"Moment mal, ich habe hier nichts von einem Mord gesagt", erwiderte Harry, erschrocken über Henrys Anschuldigung, ein Plappermaul zu sein, dem man kein Geheimnis anvertrauen dürfe. "Ich sprach ganz allgemein davon, dass sie vor nichts Halt machen würden, um ihre Ziele zu erreichen. Und wenn ich wirklich wie die anderen 'Roten' wär, hätt ich kein Problem damit."
In weniger defensivem Tonfall (und etwas lauter als zuvor) fuhr er fort: "Although I did take a leap of faith here, da hast du schon recht. Und für dich gleich mit! Als Mann des Glaubens kannst du mir das hoffentlich verzeihen. Es ist normalerweise auch gar nicht meine Art. Tatsächlich hätte ich nichts lieber getan, als mich so unauffällig wie möglich an Jurij vorbeizudrücken, aber dann habe ich seinen Gesichtsausdruck gesehen. Henry, er sah aus wie du gestern nacht, als ich dir die Rückseite deines Zettelchens vorlas. Ich weiß ja noch immer nicht, worum es bei der Drohung ging, aber genauso entsetzt hat Jurij ausgeschaut. Da konnte ich einfach nicht anders..."
An dieser Stelle fiel sein Blick auf Rillfarsell, der mit geneigtem Kopf lauschte, und er runzelte die Stirn. Das war in der Tat seltsam. Jurij hatte er wenigstens schon einmal in Aktion erlebt (jemand, der sich schützend vor einen Verletzten stellte und es—unbewaffnet—mit einer Meute Schläger aufnahm, von dem durfte man vielleicht doch annehmen, dass er kein schlechter Kerl sei) aber wie kam Harry dazu, vor diesem völlig fremden Feenwesen gleich alles auszuplaudern? Hatte dieses ihn etwa bezaubert? Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Es entstand eine betretene, fast schon bedrohliche Pause, bis Harry sich räusperte.
"Zumindest wissen wir jetzt, wie Rubin sich gefühlt hat, als er uns ansprach. Aber wie sagte der gute Mann: Ohne Risiko kein Wissensgewinn."
Dann erinnerte Harry sich an Jurijs Fragen. Nach kurzem Überlegen griff er in die linke innere Brusttasche seines Ledermantels und zog einen Stapel Briefe heraus, von denen er die eine Hälfte vor Jurij, die andere vor Rillfarsell auf den Tisch legte. Beide stellten als erstes fest, dass sie die Schrift darauf nicht lesen konnten, doch als sie ein paar der Briefchen aufnahmen und durchblätterten, wurde ihnen die Art und der ungefähre Inhalt schnell klar:
—das Papier der meisten war parfümiert, und zwar in den unterschiedlichsten Duftnoten;
—die verschiedenen Handschriften waren zumeist eindeutig weiblich;
—etliche enthielten Gedichte, erkennbar an der Zeilenform;
—außerdem war gut die Hälfte mit dem Abdruck von Lippen unterzeichnet (in den verschiedensten Rot- und Rosatönen).
"Nicht eine dieser Eroberungen geht auf meine Kappe. Ich habe die Damen das erste Mal letzte Nacht getroffen, als ich sie um Geld angehauen habe, damit ich für Henry und mich den Brückenzoll zahlen konnte. Lange Story, die ich euch vielleicht ein andermal erzähl. Jedenfalls waren die Damen sehr großzügig.
Wenn euch das als 'Beweis' noch nicht reicht: drei Wochen lang war ich, wie schon erwähnt, an mein Bett gekettet—im übrigen aber allein im Haus, denn Henry und ich waren getrennt worden—und litt dennoch weder Hunger noch Durst. Im Gegenteil: ich wachte regelmäßig mit einem Kater auf oder einem derart vollen Ranzen, dass ich am liebsten den Finger in den Hals gesteckt hätte.
Zuguterletzt: manchmal kommt mir etwas, das ich höre oder sehe, unerklärlich bekannt vor, und bereits zweimal hatte ich gar eine Vision, wie die Erinnerungen einer fremden Person. Einer weiblichen Person.
Ob es einen Weg gibt, den Schaden zu begrenzen, fragst du? Ich hoffe, dass wir da heute abend ein paar Tipps erhalten. In Bezug auf die Schuldfrage kann ich nur sagen: es sind nicht wir, die das tun. Es ist nicht unsere Schuld."
Bei seinen letzten Worten sah Harry jedoch keinen der drei an. Mit den Fingern seiner Linken drehte er—unbewusst?—an einem dünnen Silberring herum, den er an der Rechten trug. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, waren seine Hände zu Fäusten geballt und in seinem Gesicht spiegelten sich Wut und Trauer zu gleichen Anteilen und auch, entgegen seinen Worten, Schuld.
Er räusperte sich abermals. "Aber jetzt seid ihr beide erstmal dran."