Autor Thema: Fragmente  (Gelesen 2000 mal)

Beschreibung: Kurzgeschichten im Degenesis-Setting

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Khenubaal

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« am: 23.05.2015, 12:00:16 »
Hallo Leute,

untenstehend Mal zwei Kurzgeschichten sowie der Beginn eines längeren Stücks von mir, die im Degenesis-Setting angesiedelt sind. Bringt etwas Leben in die Bude, verkürzt die Wartezeit bis zum Spielbeginn und ermöglicht euch ein wenig Einblick in meine Interpretation von Degenesis.

Ich werde im Verlauf der nächsten paar Wochen noch einige Eindrücke speziell zu unserem Abenteuer liefern, um euch den Einstieg zu erleichtern.

Khenubaal

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« Antwort #1 am: 23.05.2015, 12:02:15 »
Aufgabenteilung


Die vielbeanspruchten Bretter knarrten unter den Lederstiefeln. Hagen verließ das Strandgut mit einem gepfiffenen Lied auf den Lippen. Der Schöffe war äußerst guter Laune. Wie immer nach einem erschöpfenden Besuch bei den Apokalyptikern, hatte ihn das Hochgefühl gepackt. In solchen Momenten brauchte er nur die Augen zu schließen; der harte Takt seiner Absätze auf dem gefrorenen Bruchstein ließ die gewaltige, innere Orgel seines Egos aufleben. Das Flehen der Ernährer und die Lustschreie der Mädchen unter ihm vermischten sich zu einer perversen Kakophonie, jagten donnernd durch das Kirchenschiff seines Schädels. In solchen Momenten wähnte Hagen sich mächtig. Er wähnte sich Richter.
   Mit festen Schritten überquerte er den kleinen Platz vor dem Strandgut und wandte sich in Richtung einer verwinkelten Gasse. Der ersten in einer langen Reihe, die ihn schließlich zu seinem Haus im Ernährerviertel bringen würde. Ein paar Schritte, ein paar Takte später hatte ihn die vertraute Dunkelheit der eng stehenden Kalkwände umfangen, das Echo des eben verlassenen Lusthauses verschluckt. Es war ein vertrauter Weg.
   Gleich hinter dem nächsten Haus hörte er ein leises Zischen. Mit einem Grinsen erspähte er den dazugehörigen Schrotter – breitbeinig und doch wankend, mit dem kahlen Kopf an die Wand gelehnt, das Glied von zwei zittrigen Pranken und dem aufsteigenden Dampf umschlossen. Offensichtlich betrunken.
   Ohne das Grinsen abzusetzen trat der Schöffe heran und versetzte dem Mann einen sicheren Tritt in den Rücken. Zwei Lidschläge später lag der Betrunkene mit dem Gesicht in der eigenen Pfütze und Hagen war schon wieder unterwegs. Er hatte wirklich gute Laune.
   Minka hatte es wirklich gut gemacht. Diese balkhanischen Weiber waren einfach unvergleichlich. Er erinnerte sich, wie er früher, anstatt den Bauern die Wechsel für die „Korrektur“ der Formulare abzupressen, ab und zu nach einer ihrer Töchter verlangt hatte. Eine Dummheit des Unerfahrenen. Das Ergebnis war meistens enttäuschend und der ein oder andere, besonders eifersüchtige von diesen hirnlosen Bruchländern drohte auch noch mit Vergeltung. Natürlich waren das nur leere Worte. Als Bauern-Schöffe hatte er die Zügel in der Hand.
   Jeder hatte seine Funktion zu erfüllen in Justitians Gefüge. Seine war es, zu kontrollieren; die der Ernährer, zu ackern; und die der Elstern, nun... Es war nicht verwunderlich, dass sie es besser konnten, als die Bauerntöchter. Hagen mochte diese Unterteilung. Und für seinen Platz hatte er hart kämpfen müssen.
   Ausgesetzt von irgendeiner minderjährigen Schlampe – die Frauen sind sowieso nur zu einem gut – hatten ihn die Straßenkinder gefunden und aufgenommen. Gestohlenes Obst von den Marktständen und erlegte Hunde waren seine Nahrung gewesen, ihr Fell seine Kleindung. Und dann, an einem wolkenverhangenen, grauen Morgen, wurde die ganze Bande bis auf ihn von einem Trupp Protektoren niedergemetzelt. Er hatte sich nie beschwert. Er hatte es hingenommen. Nun war er hier. Und er nahm der Welt ab, was er konnte.
   Hinter der Biegung stahl sich der kränklich gelbe Lichtkegel hervor. Hagen wusste, dass der reifbedeckte Laternenmast in der Mitte des Heinrich-Platzes die Quelle war. Nicht mehr lange und er würde vorbei an der windschiefen Wechselstube von Digit auf das unebene Pflaster treten und dem aufgebrachten Protektor auf der Friedenswehr seine Schöffen-Papiere in den Flintenlauf halten. Keine Sperrstunde für ihn. Er würde sein Recht zum Besten geben und es genießen, während er an dem verlassenen Marktstand vorbeibiegen würde. Die junge Hagari hatte wahrscheinlich schon den Großteil ihres Schlafes hinter sich und würde mit dem ersten Sonnenstrahl wieder hier auftauchen und diesen billigen, selbst gemachten Schmuck weiterverkaufen. Ja, die Hagari... Bei der würde er noch einmal die Ausnahme machen und wieder seine „Jugendsünden“ wiederholen. Zu dumm, dass kein Schöffe Einfluss auf die Ziegenficker hatte. Aber, es ging ihm trotzdem gut, befand Hagen, denn immerhin...
