmiegte sich wohlig erschöpft an ihn. Ihr Name war Amatrice. Und auf der anderen Seite lag Narissa und bedeckte seinen Hals und Rücken mit ihren Küssen. In den Augen beider Frauen leuchtete glückselige Zufriedenheit.

Nun wäre dies für die meisten Männer seines Alters wohl ein dream-come-true, aber erstens hatte Harry absolut gar nichts davon mitbekommen und zweitens hatte er seine eigenen Gründe, warum er stets auf safer sex bestand. Von ihm schwanger zu werden bedeutete für jede Frau, die nicht selbst ein Drache war, das Todesurteil!

Ist das jetzt schon der Wahnsinn, vor dem Henry mich gewarnt hat? Eine abgespaltene Persönlichkeit? Nicht Jekyll und Hyde, sondern Harry und Lasciel?

So oder so, das hier war nicht akzeptabel. Diesem Treiben würde er ein Ende bereiten. Also kramte er am nächsten Morgen, bevor er zu Bett ging, seine Handschellen heraus und kettete sich mit einer Hand ans heimische Bettgestell. Den Schlüssel legte er vorher so weit entfernt auf den Boden, dass nur ein Jediritter herankommen würde. (Er dachte erst einmal nicht weiter als an den kommenden Tag und wie er sein "Schlafwandeln" verhindert konnte; wie er danach selbst wieder loskommen würde, das müsste man dann sehen. Jetzt galt es erst einmal, das Leben unschuldiger Frauen zu retten.)

Ein verzweifelter Plan, der absolut gar nichts nutzte. Am nächsten Abend fand er sich wieder satt und verkatert in seinem Bett vor. Drei Dinge waren anders: er war vollkommen nackt und beide Hände waren mit den Handschellen am (übrigens schmiedeeisernen) Bettgestell festgekettet. Der Schlüssel lag auch nicht mehr da, wo er ihn hingelegt hatte.

Am nächsten Abend das gleiche Bild. Am übernächsten auch. Eine Woche später begann Harry mit sich selbst zu reden. Er bettelte und flehte. Bitte, bitte, bitte, hör auf damit, Harry oder Lasciel oder wer immer mir das antut! Hör auf, mich ans Bett zu ketten! Ich will auch brav sein! Ganz lieb will ich sein! Nie wieder versuchen, dir deinen täglichen Spaß zu verderben! Lass mich frei, ich werd' sonst irre!

Und vielleicht wurde er das, denn nachdem zwei weitere Wochen vergangen waren, hatte er folgenden Traum.

Harry träumt. (Anzeigen)

Und doch war er noch immer mit beiden Händen am Bettgestell angekettet, als er erwachte. Ja, es ist schon der Wahn... Mein Ich zerfällt in seine Teile... Es gibt keine Hoffnung, kein Entkommen!

Henry allein

Und wie erging es Henry in jenen Wochen? Nun, auch er hatte keinerlei Schwierigkeiten, eine sichere Bleibe zu finden. Er blieb gleich bei der Stadtwache! So kann ich Harry am ehesten wiederfinden und vielleicht auch etwas auf ihn aufpassen, dachte er sich. Doch zunächst einmal musste er durch das Fenster mit ansehen, wie seine zukünftigen Kameraden den Bruder auf dem Hof verprügelten.

Der Beamte war begeistert von Henrys Idee und schickte ihn zum Hauptmann der Wache. Dieser freute sich ebenfalls, doch lehnte er Henrys Bitte, zur Wache im Nachtviertel eingeteilt zu werden, entschieden ab. "Das ist nichts für Neulinge", sagte er. "Überhaupt, Ihr müsst Euch erst beweisen."

Und so wurde Henry zur Tagwache im Stadtkern eingesetzt. Dort musste er den Marktplatz und die beiden Tempel patrouillieren, die diesen flankierten. Im Osten die "Kirche der Drei", in welcher "die drei guten Götter" verehrt wurden, im Westen die "Kirche der Vier", welche den "vier guten Göttinnen" geweiht war.

Schon wieder heidnische Tempel und noch dazu Vielgötterei! Aber was tut man nicht alles für seine Freunde.

