Rillfarsell wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, also beeilte er sich. Es ging vor allem darum, einen schnellen Überblick zu bekommen und herauszufinden, wo Obayifos Gemächer waren. Er umrundete einmal schnell das Gebäude, eigentlich nur auf der Suche nach einem offenen Fenster. Doch was er dort sah, ließ ihn kurz stocken. Zwei Männer, in schwere Lederkleidung gehüllt, waren gerade damit fertig, ein Loch auszugraben. Neben dem Loch lag ein Bündel von der Größe eines Menschen, gehüllt in weiße Leinentücher, mit zwei großen roten Flecken - Blut, wie das Feenwesen vermutete. Die Männer hievten die Leiche in das Loch und begannen, es wieder zuzuschaufeln. Dabei machten sie Witze darüber, dass sie dem Toten vielleicht selbst ein wenig Geld hätten geben sollen, damit er seine Schulden bezahlen konnte - so hätten sie sich die mühevolle Arbeit heute erspart. Als einer der beiden erklärte, er hätte allerdings auch nicht auf den Spaß verzichten wollen, ihm eine "endgültige Lektion" zu erteilen, lachte der andere laut auf.
Die Personen in diesem Gebäude kannten keine Gnade, so viel war klar. Rillfarsell musste vorsichtig sein und durfte sich auf keinen Fall erwischen lassen. Zu seinem Glück fand er ein Fenster im ersten Stock, das offen war, und flog dadurch ins Gebäude. Er kam in einen Raum, der ein wenig den Schlafzimmern in der Gaststätte entsprach: Ein großes Bett, ein Spiegel an der Wand mit einer kleinen Kommode davor, eine Sitzecke mit zwei Sesseln und einem kleinen Tisch. Eine junge Menschenfrau saß auf einem der Sessel. Auf dem Tisch stand eine seltsam geformte, bauchige Flasche in einem silbernen Ständer. Eine kleine Kerze brannte unterhalb der Flasche und erhitzte die violette Flüssigkeit darin. Am oberen Ende war ein Schlauch angebracht, den die junge Frau in der Hand hielt und daran sog.
Ihr Blick fiel auf Rillfarsell, der noch immer unsichtbar war, und sie lächelte. "Eine Fee. Eine echte Fee. Lelyna, kannst du sie sehen?" Sie blickte zu dem leeren Sessel neben sich. "Ich sehe die Magie, aus der sie gemacht ist. Wunderschön."
Rillfarsell blieb jedoch keine Zeit, sich mit der jungen Frau zu beschäftigen. Er flog zur Tür, hing sich mit seinem ganzen Gewicht an die Türklinke und öffnete die Tür so. Schnell flog er nach draußen auf den Gang. Er wusste nicht, in welche Richtung er fliegen sollte, also entschied er sich einfach für eine - nach links. Er flog den Gang entlang, und stieß dabei auf eine weitere Gruppe Männer - drei an der Zahl, die an einem Tisch saßen, den man an die Gangwand gestellt hatte, und Karten spielten.
"Was meint ihr, was der Boss mit der Kleinen macht, die ihn umbringen wollte?"
"Mit Sicherheit nichts, was ihr gefällt", antwortete sein Gegenüber böse lachend.
"Da wäre ich mir nicht so sicher", ergänzte der Dritte um Bunde, und die anderen lachten schallend.
Dann ließ der erste Sprecher seine Karten sinken und sah zu den anderen beiden. "Am Ende wird er vermutlich... ihr wisst schon. Was Obayifo ihm gezeigt hat. Ihr Leben für seine Unsterblichkeit."
Die anderen beiden Männer vermieden es, seinen Blick zu erwidern. Einer von beiden schüttelte den Kopf. "Das ist nicht ri..."
Der dritte Mann schlug mit einer Hand auf den Tisch. "Wir sind doch keine Waschweiber. Hört auf zu schwätzen und konzentriert euch aufs Kartenspiel."
Es herrschte einen Moment Schweigen, dann legte der erste Redner eine Karte auf den Tisch. Sie zeigte eine farbenfroh gekleidete junge Frau mit schwarzen Haaren. "Ich beginne mit der roten Hexe. Zehn als Einsatz. Wer geht mit?"