   Ein leises Klackern auf dem Pflaster lenkte den Schöffen plötzlich ab und brachte ihn aus dem Gedankengang. Seine Augen fixierten den Störenfried – einen kleinen Stein, der bis zu der Spitze des rechten Stiefels herangerollt kam und liegen blieb. Hagen blickte auf. Anscheinend kam der Stein aus einem schmalen Spalt zwischen zwei baufälligen Backsteinhütten. Mit einem Grunzen zuckte er die Schultern und ging weiter.
   Beim nächsten Schritt zerriss ein lautes Knarren, als öffne jemand ein ungeöltes Fenster, die Stille. Auf der anderen Seite tanzte noch ein Steinchen durch das Zwielicht. Der Schöffe zuckte erschreckt zusammen. Seine Augen suchten die Dunkelheit ab, während die Rechte das krumme Messer zückte.
   „Wer ist da?“
   Keine Antwort. Ein Rauschen hinter ihm, als würde der Wind einen schweren Umhang bauschen. Hagen drehte sich so schnell um, dass er das Gleichgewicht verlor und auf dem eisbedeckten Stein landete. Nichts. Aus der Gasse, die er gekommen war, gähnte ihm Schwärze entgegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis er ohne den Blick abzuwenden, aufstehen konnte. Die rechte Hand verkrampfte sich immer wieder um den Messergriff, die linke zitterte. Ein Husten hinter dem Rücken. Hagen warf sich herum und zerschnitt mit der Klinge die kalte Nachtluft. Nichts. Nur die Atemwolken aus den eigenen Nüstern.
   „Ich bin ein Vertreter des Gesetzes! Du wirst den Rest deines Lebens in den Lagern schmoren!“
Ein Schritt? Hagen stach in die Dunkelheit. Ein Zischen? Er stach zu. War da was? Er stach zu. Er verlor die Orientierung. Schließlich keuchte er so schwer, dass es in den Ohren rauschte. Also schrie er und drehte sich mit ausgestrecktem Messerarm, bis die Lungen nachgaben.
   Schwer atmend und schweißdurchnässt brach er zusammen. Keine zwanzig Schritte von ihm entfernt schien immer noch der Lichtkegel vom Laternenmast des Heinrich-Platzes in sein Blickfeld hinein. Die Rettung? Hinter ihm erklang plötzlich ein Lachen, dass ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das kaltblütige, siegessichere, kehlige Lachen eines Dämons. Nie waren zwanzig Schritte so weit gewesen.
   Hinter sich hörte er den festen Tritt des Dämons, das Bauschen seines Umhangs. Den kalten Stahl, als es klirrend die Scheide aus beschlagenem Leder verließ. Sein Blick war auf das Gestein zwischen Händen und Füßen gerichtet. Er konnte sich nicht dazu zwingen, sich umzudrehen. Es reichte nur noch, aufzuspringen und zu rennen.
   Er war schnell. Er war schon immer schnell gewesen. Als kleiner Junge, bei ihren Beutezügen auf den Marktplätzen hatten sie jeden Obstverkäufer abgehängt. Fast geschafft, nur noch ein paar Schritte. Es würde klappen.
   Ein stechender Schmerz in der Magengrube nahm ihm die Sicht. Er schlug hart auf dem Pflaster auf und nahm den Einschlag nur als entferntes, dumpfes Dröhnen wahr.
   Plötzlich ist der Filmriss vorbei. Sein Kopf wird nach hinten gezogen und er hört sich selbst aufächzen, schmeckt das Gemisch aus Eis und Blut auf den Lippen. Der Killer beugt sich hinunter und legt ihm den kalten Stahl des Messers an die Kehle. Der Henker hat ihn völlig im Griff und der warme Atem am Ohr des Schöffen, nimmt ihm den letzten Rest Willen.
   „Erpressung – strafbar gem. § 144 Abs. 1 Satz 3 des justitianischen Kodex. Annahme von Bestechungsgeldern – strafbar gem. § 152 Abs. 3 Satz 1 des justitianischen Kodex. Angeklagt und für schuldig befunden.“
   Die Worte sickern wie flüssiges Blei in die Ohren des Schöffen. Entsetzen lähmt seine Sinne. Er versucht etwas zu sagen und verschluckt die Zunge. Er jappst nach Luft, als wolle er das gesprochene Urteil wieder aus sich herausspucken. Doch vergebens. Eine geübte Handbewegung und der saubere Schnitt erlöst ihn von der Agonie, schafft den nötigen Abfluss für das flüssige Blei. Der nasse Körper klatscht zurück in die eigene Blutlache, während der Schwarze Richter behutsam das Messer abwischt und aufsteht. Ohne Eile ordnet er das verrutschte Stirnband und greift nach der Flinte, die ihm über den Rücken hängt. Er ritzt eine weitere Kerbe hinein – 18. Danach wendet er sich ab und verschmilzt mit der Dunkelheit. Um die Leiche werden sich andere kümmern. Jeder hat seine Funktion in Justitian.
« Letzte Änderung: 23.05.2015, 15:44:38 von Khenubaal »

