Toter Richter
Kräftige Hufen wirbelten Staub auf. Das Wiehern verscheuchte die gesetzlosen Halbwüchsigen in alle Ecken und Ritzen des gottverlassenen Hinterhofes. Die drei Reiter zügelten ihre Pferde, der vorderste klopfte Staub von seinem Ledermantel und schob den Hut in den Nacken, um besseren Überblick zu bekommen.
„Stukov – Archot sollte dieses Drecksloch mit der Flinte säubern lassen“, sagte einer der anderen. Dann lehnte er sich zur Seite und spuckte auf den Boden. Im grauen Staub entstand ein dunkler Flecken Matsch. „Bei so viel Abschaum steigt einem die Jauche hoch.“
Der Vordere grinste und nahm die Sonnenbrille ab. Mit behandschuhten Händen fuhr er über die Gläser, um den Schmutz abzuwischen. „Wenn dich das so wurmt, solltest du es dem ersten Richter vortragen. Und zwar möglichst schnell, bevor du in deiner eigenen Spucke ersäufst.“
Das Gekicher der Hintermänner wollte sich aufbauen, starb dann aber abrupt ab, als sie die Gestalt in den Schatten bemerkten. Ein Junge – wohl um die zwölf Jahre alt – versuchte ungesehen zu einer der windschiefen Holzhütten zu gelangen. Der herrische Ruf des Richters nagelte ihn bewegungslos an den Boden. Ohne Eile ließen die Reiter ihre Pferde herantraben. Keine zehn Schritte von ihm entfernt hielten sie an.
„Sieh mich an, Junge!“
Das verängstigte Kind drehte sich zitternd zu den Reitern und hob nur zaghaft das Gesicht. Die Augen schauten trotzdem nach unten. Seine Kleidung war nichts als Lumpen. Mit nervösen Griffen suchte er seine Taschen ab, bis seine Rechte – zeitgleich mit einem Seufzer der Erleichterung – die Bürgerpapiere zu Tage förderte.
Einer der Hintermänner schnaubte: „Armer Knirps.“
Der Vordere warf ihm einen scharfen Blick zu: „Also bis jetzt sehe ich nur einen vorbildlichen Bürger, Protektor.“
„Schon gut, Hagelganz. Spiel’ dich nicht so auf.“
Hagelganz wandte sich wieder dem Jungen zu und bedeutete ihm mit einer lässigen Handbewegung, die Papiere zu verstauen.
„Weißt du, wo ich Richter Heiden finde, Junge?“
Der Halbwüchsige nickte und deutete dann mit der Hand. Der Richter folgte mit dem Blick dem Zeigefinger und sah die windschiefe Hütte am Hang eines kleinen Walls, der sich unweit neben der sich weiterschlängelnden Gasse erhob. Eine Reihe weiterer Hütten – anscheinend von Schrottern und anderem Gesindel bewohnt - säumte den Vorsprung. Kaum eine war groß genug, um ein einziges Pferd aufnehmen zu können.
Da Hagelganz immer noch nicht geantwortet hatte, deutete der Junge noch einmal. „Da oben.“ Es hatte ihn sichtlich Kraft gekostet, die Worte hervorzubringen. In dieser Gegend sah man sich nur äußerst ungern allein drei Richtern gegenüber.
Hagelganz nickte. „Geh schon.“ Der Junge verschwand zwischen zwei baufälligen Häusern. Die drei Reiter starrten immer noch zu der ärmlichen Behausung hinauf. Einer der Protektoren schüttelte den Kopf.
„Grauer Staub, graue Steine, morsches Holz, gehässige graue Gesichter und grauer Himmel. Man muss echt einen an der Waffel haben, um freiwillig hierher zu ziehen. Der letzte Schöffe hat es besser.“
Hagelganz nickte ohne den Blick abzuwenden. „Was den Himmel angeht – der ist überall grau. Aber an sich hast du schon Recht. Ich frage mich, was einen Mann dazu bringen kann, sich in diesem Schandauffangbecken niederzulassen.“
„Ab und zu hört man die älteren noch von ihm reden. Er soll einer der besten gewesen sein. Fragt mich nicht, wie das möglich sein soll, ich verstehe es auch nicht.“
„Ja, aber irgendwas muss wohl dran sein. Wie sonst lässt es sich erklären, dass dieser Fall so jemandem übertragen wird?“ Hagelganz ließ instinktiv einen letzten prüfenden Blick über den Hang schweifen, dann drehte er sich zu seinen Begleitern. „Ich sehe dann mal nach, ob ich ihn finde. Wartet hier, okay?“
Ohne auf Antwort zu warten gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte den Hang hinauf. Die beiden Richter hinter ihm saßen ab.