Und so vergingen die Tage. Eigentlich gab es nichts zu bewachen oder zu ergreifen. Den gelegentlichen Taschendieb, der aber zumeist wieder freigelassen wurde, da er sich als Spross einer einflussreichen Familie herausstellte, der nur eine Mutprobe hatte ablegen wollen, um seine Freunde zu beeindrucken. Hin und wieder musste auch ein Händler ermahnt werden, dessen Waage ein wenig unehrlich war. Das gab dann eine Geldstrafe.

In den beiden Tempeln sah die Sache sogar noch langweiliger aus. Kein Tagbewohner würde auf die Idee kommen, sich an Tempeleigentum oder gar am Inhalt der Opferschalen zu vergreifen. Henrys Aufgabe bestand darin, in blankpolierter Rüstung seine Runden zu drehen und mal hier, mal dort dekorativ stehen zu bleiben und den Bürgern der Stadt, wenn sie ihn ansprachen, mit Trost, Rat oder auch mit frommen Sprüchen weiterzuhelfen. Für letzteres verwendete er einfach Bibelsprüche und hatte einen tollen Erfolg damit. Binnen kürzester Zeit sprach es sich herum, dass eine der im Tempelbezirk zuständigen Stadtwachen über einen unerschöpflichen Fundus an Sprüchen verfügte, die zwar weise waren, aber dennoch von einfachen Leuten verstanden werden konnten. Innerhalb eines einzigen Monats verdreifachten sich die Besucherzahlen.

Trotzdem war Henry einsam. Mit keinem dieser Leute konnte er über sich und seine Sorgen reden. Dafür interessierte sich niemand! Er vermisste Harry. Mit dem konnte er offen reden. Scherzen. Einen heben gehen. Oder einfach nur in behaglicher Stille dasitzen und gemeinsam schweigen. Wie es ihm wohl im "Nachtviertel" erging? So wie Henry die Leute hier verstand wohnten im Nachtviertel nur Diebe und Vagabunden, Betrüger, Huren und Spieler, Schläger und Meuchelmörder. Und dort war Harry ganz auf sich allein gestellt! Ob er überhaupt noch am Leben war? Und ihm, Henry, fehlte es hier an nichts! Und das alles nur, weil Harry wegen seiner Größe ein paar Pfund mehr auf die Waage brachte und weil sein Name in der Sprache der Einwohner ähnlich wie ihre Bezeichnung für Satan klang. Das war nicht recht!

Seine gesamte Freizeit verbrachte Henry also damit, Harry zu suchen. Was mit dem "Nachtviertel" gemeint war, fand er schnell heraus. Das stellte ihn vor ein Problem: Brückenstadt war groß. Wenn das Nachtviertel die ganze Stadt umfasste, konnte Harry überall sein. Wo also mit der Suche beginnen? Wie sollte er ihn überhaupt suchen, wenn er als Tagbewohner nachts nicht unterwegs sein durfte?

Bevor Henry eine Antwort auf diese Fragen gefunden hatte, geschahen drei Dinge. Zunächst einmal fand er etwas Interessantes über Brückenstadt heraus, und zwar von einer der Nachtwachen. Er wollte sich bei diesem Mann erkundigen, was er tun müsse, um auch als Nachtwache arbeiten zu dürfen, und dieser hatte es lang und breit erklärt. Dabei erwähnte der Mann, dass er als Nachtwache das dreifache Gehalt erhielte wie zuvor und er vorhabe, so viel wie möglich zu sparen, damit er in einem Jahr für sich und seine Frau den Brückenzoll zusammenhätte und diese grässliche Stadt endlich verlassen könne.

Das war das Geheimnis von Brückenstadt. Das war der Grund, warum die Stadt so entsetzlich überfüllt war, dass man sich nicht anders zu helfen wusste, als der Hälfte der Bewohner zu verbieten, ihre Häuser bei Tag zu verlassen, der anderen Hälfte bei Nacht. Umsonst durfte man hinein, aber zahlen musste, wer wieder hinauswollte! Und der Brückenzoll für eine Person kostete in etwa das Jahresgehalt einer Tageswache.