Khenubaal

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« Antwort #2 am: 23.05.2015, 12:10:04 »
Nachwehen des Weltenbrandes

   Nach einer gewissen Zeit wird jeder Guererro trotz der ständigen Gefahr in Ruhe schlafen, essen und sogar einen hochkriegen können – oder sterben.

Anonymer Guererro

   Raschelndes Blätterwerk unter der gebräunten Haut. Der lang gezogene Seufzer eines sich zur Entspannung lang ziehenden Körpers. Conchita schlug die Augen auf.
   Durch das löchrige Tuch des Zeltdaches hatten sich die ersten Sonnenstrahlen gefressen. Von draußen her drangen bekannte Stimmen zu ihr durch, bis das rauschige Gedröhne aus Rauls Schrottkiste alles überlagerte – er nannte es Musik. Neben ihr schlief Gaizka ungestört weiter. Sie rieb sich mit den Fingern die schläfrigen Augen wach, wünschte sich gleichzeitig einen ebenso festen Schlaf und stand auf. Ein Morgen, wie jeder andere. Mit angeborener, dann in Jahren verfeinerter Beweglichkeit band sie sich die orangene Schärpe um die Hüften, schlüpfte in lederne Tarnhosen und Shirt. Ein Dutzend Knöpfe wurde geschlossen, der Dolchgürtel angelegt, die Schnürsenkel der schwarzen Wildlederstiefel festgezogen, Schnallen angezerrt, die Haare zurückgebunden. Das altgediente Gewehr hatte sie im Vorbeigehen reflexartig aufgegriffen. Als ihre Hand wenige Sekunden später den Vorhang beiseite riss, war der Guererro bereit zum Krieg.
   Doch der vom Gemetzel geschüttelte Dschungel hielt zumindest für den Augenblick nur den ersehnten Geruch gebratenen Specks für sie bereit. Am Fuße eines der Baumriesen hatten die drei gestern eingetroffenen Jehammedaner ein kleines Feuer gemacht und verzehrten nun die Früchte ihrer Arbeit. Alle drei waren in einfaches, haltbares Leder gekleidet. Conchita bemerkte die punktierte Tätowierung, die sich an der Wange des Mädchens hinaufzog und versank für den Moment in das unterbewusste Spiel, diese zu entschlüsseln, aber die Saraeli zerschlug diesen Gedankengang mit einem Blick, der giftsprühender nicht hätte sein können. Dann hörte sie Raul.
   „Morgen, Chito.“
   „Morgen.“ Sie lächelte zurück und nahm ein Stück Speck und einen Metallbecher mit ungemahlenen Weizenkörnern entgegen. „Dank’ dir.“ Es schmeckte gut.
   „Bedank’ dich lieber bei den Ziegenhirten. Wären die nicht gewesen, würdest du für die nächste Woche nur Weizen zu kauen haben.“ Der hünenhafte Rothaar kniete inzwischen wieder vor dem Recorder. Conchita beobachtete amüsiert, wie er mit einem Schraubenschlüssel in den Innereien des antiken Geräts rumfummelte. Das Rauschen wurde bei dieser inzwischen schon regelmäßigen Behandlung mal schwächer, mal stärker, verschwand aber nie ganz. Raul behauptete immer, dieser letzte Rest „gehört dazu“. Die anderen zweifelten lächelnd.
   „Wie heißen die denn?“ Conchita sprach leise.
   „Was? Ach so – das Mädel soll Sarah heißen. Die Jungs haben noch kein Wort geredet, außer miteinander.“
   Die Guererro sah wieder hinüber, doch das punktierte Antlitz machte mehr als deutlich, dass ihr Dank weder erwartet noch erwünscht war. Sie prostete trotzdem mit dem Becher zu und schlang dann den Inhalt hinunter.
   „Hier – zum Nachspülen.“ Raul hatte ihr – immer noch kniend – über den Rücken seinen Plastikflachmann gereicht. Conchita ahnte, wartete absichtlich ein paar Sekunden und ergriff das Gefäß in dem Augenblick, als der Hüne die Haltung verlor und rücklings auf die feuchte Erde krachte.
   „Scheiße!“ Offensichtlich hatte er dabei auch noch einen leichten Stromschlag abgekriegt. Conchita gluckste, trank und ließ sich neben dem Freund auf die Knie fallen.
   „Hier.“ Sie hielt ihm den Flachmann hin. „Du solltest dir einen neuen besorgen. Rattenpisse würde besser schmecken.“
   „Zum Glück ist die Kiste nicht durchgebrannt.“ Raul setzte sich auf und fuhr sich über den Vollbart. Conchita holte eines ihrer Messer raus und begann an einem Stück Holz zu schnitzen.
   „Sarah, hm? Besonders originell sind die auf dem Land ja nicht.“