„Lass dir Zeit.“ Einer zog selbst gedrehte Zigarre und Streichholz aus der Satteltasche und entzündete die Flamme an einem der Riemen. Er beruhigte das Tier kurz und lehnte sich dann gegen dessen Rücken. Entspannt nahm er den ersten Zug und sah wie das kleiner gewordene Gebilde aus Reiter und Pferd entzweibrach – Hagelganz war vor der Hütte abgestiegen.
Aus der Nähe sah sie noch erbärmlicher aus. Als hätte ein Sturm Trümmer aus dem Technikcentrum herbeigeweht und achtlos zusammengeworfen. Die kränklichen Balken bildeten schiefe Wände und ein unregelmäßiges Dach. Die Glaseinfassung im einzigen Fenster war völlig verdreckt und hatte einen Riss. Als Tür fungierte eine rechteckige Eisenplatte, befestigt an zwei verrosteten Stahlringen.
Hagelganz schüttelte nur den Kopf. „Was für ein Loch.“ Dann ging er mit langsamen Schritten zur Tür und klopfte gegen das Metall. Ein leises Stechen. Als er die Hand betrachtete, klomm ein kleiner Blutstropfen am Rücken des Zeigefingers durch den Handschuh. Der Richter schnaubte nur.
„Na toll. Wenigstens ist keiner von den Kalkschädeln hier, um mich gleich Mal unter Quarantäne zu stellen.“ Er wischte das Blut an der Hose ab und klopfte abermals – diesmal vorsichtiger. Es rührte sich immer noch nichts. Mit langsamen Schritten ging er zum Fenster und versuchte hindurchzuschauen, nur um von der grauen Wand eines löchrigen Vorhanges abgewiesen zu werden.
„Bastard.“ Seine Stimme war nur ein Zischen. Auf dem Weg zu seinem Pferd schlug er noch einmal heftig gegen die Eisenplatte, so dass der Krach durch die belebte Ödnis des Hinterhofes hallte. Halb im Sattel, ließ ihn jedoch das Kreischen der verrosteten Eisenringe innehalten. Die Tür war aufgemacht worden.
„Kommen Sie rein, Advocat.“
Der Mann sah wie ein gesetzloser Bettler aus. Langes, zerzaustes, graues Haar, ein unkontrolliert wuchernder Bart, tiefe Furchen im ganzen Gesicht und müde Augen. Der ausgemergelte Körper eines Greises, bedeckt mit vom Alter gebleichten Leinen, barfuss.
Hagelganz konnte den Ekel nur schwerlich verbergen. „Richter Heiden?“
Der Mann nickte. „Wenn Sie so auf Titel stehen – ja.“ Die Geringschätzung schien Hagelganz ins Gesicht zu schwappen. Seine Wangenmuskeln spannten sich und schluckten schließlich die Flüche hinunter.
„Nach § 16, Absatz eins, Satz eins der Stadtordnung sind Bürger der Unterstadt verpflichtet, ihre Fenster jederzeit einsehbar zu halten.“
Heiden verzog das Gesicht zu einer Fratze. „§ 16, Absatz drei, Satz zwei befreit Richter jedoch von dieser Pflicht. Ich kenne den Kodex, Advocat.“
Die Grimasse auf seinen Lippen sollte wohl ein Lächeln sein.
„Haben Sie mir noch etwas zu sagen? Oder kommen Sie nur wegen der Fenster vorbei?“
„Ich habe einen Auftrag von der Richterschaft.“ Hagelganz spuckte die Worte förmlich hinaus.