Henry hatte die Zollbrücke schon mehrmals gesehen, bestaunt, und sich nichts dabei gedacht. Er ging allerdings nicht gern dorthin. Brückenstadt lag nämlich auf einem Berghang, welcher abrupt an einer Schlucht endete, die so tief war, dass man den Grund nicht sah, und so weit, dass man die gegenüberliegende Seite nicht sah—was auch damit zusammenhing, dass stets ein dichter Nebel über der Schlucht lag. Eine schmale Hängebrücke war darüber gespannt, die an ihrem tiefsten Punkt im Nebel verschwand. Das ganze sah sehr unheimlich und irgendwie... dämonisch aus. Der Anblick ließ ihn an die Felsschlucht von Gehenna denken, der Ort, an dem die Abtrünnigen geworfen wurden.

Das zweite Ereignis waren eine Reihe von nächtlichen Störungen. Kinder erzählten, dass in der Nacht ein Gespenst um ihr Haus streifen würde und an die Fenster klopfte. Mit zitternden Fingern versuchte es, durch angelehnte Fenster nach den Kindern zu greifen. Und es jagte den Kindern einen Schrecken ein, indem es durch Ritzen und Spalten raunte: „Einhundert Kinder muss ich haben. Mein Leben gegen das von einhundert Kindern. Komm, mein Kleines. Ich werde Dich immer in meinem Busen tragen.

Man hielt diese Vorkommnisse zunächst für Fantasien kleiner Kinder, die zu viele Märchen gehört hatten. Als sich die Berichte aber mehrten, stellte man doch Untersuchungen an. Man fand eine Reihe von verwischten Handabdrücken. Und dann, es dauerte nicht lange, wurden tatsächlich Kinder vermisst. Längst hielt die Wache die Vorkommnisse nicht mehr für Kinderphantasien. Die Männer waren äußerst alarmiert.

Man erinnerte sich daran, dass Henry auffällig oft nach der Nachtwache gefragt hatte. Henry wurde verdächtigt, von den eigenen Leuten verhaftet und endlos verhört. Mit ihrer komischen Waage kamen sie ihm wieder, mit Tränken und Zaubersängen, die angeblich die Wahrheit aus ihm herausbringen sollten. Nun, er sagte ja schon die ganze Zeit die Wahrheit: "Ich bin kein Kinderschreck! Im Gegenteil, ich habe schon oft gegen die Wesen der Dunkelheit gekämpft. Lasst mich zur Nachtwache und ich werde die Sache aufklären."

Ob es am Ende seine Beteuerungen oder ihr Zauberwerk war, jedenfalls glaubte man ihm und entschuldigte sich vielmals. Eine Durchsuchung seines Gemaches hatte auch keinerlei Hinweise zu Tage gebracht. Henry durfte seinen Dienst wieder aufnehmen, doch die Hoffnung, in näherer Zukunft der Nachtwache zugeteilt zu werden, war erst einmal dahin.

Als drittes fand er eines Morgens einen Zettel auf seinem Nachttisch. Dort stand in unbekannter, kunstvoll verschnörkelter Handschrift: "Ich habe Deinen hübschen Freund gefunden. Ohja, eines abends habe ich ihn gefunden und ihn durchschaut. Er bricht die Herzen der stolzesten Frau'n. Ob ich ihm dafür seine Finger brechen werde? Unterste Gasse, letztes Haus in der Reihe, roter Backstein. Komm nicht zu früh und auch nicht zu spät.