   „So lange die Fleisch mitbringen und schießen können, kann ich auf Originalität verzichten.“ Raul hatte seinen Rucksack zum Kissen gemacht und sich ausgestreckt. Es schien, als würde er glauben, wenn er lange genug auf das Blätterwerk starre, werde dieses durchsichtig und er könne den blauen Himmel sehen.
   „Schön für dich. Kannst du mir aber sagen, warum die mich anstarrt, als wäre ich eine von den Hyänen? Meine Haut ist gebräunt, aber so dunkel bin ich auch nicht.“
   Der Hüne lächelte. „Das hängt eher mit deinem Nachtleben zusammen.“
   „Wie bitte?“ Conchita hatte das Messer sinken lassen.
   „Anscheinend sind bei denen Lustschreie bei Nacht nicht so angesagt. Besonders bei der Bande: Zwei Halbwüchsige und eine Pseudoheilige. Ich kann mir vorstellen, dass das…“ Er brach in einem hustähnlichen Lacher ab.
   „Pf.“ Die Spanierin verzog das Gesicht. „So wie ich das sehe, ist sie nur neidisch.“
   „Was?“
   „Nichts. Kannst du das Ding nicht leiser stellen? Ich hab’ keine Lust zu schreien.“
   „Nicht jetzt.“ Der Guererro hatte die Augen geschlossen. „Das ist mein Lieblingslied.“
   Conchita zügelte die Lautstärke selbst. „Dein Lieblingslied. Du hast seit Jahren nur die eine Scheibe, die du dir jeden Tag anhörst. Du kennst schon alle zwölf Texte auswendig, obwohl du kein Wort von dieser Sprache verstehst. Und uns andere hast du schon so weit, dass wir wissen, dass es zwölf Stücke sind. Das ist krank, Raul.“
   „Das ist nicht krank, das ist…“
   „…Hingabe.“ Beendete Gaizka den Satz.
   „Morgen, Gai.“ Die Guererro war aufgestanden. Er küsste sie.
   „Morgen. Morgen, Raul.“
   „Morgen, Chef.“
   Gaizka löste sich aus der Umarmung begann sein Frühstück hinunterzuschlingen. Die Fingerbewegungen lösten ein Mimenspiel der nackten Oberarmmuskeln aus.
   „Sag mal, was haben denn die Neulinge gefressen? Die sehen mich an, als gäb’s ein Problem.“
   Conchita hatte sich hingesetzt und schnitzte weiter. „Ach, das ist wegen heute Nacht.“
   „Wie?... Ach so!“ Der Gruppenführer gluckste. „Na ja, jemand sollte denen sagen, dass ich darauf nicht verzichten werde.“
   Gelächter – wie immer mit fadem Beigeschmack. Dafür war jetzt nicht die Zeit. Dafür schien nie die Zeit. Gaizka sah sich das Lager an.
   „Wo sind die anderen? Mago und Ruben noch nicht zurück?“
   „Nein.“ Raul setzte sich auf. „Die beiden sehen sich noch einmal die Gegend um den Bach an. Wird wohl noch ein paar Stunden dauern. Und Palermo ist mit Hector im Süden auf der Lauer. Nahe Cordoba.“
   „Ja, Cordoba. Nicht mehr lange und wir können die Hyänen wieder in ihre Löcher vertreiben. Aus unserer Stadt.“
   „Es ist ’ne gewagte Sache, Gai.“ Raul warf einen Stein ziellos zwischen die Bäume. „Würdest du nicht daran glauben, käme es mir noch heute wie Wahnsinn vor.“
   „Kein Wahnsinn, Freund. Nur Können.“ Kurzes Schweigen trat ein, doch die Tage, wo die Nostalgie sich noch entfalten konnte lagen weit hinter den Überlebenden von heute. „Eins nach dem anderen. Erstmal sollten wir den Überfall von heute Abend vorbereiten. Wir haben zwei Kisten Munition und drei Granaten. Was bringen die Jehammedaner mit?“
   „Drei funktionsfähige Rohre und eigene Munition. Keine Extras.“
   Gaizka winkte ab. „Ist auch gut. Wir brauchen heute nicht zu sparen. Wenn es glückt, haben wir genug Munition für die nächsten Wochen.“
   Conchita hatte sich vorgebeugt. „Welcher Plan schwebt dir vor?“
   „Klassischer Hinterhalt. Nichts besonderes an sich – nur der Ort ist Ideal. Diese Senke scheint fast für so einen Angriff angelegt worden zu sein. Den Rest erzähl’ ich, wenn alle zurück sind.“ Er stand auf. „In der Zwischenzeit seh’ ich mir die Senke noch einmal an. Will jemand von euch mit?“
   Conchita lehnte sich wieder an den Baum. „Nein ich bleib’ hier.“
   „Ich auch. Ich hau’ mich noch mal aufs Ohr.“
   „Gut.“ Einige Augenblicke später war Gaizka zwischen den Bäumen verschwunden.
   „Noch mal schlafen? Was machst du denn bitte nachts?“
   Raul kicherte. „Du magst es nicht glauben, aber euer Gestöhne ist auch für Atheisten störend.“
   „Leck’ mich.“
   „Mit Vergnügen, aber ich nehme an, das war nicht ernst gemeint.“
   Conchita musste sich auf die Zunge beißen, um das reflexartige, zweite „Leck mich“ abzufangen.