Der zweite Mann zögerte einen Moment. "Hört mal zu. Obas Mädchen oben in seinem Zimmer, das ist eine Sache. Sie ist eine Gefahr, aber ich kann das akzeptieren. Aber..."
Wieder schlug der andere Mann mit der Hand auf den Tisch. "Genug jetzt!" Er zückte eine Karte aus seinem Blatt, und schleuderte sie auf die bereits auf dem Tisch liegende. Sie zeigte einen Mann in schwarzer Kutte, der sich auf einen runenbedeckten Stab stützte. "Der Totenbeschwörer, ich erhöhe um zehn."
Rillfarsell hatte genug gehört. Obas Raum lag also im obersten Stock. Und der Anführer der Wölfe war offensichtlich unsterblich, durch etwas, das Obayifo ihm gezeigt hatte.
Schnell flog Rillfarsell nach oben, und flog von Tür zu Tür, um einen Blick durchs Schlüsselloch zu werfen. Leider konnte er daraus relativ wenig ableiten - welcher Raum Obayifo gehörte, wusste er noch nicht. Doch er hatte Glück. Er sah, wie eine der Türen sich öffnete, und ein weiterer der Gauner heraustrat. Er schloss die Tür hinter sich, und fluchte dann laut. "Als ob ich Obayifos Laufbursche bin. Kommt hier an, zieht den Boss durch irgendwelchen finsteren Magiekram auf seine Seite, und jetzt fängt er auch noch an, uns rumzukommandieren. Verdammt nochmal."
Dann war dies wohl Obayifos Raum. Aber er musste sichergehen. Schnell flog er zu der Tür, und öffnete sie - erneut unter Einsatz seines ganzen Körpergewichts. Er huschte hinein, sah sich kurz um und bemerkte eine junge Frau, die gerade die Kerzen in einem silbernen Kerzenständer anzündete. Das musste Obayifos Gefangene sein. Aber es gab zwei weitere Räume. Er entschloss sich, sie zu erkunden, damit es keine bösen Überraschungen gab.
Das Mädchen sah verwundert zur Tür, und ging hin, um sie wieder zu schließen. Rillfarsell nutzte die Gelegenheit, zur nächstgelegenen inneren Tür zu fliegen und sich in den Raum dahinter zu schleichen.
Es handelte sich um ein Schlafzimmer, mit einem bequem wirkenden Himmelbett mit dunkelvioletten Vorhängen ausgestattet. Ein massiver Schrank und eine große, mit einem schweren Schloss versehene Kiste standen an der dem Bett gegenüberliegenden Wand, und ebenfalls violette Vorhänge verdeckten ein bodentiefes Fenster (was Rillfarsell nach einem kurzen Blick hinter die Vorhänge herausfand).
Rillfarsell sah sich so genau er konnte in dem Raum um, fand aber nichts, das ihm von besonderer Bedeutung erschien, dann machte er sich auf den Weg in den zweiten Raum. Es handelte sich um ein zweites Schlafzimmer, jedoch deutlich freundlicher eingerichtet. Auch hier fand sich ein Himmelbett, allerdings mit weißen, durchsichtigen Tüchern versehen, ebenso wie die weißen Gardinen vor dem Fenster. Eine Schminkkommode stand an der Wand, und eine menschengroße Figur trug ein weißes, kunstvoll gearbeitetes Kleid. In einer Ecke stand eine Staffelei mit einem halbfertigen Bild darauf: Die Zeichnung eines Pferdes in vollem Galopp.
Ein kleinerer Schrank in der Ecke enthielt weitere Damenkleider - vermutlich war dies der Schlafraum der jungen Frau, die drüben den Tisch vorbereitete.
Rillfarsell flog zurück zur Tür, und huschte vorsichtig in den ersten Raum zurück. In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür - und Jurij und die anderen kamen herein. Das Mädchen war sichtlich erschrocken über Jurijs Ankunft, und sprach einige Worte zu ihm. Sie hielt ihn offenbar für Obayifo.