Henry zögerte nicht lange. Es war ihm klar, dass der fremde Schreiber niemand anderen meinen konnte als Harry. Henry hatte eine Intuition und packte seine Sachen zusammen. Gleich in dieser Nacht machte Henry sich auf den Weg. Es war fast schon lächerlich einfach, ins Nachtviertel zu gelangen. Er musste sich nur ein bisschen auf der Wachstube "verquatschen", sodass er den Sonnenuntergang verpasste und ihm lachend ein Bett in einer der leeren Zellen angeboten wurde. Von dort aus musste er nur, das aber ungesehen, zu der Tür hinaus, durch die man auch Harry geschleift hatte. Henry fühlte sich etwas unwohl, sich den Zugang zum Nachtviertel zu erschleichen. Aber in der Not galt ein Leben mehr als ein Gebot.

~~~

Das Haus in der Untersten Gasse war schnell gefunden. Henry musste sich auf dem Weg dahin auch nur zweimal Strauchdieben erwehren, die ihn ausrauben wollten. Er klopfte, doch niemand öffnete. Also brach er die Tür auf. Die ersten beiden Zimmer, die er untersuchte, waren leer; dann endlich fand er Harry. Offenbar nicht einen Tag zu früh.

Angekettet und splitternackt lag der arme Harry auf seinem Bett und brabbelte wie ein Geisteskranker vor sich hin. Als er Henry erblickte, lachte er irre und rasselte mit seiner Kette. Für ein Trugbild hielt er ihn. Henry untersuchte die Fesseln. Er war sich sicher, dass er selbst das dünne Kettchen hätte zerreißen können; den geschundenen Handgelenken nach zu urteilen hatte Harry es wohl probiert, doch fehlte ihm die Kraft dazu. Es dauerte eine geraume Weile, bis Henry den Kameraden davon überzeugen konnte, dass er tatsächlich hier war; noch länger, bis Harry sich so weit gefasst hatte, dass er ihm sagen konnte, wo sich der "Ersatzschlüssel" zu seinen Fesseln befand.

Kaum hatte Henry diese aufgeschlossen, sprang Harry auch schon auf und suchte—schwankend—seine im ganzen Zimmer verstreute Kleidung zusammen. Immer noch schwankend zog er sich an, wobei er zunächst die Hosenbeine verwechselte, dann sein Hemd mit den kurzen Ärmeln verkehrt herum anzog, dann gar den linken Stiefel auf den rechten Fuß zog; es bedurfte Henrys Hinweise, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Als er endlich fertig angezogen war, stand er einen Augenblick da, dann brach er zitternd auf dem Boden zusammen.

"Drei Wochen!" rief Harry. "Oh Gott, Henry, wenn du nicht gekommen wärst! Irre wäre ich geworden. Nicht einen Tag länger hätte ich es ausgehalten. Von allen Heiligen im Himmel, Henry, bist du der heiligste!"

"Niemand ist heiliger als Jesus Christus", antwortete Henry verschmitzt.

Und wieder zu zwein

Als die beiden kurz darauf am Küchentisch saßen, zitterte Harry noch immer. Auch zuckte sein Kopf in unregelmäßigen Abständen, bis er ihn stöhnend auf die Tischplatte knallte.

"Das ist die Magie", sagte Henry. "Ich habe dich gewarnt."

"Magie", empörte sich Harry, "hat die Fesseln nicht verschlossen. Mit Magie hätte ich sie höchstens aufgekriegt. Was meinst du, wie lange ich das verdammte Schloss angestarrt und all meine Gedanken darauf gerichtet habe, und vielleicht hätte ich auch was erreicht damit, wenn mir nicht jemand beide Hände angekettet hätte. Man kann nämlich nicht wirklich zaubern, wenn beide Hände angekettet sind. Man braucht nämlich mindestens eine Hand zum Zaubern!" Während der ganzen Rede fuchtelte er derart hitzig mit seinen Händen umher, dass er Funken durch die Luft zog.

"Ja, ich habe auch das Gefühl, hier Teil eines kleinen, perversen Spielchens geworden zu sein", sagte Henry ruhig. "Es wird Zeit, dass wir aus dieser Stadt verschwinden."

"Ja, aber wie?" rief Harry. "Diese Dimensionssprünge passieren nie, wenn man's will."

"Da kann ich weiterhelfen", sagte Henry und erklärte rasch, was es mit der Brücke auf sich hatte. "Nur, wie wir das Geld für die Passage zusammenkriegen sollen, weiß ich noch nicht", seufzte er. "Und auch nicht, wohin die Brücke führt."

Harry steckte sich eine unsichtbare Pfeife in den Mund, kaute darauf herum und untersuchte dann den Zettel.

"So, dir schreibt also auch jemand solch nette Briefchen", meinte er. "The plot thickens. Hm. Meine hat mit Namen unterschrieben. Lasciel. Hat deine sich nicht vorgestelllt? Es ist doch eine Frau, oder? Von der Schrift her würde ich das annehmen."

Henry antwortete nicht, also drehte Harry den Zettel um. "Hier auf der Rückseite erscheint gerade eine Schrift, war wohl mit Magie versteckt. Moment, gleich... OK, also, da steht: 'Du bist sehr widersinnig und warst mir nicht nützlich. Aber zumindest jetzt wirst Du mir ein wenig Freude bereiten. Das Spielchen hat begonnen. Ich habe der Stadtwache einen Hinweis zukommen lassen. Wirklich widerlich, was Du in Deiner Stube versteckt hältst. Sie werden sich fragen, wie Du ihre kleinen Zauber täuschen konntest, aber sie werden keine Zweifel haben. Es gibt nur einen Weg: über die Brücke. Auf der Brücke sag, dass Du nach Kurun willst. Nicht mehr.'

Hm. Kurun. Was meinst du, sollen wir nach Kurun? Der Rest klingt ja nicht nett. Andererseits, wenn wir bei dem 'kleinen Spielchen' nicht mitmachen, wird sie dich bestrafen, so wie Lasciel mich bestraft hat. Weißt du, mit was sie dir da droht?
"

Henry war blass geworden und nickte nun. "Ja, ich fürchte, wir haben keine andere Wahl", antwortete er zähneknirschend.

Und so mussten sie nur noch planen, wie sie über die Brücke kommen sollten, und zwar möglichst noch in dieser Nacht.

"Ich habe eine Idee", sagte Harry. "Sie wird dir nicht gefallen. Also, ich kenne da einige gutbetuchte Damen, die eventuell bereit wären, wenn ich ihnen eine entsprechend herzzerreißende Geschichte auftische, mir aus meiner Not zu helfen. Glaub mir, Henry, eine solche Vorgehensweise ist mir zutiefst zuwider—du ahnst gar nicht, wie sehr mein Gewissen mich wegen dieser reizenden Geschöpfe eh schon plagt—aber welche Wahl haben wir? Sobald ich das nächste Mal einschlafe, wird Lasciel die Sache in die Hand nehmen und dabei könnte es Tote geben. Da hinterlasse ich lieber nur Belogen und Betrogene. Or, as the sailors say: Always choose the lesser weevil."

Harry sah unglücklich, aber zugleich entschlossen aus. Henry sagte nichts, aber das war Zustimmung genug. Er wollte gar nicht daran denken, was die Wachen in seiner Stube vorfinden würden oder was passieren mochte, wenn er das nächste Mal einschlief und sie den Brückenzoll noch nicht beisammen hatten.

"Gut", sagte Harry. "Dann such ich nur schnell meine Siebensachen zusammen und wir machen uns auf den Weg."