   Glück und Pech sind niemals zufällig, sondern immer eine Frage der Betrachtungsweise.

Anonymer Guererro

   Zwielicht. Das allerletzte, für einen selbst unhörbare Knacken eines Herbstblattes unter dem Stiefel war ein Dutzend Lidschläge zuvor verklungen. Sechs Spanier und drei Gläubige hatten sich auf die Lauer gelegt – hingekniet, angespannt bis auf den letzten Muskel und doch lautlos, unsichtbar. Und die Senke schien wirklich perfekt für einen Hinterhalt zu sein. Während in den dicht bewachsenen Hängen das Dreifache an Guererros hätte Schutz finden können, war der ausgetretene Pfad schmal und schnell zu erreichen. Sie hatten kaum glauben können, dass die Geisler diesen Weg wagen würden. Aber inzwischen war es sicher, zwei Buggies samt Besatzung waren hierher unterwegs.
   Conchita versuchte ihren Atem zu beruhigen, das Kribbeln im Bauch verstummen zu lassen. Es war der Augenblick der Ruhe vor dem Sturm, als der Feind schon nah genug ist, um den Guererro in völlige Spannung zu versetzen, aber noch zu fern, um ihn zum Anlegen der Waffe zu bewegen. Über diesen Augenblick sagte man, er ist der sicherste im Leben eines Untergrundkämpfers. Der einzige, an dem es dem Guererro gestattet war, sich darüber zu wundern, wie viele Grautöne das Schattenreich doch bieten kann. Irgendwann zerriss das Jauchzen der Motoren die unvollkommene Stille des Dschungels – wurde lauter. Ließ den Augenblick verkommen, zusammenschrumpfen. Sie legten an und zielten.
   Dann war er vorbei.
   Die Buggies kamen nicht.
   Die Welt begann zu stürzen.
   Das Knattern von Automatikwaffen dröhnte durch die Senke - aus verschiedenen Richtungen. Conchita hatte sich in das hohe Gras geworfen, spürte den Luftzug über sich. Durch den Wirrwarr im Grün erkannte sie die schwarzen Leiber in Totenmasken, ahnte weitere hinter dem eigenen Rücken. Sie brachen über die Anhöhe herein. Über die gleiche Anhöhe, die kurz zuvor sie selbst genommen hatte. Ein Hinterhalt in einem Hinterhalt. Gaizkas Worte hallten nach: „Die Senke scheint fast für diesen Überfall gemacht.“ So viel Glück hat kein Guererro.
   Schreie füllten die Kurzpausen des Stahlgewitters. Die blutbesudelten Leiber der drei Jehammedaner klatschten nass auf den feuchten Boden der Senke. Auf der anderen Seite sah sie Palermo aus der Deckung torkeln. Er schoss, ziellos, traf dennoch einen der Geißler am Arm, ließ diesen hyänenartig aufjauchzen. Dann fiel der Guererro zu Boden. Erst im letzten Augenblick hatte sie es bemerkt – er hatte keinen Unterkiefer mehr. Conchita kreischte auf – so laut, dass die Lungen nachgaben. Dann lag sie auf dem Rücken und schoss. Und die Totenmasken schienen zu lachen.
   Das Bewusstsein endete hier. Wie es immer endete, wenn es so weit war. Es begann der Rausch – das Einzige, was durch eine Schlacht tragen kann. Egal wer man ist, wie man ist – wenn es zum Kampf kommt, Mann gegen Mann, wenn eigenes und fremdes Überleben eine Kugel Blei, eine Handvoll Stahl bestimmen, wird Homo Sapiens, Homo Degenesis und alles, was dazwischen liegt, auf das innere Tier reduziert, das nur Kampf ist, und Schmerz, und unendliches Flehen. Und das Tier Conchita kämpfte.
   Später wusste sie nicht mehr, wie viele Magazine sie abgefeuert hatte, wie lange sie die Hyänen narren, sich ihnen entziehen, wegducken und –rollen konnte. Alles verkommt im Rausch zu einem ganzen das ob der Überfüllung keinen Sinn ergibt. Man behält nur Schnappschüsse zurück – furchtbare Schnappschüsse. Eine Blutfontäne, entsteigend aus dem braunen Körper, der, sich in  Todeszuckungen windend, zu dem frischen Massengrab hinunterrollt. Eine fünfköpfige Schlange, wie sie sich, um dicke Äste gewunden, mit sich selbst unterhält. Rauls haarige Brust, benetzt von eigenem und fremdem Blut, durchlöchert, leblos. Einen Mann mit zwei verschiedenen Gesichtern – eins Totenmaske, das andere zerschossen – und er spricht mit dem zerschossenen Gesicht, während die Maske lacht. Gaizka, ihren Gaizka, der das Gewehr weggeworfen hat und im Ringkampf den breiten Dolch einem Geißler durch das Brustbein stößt. Seine Augen lächeln zu ihr hinüber, so wunderschön und voll von Trauer, und eine Sirene – geboren aus ihren Schreckensschreien – sitzt auf dem Ast über ihm und singt die Lieder aus Rauls Schrottkiste. Dann fliegt eine Kugel herbei und Gaizkas Lächeln verschwindet.
   Der Schuss holte sie in die Wirklichkeit zurück. Der Gesang verstummte, wurde wieder zu Geschrei. Sie sah zwei Geisler auf sich zustürmen, mit Netzen. Richtete die Waffe, feuerte. Das leere Magazin begann zu knittern, doch es hatte gereicht. Die letzten Kugeln hatten beide Feinde durchsiebt.
   Ein harter Schlag traf sie am Hinterkopf. Sie kullerte zu Boden, die Senke hinab und schlug weich auf, versank in den Armen ihres Gaizka, in seinem Blut. Die Hände ließ sie sinken. Um sie herum trommelten Füße. Die Hyänen sammelten sich um das grausige Totem. Kein Schuss mehr – alle tot. Der letzte Atemzug. Sie bewegte sich nicht.
   Gelächter, Jubel, Siegesschreie – das unverständliche Gezänk des Feindes, durchsetzt von Tierlauten. Sie sehnte den Schuss herbei. Harte Arme ergriffen sie, drehten sie um – mit dem Gesicht zu den Totenmasken, den Rücken an den Leichenberg gelehnt. Einer der Geißler, nein, alle bis auf einen, verspotten sie. Einer tritt vor, krächzt durch die Maske hindurch und legt schließlich sein Gewehr an – der Lauf endet einen Fingerbreit vor ihrer Stirn. Er drückt ab. Ein anderer Geißler, mit einem Helm, ist schneller, kommt herbei und zieht den Lauf nach oben. Der Schuss hallt in ihrem Kopf, verscheucht die ersten Aasvögel. Dann Stille. Alle sind verwundert. Plötzlich jaulen Ölmotoren auf.
   Die Buggies kommen doch.
« Letzte Änderung: 23.05.2015, 15:53:29 von Khenubaal »

Khenubaal

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« Antwort #3 am: 23.05.2015, 12:34:42 »
Toter Richter

