Henry verfolgte die Diskussion zwischen Jurij und Harry schweigend. Er wollte sich einschalten und seine Meinung beisteuern, schon allein wegen Aria. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er nicht wirklich eine Meinung hatte.
Die große Politik war ihm grundsätzlich fremd. In Irland lebte man in Clanstrukturen. Streitigkeiten wurden von den Familienoberhäuptern geschlichtet und geographisch übergreifende Angelegenheiten wurden durch allgemeingültige Traditionen und individuelle Absprachen der Clanführer geregelt. Gestützt wurde das System durch eine komplizierte Heiratspolitik.
Erst die Engländer hatten die Idee einer zentralen Regierung nach Irland gebracht. Und dies war nicht gut gediehen. Manche Clans hatten den Aufstand versucht und wurden blutig niedergeschlagen. Erst gerade hatte es eine neuerliche Erhebung gegeben. Das war... kurz bevor aus seiner Welt gerissen worden war, wie sich Henry bitter erinnerte.
Harry hatte zuvor schon mit ihm über Demokratie gesprochen und über diese seltsamen freiheitlichen Rechte. Henry hatte es, ehrlich gesagt, bis heute nicht verstanden, warum diese Regierungsform so eine Faszination auf Harry ausübte. Henry beurteilte die Sache naürlich anders. Es war für ihn schon ein unbehaglicher Gedanke, dass ein ganzes Land nach dem Willen eines Menschen ausgerichtet wurde. Aber er konnte sich damit zufrieden geben, wenn der König weise und demütig war, wie eben König Salomo. Aber wie konnte man wollen, dass ein Land nach dem Willen der Mehrheit von Menschen regiert wurde? "Aber jetzt mal ehrlich Harry, Du kannst doch nicht wollen, dass die Gebildeten und Geachteten denselben politischen Einfluss erhalten wie die Bauern und Idioten? Du wolltest doch nicht wirklich behaupten, dass Du Dich bereitwillig unter den Willen einer Mehrheit beugst, wenn die Mehrheit aus Menschen wie Huckleberry Finn und Homer Simpson besteht?"
"Oh, aber es gibt erstaunlich wenige Idioten", hatte Harry erwidert, "wenn Schulbildung für alle Kinder von fünf bis sechzehn verpflichtend ist, dafür aber nichts schrecklicheres als einen ansonsten intelligenten und gebildeten Menschen, der rassistische Ideologien, Standesdünkel oder sonstige Hassparolen verbreitet, die jeder Logik, ethischem Gefühl und gesundem Menschenverstand spotten. Aber Du hast insofern recht, als dass auch die Mehrheit ein Tyrann sein kann; ein perfektes System gibt es auf Erden nun einmal nicht. Jedenfalls wäre Huckleberry Finn mir als Präsident lieber als George W. Bush."
Henry hatte daraufhin nur den Kopf geschüttelt. Er konnte sich die Überlegenheit des demokratischen Systems einfach nicht vorstellen.
Bevor sie in die Akademie eintraten, fasste sich Henry ein Herz und hielt Aria am Arm. "Aria, ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich ehrlich zu Dir bin. Ich weiß nur nicht, wie ich es Dir einfach sagen soll, denn die Sache ist für mich selbst ziemlich verwirrend. Aber die Sache ist..., nun, ..."
Henry rang ein wenig mit Worten. Er blickte in Arias Augen und dachte wieder einmal, wie hübsch sie doch waren. Er spürte, dass er ein wenig rot wurde. Er hatte jetzt ihre volle Aufmerksamkeit und würde nun nicht mehr das Thema abwiegeln können. Aber wie sollte er es ihr sagen? Es klang doch arg lächerlich.
"Ich sage Dir jetzt einfach wie es ist. Dass wir nicht von hier kommen, das weißt Du schon. Aber wir kommen auch nicht einfach aus einem fernen Land. Wir kommen aus einer anderen Dimension. Wir sind durch den Einfluss einer bösen Macht aus unserer Welt gerissen worden und hier gestrandet."
Henry war vollends errötet und vor Scham stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Was er Aria eben gesagt hatte, musste unglaublich klingen. Er selbst hätte an Arias Stelle gelacht.