~~~

Und so zogen die beiden gemeinsam durch die Nacht. Den wenigen Nachtwachen, die unterwegs waren, wichen sie ohne Schwierigkeiten aus. Solange Nacht war, fühlte Henry sich einigermaßen sicher. Im Nachtviertel suchte ihn niemand.

Als erstes steuerte Harry ein großes Haus auf der Nordseite des Marktplatzes an. Hier wohnten Amatrice und Narissa, Tochter und Nichte des Bürgermeisters. Henry wartete in einer dunklen Nische, während Harry sich—auf was für Schleichwegen auch immer—ins Innere des Hauses begab.

Dort tischte er den beiden Mädchen, die ganz entzückt waren, ihn zu so ungewohnter Stunde wiederzusehen, eine Lügenmär auf, die beide zu Tränen rührte. Eine kranke Mutter kam darin vor, ein geldgieriger Heiler, ein betrügerischer Pfandleiher... kurzum, die beiden leerten ihre Geldkassetten und versuchten dabei gar, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wer dem Geliebten in seiner Not mehr Geld ausleihen könne. Zum Schluss drehten beide ihre Kassetten einfach auf den Kopf; Amatrice gewann den Wettbewerb, einfach weil sie als Tochter des Bürgermeisters mehr Geld von ihren Eltern zugesteckt bekam. Die Summe reichte nicht ganz für einmal Brückenzoll. Dennoch bedankte Harry sich ausgiebig bei den Damen—wenn auch nicht ganz so ausgiebig, wie sie es gerne hätten. Er entschuldigte sich damit, dass er seine arme kranke Mutter nicht so lange allein lassen dürfe.[5]

Harry konnte Henry kaum in die Augen sehen, als er ihn in seiner Nische abholte. (Aber er war gottfroh, dass er Henry dort noch vorfand. Auf dem Marktplatz patrouillierten die Nachtwachen nämlich sehr streng, man wollte ja schließlich Hab und Gut der Reichen beschützen. Und so hatte Henry auch mehrmals sich tief in seine Ecke drücken, den Atem anhalten, und zu Gott, dem Allmächtigen beten müssen.)