   Kräftige Hufen wirbelten Staub auf. Das Wiehern verscheuchte die gesetzlosen Halbwüchsigen in alle Ecken und Ritzen des gottverlassenen Hinterhofes. Die drei Reiter zügelten ihre Pferde, der vorderste klopfte Staub von seinem Ledermantel und schob den Hut in den Nacken, um besseren Überblick zu bekommen.
   „Stukov – Archot sollte dieses Drecksloch mit der Flinte säubern lassen“, sagte einer der anderen. Dann lehnte er sich zur Seite und spuckte auf den Boden. Im grauen Staub entstand ein dunkler Flecken Matsch. „Bei so viel Abschaum steigt einem die Jauche hoch.“
   Der Vordere grinste und nahm die Sonnenbrille ab. Mit behandschuhten Händen fuhr er über die Gläser, um den Schmutz abzuwischen. „Wenn dich das so wurmt, solltest du es dem ersten Richter vortragen. Und zwar möglichst schnell, bevor du in deiner eigenen Spucke ersäufst.“
   Das Gekicher der Hintermänner wollte sich aufbauen, starb dann aber abrupt ab, als sie die Gestalt in den Schatten bemerkten. Ein Junge – wohl um die zwölf Jahre alt – versuchte ungesehen zu einer der windschiefen Holzhütten zu gelangen. Der herrische Ruf des Richters nagelte ihn bewegungslos an den Boden. Ohne Eile ließen die Reiter ihre Pferde herantraben. Keine zehn Schritte von ihm entfernt hielten sie an.
   „Sieh mich an, Junge!“
   Das verängstigte Kind drehte sich zitternd zu den Reitern und hob nur zaghaft das Gesicht. Die Augen schauten trotzdem nach unten. Seine Kleidung war nichts als Lumpen. Mit nervösen Griffen suchte er seine Taschen ab, bis seine Rechte – zeitgleich mit einem Seufzer der Erleichterung – die Bürgerpapiere zu Tage förderte.
   Einer der Hintermänner schnaubte: „Armer Knirps.“
   Der Vordere warf ihm einen scharfen Blick zu: „Also bis jetzt sehe ich nur einen vorbildlichen Bürger, Protektor.“
   „Schon gut, Hagelganz. Spiel’ dich nicht so auf.“
   Hagelganz wandte sich wieder dem Jungen zu und bedeutete ihm mit einer lässigen Handbewegung, die Papiere zu verstauen.
   „Weißt du, wo ich Richter Heiden finde, Junge?“
   Der Halbwüchsige nickte und deutete dann mit der Hand. Der Richter folgte mit dem Blick dem Zeigefinger und sah die windschiefe Hütte am Hang eines kleinen Walls, der sich unweit neben der sich weiterschlängelnden Gasse erhob. Eine Reihe weiterer Hütten – anscheinend von Schrottern und anderem Gesindel bewohnt - säumte den Vorsprung. Kaum eine war groß genug, um ein einziges Pferd aufnehmen zu können.
   Da Hagelganz immer noch nicht geantwortet hatte, deutete der Junge noch einmal. „Da oben.“ Es hatte ihn sichtlich Kraft gekostet, die Worte hervorzubringen. In dieser Gegend sah man sich nur äußerst ungern allein drei Richtern gegenüber.
   Hagelganz nickte. „Geh schon.“ Der Junge verschwand zwischen zwei baufälligen Häusern. Die drei Reiter starrten immer noch zu der ärmlichen Behausung hinauf. Einer der Protektoren schüttelte den Kopf.
   „Grauer Staub, graue Steine, morsches Holz, gehässige graue Gesichter und grauer Himmel. Man muss echt einen an der Waffel haben, um freiwillig hierher zu ziehen. Der letzte Schöffe hat es besser.“
   Hagelganz nickte ohne den Blick abzuwenden. „Was den Himmel angeht – der ist überall grau. Aber an sich hast du schon Recht. Ich frage mich, was einen Mann dazu bringen kann, sich in diesem Schandauffangbecken niederzulassen.“
   „Ab und zu hört man die älteren noch von ihm reden. Er soll einer der besten gewesen sein. Fragt mich nicht, wie das möglich sein soll, ich verstehe es auch nicht.“
   „Ja, aber irgendwas muss wohl dran sein. Wie sonst lässt es sich erklären, dass dieser Fall so jemandem übertragen wird?“ Hagelganz ließ instinktiv einen letzten prüfenden Blick über den Hang schweifen, dann drehte er sich zu seinen Begleitern. „Ich sehe dann mal nach, ob ich ihn finde. Wartet hier, okay?“
   Ohne auf Antwort zu warten gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte den Hang hinauf. Die beiden Richter hinter ihm saßen ab.
   „Lass dir Zeit.“ Einer zog selbst gedrehte Zigarre und Streichholz aus der Satteltasche und entzündete die Flamme an einem der Riemen. Er beruhigte das Tier kurz und lehnte sich dann gegen dessen Rücken. Entspannt nahm er den ersten Zug und sah wie das kleiner gewordene Gebilde aus Reiter und Pferd entzweibrach – Hagelganz war vor der Hütte abgestiegen.
   Aus der Nähe sah sie noch erbärmlicher aus. Als hätte ein Sturm Trümmer aus dem Technikcentrum herbeigeweht und achtlos zusammengeworfen. Die kränklichen Balken bildeten schiefe Wände und ein unregelmäßiges Dach. Die Glaseinfassung im einzigen Fenster war völlig verdreckt und hatte einen Riss. Als Tür fungierte eine rechteckige Eisenplatte, befestigt an zwei verrosteten Stahlringen.
   Hagelganz schüttelte nur den Kopf. „Was für ein Loch.“ Dann ging er mit langsamen Schritten zur Tür und klopfte gegen das Metall. Ein leises Stechen. Als er die Hand betrachtete, klomm ein kleiner Blutstropfen am Rücken des Zeigefingers durch den Handschuh. Der Richter schnaubte nur.
   „Na toll. Wenigstens ist keiner von den Kalkschädeln hier, um mich gleich Mal unter Quarantäne zu stellen.“ Er wischte das Blut an der Hose ab und klopfte abermals – diesmal vorsichtiger. Es rührte sich immer noch nichts. Mit langsamen Schritten ging er zum Fenster und versuchte hindurchzuschauen, nur um von der grauen Wand eines löchrigen Vorhanges abgewiesen zu werden.
   „Bastard.“ Seine Stimme war nur ein Zischen. Auf dem Weg zu seinem Pferd schlug er noch einmal heftig gegen die Eisenplatte, so dass der Krach durch die belebte Ödnis des Hinterhofes hallte. Halb im Sattel, ließ ihn jedoch das Kreischen der verrosteten Eisenringe innehalten. Die Tür war aufgemacht worden.
   „Kommen Sie rein, Advocat.“
   Der Mann sah wie ein gesetzloser Bettler aus. Langes, zerzaustes, graues Haar, ein unkontrolliert wuchernder Bart, tiefe Furchen im ganzen Gesicht und müde Augen. Der ausgemergelte Körper eines Greises, bedeckt mit vom Alter gebleichten Leinen, barfuss.
   Hagelganz konnte den Ekel nur schwerlich verbergen. „Richter Heiden?“
   Der Mann nickte. „Wenn Sie so auf Titel stehen – ja.“ Die Geringschätzung schien Hagelganz ins Gesicht zu schwappen. Seine Wangenmuskeln spannten sich und schluckten schließlich die Flüche hinunter.
   „Nach § 16, Absatz eins, Satz eins der Stadtordnung sind Bürger der Unterstadt verpflichtet, ihre Fenster jederzeit einsehbar zu halten.“
   Heiden verzog das Gesicht zu einer Fratze. „§ 16, Absatz drei, Satz zwei befreit Richter jedoch von dieser Pflicht. Ich kenne den Kodex, Advocat.“
   Die Grimasse auf seinen Lippen sollte wohl ein Lächeln sein.
   „Haben Sie mir noch etwas zu sagen? Oder kommen Sie nur wegen der Fenster vorbei?“
   „Ich habe einen Auftrag von der Richterschaft.“ Hagelganz spuckte die Worte förmlich hinaus.
   Heiden nickte. „Wie gesagt – kommen Sie rein.“
   Die Hütte sah von innen nicht besser aus, als von außen. Heiden scharte mit den Füßen die faule Brühe aus leeren Flaschen, mottenzerfressenen Decken und allerlei metallischem Plunder beiseite, als wolle er ein Meer aus Jauche teilen. Hagelganz sah sich um, stieß mit dem Stiefel eine der Flaschen an und ließ sie ein altes Holzbrett hinunterkullern. Es stank nach menschlichen Ausdünstungen und schlechtem Destillat.
   „Wo ist Ihr Vorderlader, schon verscherbelt?“
   „Da drinnen.“ Heiden deutete auf die einzige intakte Kiste in der Hütte, die kaum groß genug war um allen Tand und die beiden Männer zu fassen. „Genauso wie Kodex und Mantel.“
   Hagelganz schnaubte. „Ich dachte, den Kodex haben Sie im Kopf.“
   Plötzlich hatte der Protektor eine volle Flasche in der Hand. Ohne auf den Gast zu achten warf er den Kopf in den Nacken und nahm einen großen Schluck. Danach fuhr er sich mit dem Ärmel über den Mund. Ein Seufzer erneuerte den Gestank. Hagelganz trat angewidert zurück.
   „Hören Sie zu, Advocat. Was Sie – oder jemand anders – von mir halten, ist mir mehr als egal. Also spucken Sie endlich aus, warum man Sie hergeschickt hat und erlösen Sie mich von Ihrer Anwesenheit. Die beiden Protektoren unten werden wohl nicht ewig warten.“
   Hagelganz zog die Brauen zusammen. Er war sich sicher gewesen, dass dieser Mann in seinem Zustand nicht einmal einen Gendo in der eigenen Hütte bemerkt hätte.
   „Ich fürchte, Sie werden mich noch eine Weile ertragen müssen. Man hat Ihnen einen Fall übertragen. Es geht um Mord, Richtermord.“
   „Aha.“ Heiden hatte kurz in seinen Bewegungen inne gehalten. Nun fuhr er damit fort, die Flasche zu verstauen. „Warum ich?“
   „Finden Sie, dass das die angemessene Frage auf meine Worte ist, Protektor?“ Hagelganz suchte die Augen des Richters – dieser würdigte ihn keines Blickes.
   „Vielleicht nicht – aber es ist die, die sich mir aufdrängt. Und Ihnen doch auch, Advocat?“
   „Das will ich nicht abstreiten. Der Befehl kommt von der obersten Kammer, fragen Sie also die, wenn die Neugier Sie quälen sollte.“
   Heiden ließ die flache Hand auf die Kiste klatschen. „Der Befehl kommt von ganz oben?“
   Hagelganz nickte. „Ja.“ Langsam nervten ihn diese Fragen. „Machen Sie sich fertig – wir sollten aufbrechen.
   Heiden hatte sich schon vor der Aufforderung daran gemacht, die Kiste aufzuschließen. Die verrosteten Angeln kreischten qualvoll auf. „Wieso wir?“ Die Frage kam wie beiläufig.
   „Ich bin Ihr Assistent in dieser Sache.“ Hagelganz schien bei den Worten innerlich aufzustöhnen.
   Die rissige Stimme des Protektors erbrach einen Lacher. „Na dann. Es wird Zeit, dass Sie Ihren Namen nennen, Advocat.“