Als nächstes besuchte Harry Imona. Auch Imona "lieh" ihm, so viel sie konnte, als sie von seiner kranken Mutter erfuhr. Dann ging es zu einem weiteren Mädchen, dessen Adresse auf einem der Liebesbriefchen stand, die sich in Harrys linker, oberer Innentasche (gleich über dem Herzen) drängten; sie hatte mit Mathildchen unterschrieben. Ein unschuldiges Geschöpf, wie sich herausstellte. Sehr unschuldig. Überhaupt nicht Harrys Typ. Und dabei wirklich so unschuldig, dass er nicht daran zweifelte, sie müsse durch ihn überhaupt erst erfahren haben, wie das so funktioniert mit Mann und Frau und dem Klapperstorch. Leider hatte Mathildchen fast ihr ganzes Geld für Tand ausgegeben. Noch immer war der Brückenzoll nicht zusammen. Nicht einmal dreiviertel, und die kurze Sommernacht war bald vorbei.[6]

Das nächste Briefchen in seiner Sammlung stammte von einer Fiona. Fiona weinte, als sie Harry sah. Sie warf sich ihm an den Hals. "Harry", rief sie. "Harry, bitte bleib! Bitte bleib für immer bei mir! Dein Kind trag ich unter dem Herzen! Wenn du mich nicht nimmst, verstoßen wird der Vater mich!"

Harry wusste nicht, was er tun sollte. In seinem ganzen Leben hatte er sich nicht so hilflos gefühlt. Er drückte Fiona an sich, küsste sie aufs Haar, murmelte beruhigende Worte, während seine Augen—ungesehen von ihr—sich mit Entsetzen füllten.

Starr vor Entsetzen war sein Blick noch immer, als er zu Henry zurückkehrte. Er hob beide Hände: in der linken hielt er einen prallen Geldsack—weit mehr, als sie für den Brückenzoll bräuchten—an der anderen Hand befand sich ein Verlobungsring.[7]

"Frag nicht", bat er leise. "Nicht heute. Lass uns einfach hier verschwinden."

Und so eilten sie, als wäre der Teufel hinter ihnen her, zur Zollbrücke hoch.

Als die Wachen, welche den Eingang zur Brücke bewachten, in Sicht kamen, drückte Harry Henry rasch Fionas Geldbeutel in die Hand. Im Osten zeigte sich bereits eine Ahnung von Morgengrauen.

"Geh du zuerst", sagte Harry, weil er Angst hatte, nach Henry könnte schon gefahndet werden. Henry nahm das Geld, ohne ein Wort zu sagen, und verschwand in Nacht und Nebel. Niemand hielt ihn auf. Harry wartete noch eine Weile, dann folgte er ihm.

Der Gang über die schaukelnde Hängebrücke war das gruseligste, was Harry je erlebt hatte. Unter ihm das Nichts, vor ihm das Nichts, und bald auch hinter ihm. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, zerrte an seiner Kleidung, brachte die Brücke nur noch mehr zum Schwingen und zerstreute doch nicht den Nebel. Der Nebel blieb gänzlich unberührt, als seien er und der Wind nicht von derselben Dimension.

Dann schwebte vor Harry plötzlich ein Steintor. Auf einer Hängebrücke aus Tauen und Holzplanken.

Von Toren in die Anderswelt hatte er schon gehört. Dies war auch ein Tor. Ein Tor in eine andere Welt.

Wohin des Wegs, Reisender? fragte eine Stimme in seinem Kopf.

"Nach Kurun", sagte Harry.

Dann tritt ein, sagte die Stimme.


 1. auf Thoru
 2. Die Idee mit der Zweiteilung einer Stadt nach Tag- und Nachtbewohnern (sowie die mit der Zollbrücke) stammt aus Twilight Robbery von Frances Hardinge.
 3. natural armor +1
 4. bloodline spell level 3
 5. Bluff = 26 + 20
 6. Bluff = 23 + 15
 7. Bluff = 29 (natürliche 20)
« Letzte Änderung: 03.10.2014, 00:03:47 von Harry Webster »
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Vom Schicksal verweht
« Antwort #65 am: 01.10.2014, 17:21:54 »
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