* * *

   Sie gingen zu Fuß. Hagelganz hatte darauf verzichtet aufzusetzen, so lange sein unfreiwilliger Begleiter kein eigenes Pferd hatte, und die Vorstellung die Hundert Meter zu den anderen mit diesem Mann am Rücken zu reiten war nicht seine angenehmste gewesen – trotz der Veränderung.
   Es waren weder Ledermantel und Schlapphut, noch Kodex und Vorderlader, die den Protektor verwandelt hatten, es war die Art dieser Dinge an ihm. Das Leder saß, wie angegossen, unterste und oberste Schnalle waren offen und zeugten nicht von Unordnung, sondern von Bewegungsfreiheit. Der Schlapphut schirmte das Antlitz ab und ließ trotzdem das Blickfeld frei. Die geladene Muskete baumelte an der rechten Schulter und wäre im Notfall schnell einsatzfähig. Wo früher ein Greis gestanden hatte, sah Hagelganz nun einen sehnigen und erprobten Richter.
   Doch das Lächeln auf seinen Lippen nahm der Illusion die Vollendung, das Gemüt und die Fahne des Mannes waren unverändert geblieben. Hagelganz begann die Anhöhe hinabzusteigen. Die beiden Protektoren warteten schon.
   „Na das hat ja nicht sehr lange gedauert.“ Einer der beiden spuckte den Zigarrenstummel auf den Boden, trat ihn aus und nahm die Sonnenbrille ab.
   Hagelganz blieb stehen und zügelte das Pferd. „Richter Heiden, dass sind die Protektoren Kerner und Maninski. Sie sind angewiesen, uns an den Ort des Verbrechens zu eskortieren.“
   Heiden lächelte und tippte sich an den Hut. „Sie haben gesagt, ich leite die Ermittlungen, Advocat.“
   „Stimmt genau.“ Hagelganz warf dem Protektor einen fragenden Blick zu.
   „Gut. Dann entlasse ich jetzt die beiden Männer. Sie können zurück reiten. Nur lassen Sie eines der Pferde hier.“
   Das Lächeln des Protektors wurde breiter. Heiden labte sich an dem Panorama. Hagelganz’ Antlitz zeigte nur Erstaunen, Kerners Wangenmuskeln schluckten Wut hinunter, Maninski tätschelte mit einem überheblichen Lächeln die Mähne seines Rosses.
   „Der Mord hat sich im Technikcentrum zugetragen“, sagte Hagelganz schließlich.
   „Und?“
   Die Richter tauschten Blicke aus. Maninski grunzte.
   „Nach der Säuberung ist es dort im Moment nicht gerade sicher.“
   Heidens gehässiges Lachen ließ die Pferde schnauben. „Na das passt doch zu der Richterschaft. Alles niedertrampeln und sich dann wundern, dass die Scheiße am eigenen Stiefelabsatz die falsche Pflanze gedüngt hat.
   Ach, kommen Sie, Advocat. Sie, der Sie doch so sehr von sich und der Richterschaft und ihrem Büchlein mit einem Haufen von gekritzelten Anweisungen überzeugt sind, wollen mir doch nicht sagen, sie hätten Angst vor einem Haufen Schrotter auf Entzug?“
   Die beiden Protektoren hielten sich zurück. Hagelganz’ Adamsapfel zuckte. „Es wäre unklug, dieses Risiko einzugehen.“
   „Unklug?“ Heiden seufzte, spielte den Nachdenklichen. „Tja, war es den Klug gewesen, den Burnfluss öffentlich und radikal abzuschneiden, während die halbe Stadt auf Droge ist? Wie auch immer, ich habe nicht vor mit einem Kleinverband durch die Schrotthalde zu reiten und die halb verrückt gewordenen Leute auch noch zu provozieren. Also, Junge, entweder kommen Sie jetzt mit und wir beide reiten zum Tatort, oder Sie machen sich auf in die Hochstadt und bitten um Versetzung.“
   Kerner sog scharf die Luft ein. Es sollte unauffällig sein, doch in der entstandenen Stille schnitt die Gebärde durch die Luft. Hagelganz’ Blick ließ den Protektor krampfhaft ausatmen und sich abwenden. Das Pferd des Advocaten scheute plötzlich – seine Faust hatte sich zu stark um den Hals des Tieres verkrampft. Als er sprach, schien es, als wolle er Heiden in den Boden starren.
   „Maninski, überlassen Sie Richter Heiden Ihr Pferd. Ihr Auftrag ist hiermit abgeschlossen, Sie sollten sich in der Hochstadt melden. Kerner, das gilt auch für Sie.“
   Scharfer Wind kam auf, heulte durch die engen Durchgänge zwischen den Rosthütten, pfiff durch die Schlupflöcher Stukovs. Maninski machte ein Paar langsame Schritte und warf Heiden schweigend die Zügel zu. Er verabschiedete sich von ihm genauso, wie er ihn gegrüßt hatte – er tippte an seinen Hut, dann saß er auf. Kerner gab dem Pferd die Sporen.
   Mit langsamen Schritten ging Heiden zum Pferd und begann das Tier zu tätscheln. Das Ross schien gefallen daran zu haben. Nach einiger Zeit saß der Protektor dann auf.
   „Na dann, lassen Sie und uns reiten, Advocat. Und während wir unterwegs sind, sollten Sie mir den Fall schildern.“
   Hagelganz hatte sich all diese Zeit nicht bewegt. Nun stieg er auch auf. „Das Opfer war ein Niederrichter – ein gewisser Protektor Herrmann. Der Mord wurde in einem der Schrottwaben, nahe dem Außenbezirk verübt. So weit ich weiß, führt der kürzeste Weg über die südliche Strichstraße. Im Technikcentrum müssen wir noch einmal nach Süden abbiegen.“
   Heiden nickte. „Also – reiten wir?“
   Hagelganz sah den Protektor scharf an. „Noch etwas. Ich habe es vorhin nicht gesagt, weil ich gedacht habe, es ziemt sich nicht, aber anscheinend ist Ihnen jegliche Höflichkeit lästig, also will ich Ihre zarte Seele nicht länger mit Ähnlichem quälen. Ich kenne Sie vielleicht seit gut zwanzig Minuten, aber eins weiß ich schon mit Sicherheit: Sie sind mir zuwider. Es kotzt mich an, wie Sie sich in diesen Scheißhaufen verkrochen haben und nun überheblich und selbstgefällig die Richterschaft, die ihnen erst dieses sinn- und nutzlose Leben ermöglicht, in den Dreck ziehen. Wären wir nicht da, würden wir nicht Tag für Tag für ihre Sicherheit sorgen, lägen Sie doch schon längst in einem dieser gottverlassen Löcher, mit durchgeschnittener Kehle, bis auf die Knochen ausgenommen und abgenagt.
   Also – ich erwarte nicht, dass die Zusammenarbeit mit Ihnen mir Spaß machen soll, aber trotz meiner Ansichten werde ich Sie mit dem Respekt behandeln, der einem Richter zusteht. Und ich erwarte, dass Sie das auch tun.“
   Heidens Lächeln war nicht gewichen, aber es hatte sich verändert. Es war darin eine Spur von Anerkennung zu sehen. „Danke für Ihre Ehrlichkeit, Advocat.“
   Hagelganz verzog abfällig das Gesicht. „Nachdem das geklärt ist…“ Er gab seinem Pferd die Sporen.