Heiden nickte. „Wie gesagt – kommen Sie rein.“
Die Hütte sah von innen nicht besser aus, als von außen. Heiden scharte mit den Füßen die faule Brühe aus leeren Flaschen, mottenzerfressenen Decken und allerlei metallischem Plunder beiseite, als wolle er ein Meer aus Jauche teilen. Hagelganz sah sich um, stieß mit dem Stiefel eine der Flaschen an und ließ sie ein altes Holzbrett hinunterkullern. Es stank nach menschlichen Ausdünstungen und schlechtem Destillat.
„Wo ist Ihr Vorderlader, schon verscherbelt?“
„Da drinnen.“ Heiden deutete auf die einzige intakte Kiste in der Hütte, die kaum groß genug war um allen Tand und die beiden Männer zu fassen. „Genauso wie Kodex und Mantel.“
Hagelganz schnaubte. „Ich dachte, den Kodex haben Sie im Kopf.“
Plötzlich hatte der Protektor eine volle Flasche in der Hand. Ohne auf den Gast zu achten warf er den Kopf in den Nacken und nahm einen großen Schluck. Danach fuhr er sich mit dem Ärmel über den Mund. Ein Seufzer erneuerte den Gestank. Hagelganz trat angewidert zurück.
„Hören Sie zu, Advocat. Was Sie – oder jemand anders – von mir halten, ist mir mehr als egal. Also spucken Sie endlich aus, warum man Sie hergeschickt hat und erlösen Sie mich von Ihrer Anwesenheit. Die beiden Protektoren unten werden wohl nicht ewig warten.“
Hagelganz zog die Brauen zusammen. Er war sich sicher gewesen, dass dieser Mann in seinem Zustand nicht einmal einen Gendo in der eigenen Hütte bemerkt hätte.
„Ich fürchte, Sie werden mich noch eine Weile ertragen müssen. Man hat Ihnen einen Fall übertragen. Es geht um Mord, Richtermord.“
„Aha.“ Heiden hatte kurz in seinen Bewegungen inne gehalten. Nun fuhr er damit fort, die Flasche zu verstauen. „Warum ich?“
„Finden Sie, dass das die angemessene Frage auf meine Worte ist, Protektor?“ Hagelganz suchte die Augen des Richters – dieser würdigte ihn keines Blickes.
„Vielleicht nicht – aber es ist die, die sich mir aufdrängt. Und Ihnen doch auch, Advocat?“
„Das will ich nicht abstreiten. Der Befehl kommt von der obersten Kammer, fragen Sie also die, wenn die Neugier Sie quälen sollte.“
Heiden ließ die flache Hand auf die Kiste klatschen. „Der Befehl kommt von ganz oben?“
Hagelganz nickte. „Ja.“ Langsam nervten ihn diese Fragen. „Machen Sie sich fertig – wir sollten aufbrechen.
Heiden hatte sich schon vor der Aufforderung daran gemacht, die Kiste aufzuschließen. Die verrosteten Angeln kreischten qualvoll auf. „Wieso wir?“ Die Frage kam wie beiläufig.
„Ich bin Ihr Assistent in dieser Sache.“ Hagelganz schien bei den Worten innerlich aufzustöhnen.
Die rissige Stimme des Protektors erbrach einen Lacher. „Na dann. Es wird Zeit, dass Sie Ihren Namen nennen, Advocat.“
* * *
Sie gingen zu Fuß. Hagelganz hatte darauf verzichtet aufzusetzen, so lange sein unfreiwilliger Begleiter kein eigenes Pferd hatte, und die Vorstellung die Hundert Meter zu den anderen mit diesem Mann am Rücken zu reiten war nicht seine angenehmste gewesen – trotz der Veränderung.
Es waren weder Ledermantel und Schlapphut, noch Kodex und Vorderlader, die den Protektor verwandelt hatten, es war die Art dieser Dinge an ihm. Das Leder saß, wie angegossen, unterste und oberste Schnalle waren offen und zeugten nicht von Unordnung, sondern von Bewegungsfreiheit. Der Schlapphut schirmte das Antlitz ab und ließ trotzdem das Blickfeld frei. Die geladene Muskete baumelte an der rechten Schulter und wäre im Notfall schnell einsatzfähig. Wo früher ein Greis gestanden hatte, sah Hagelganz nun einen sehnigen und erprobten Richter.
Doch das Lächeln auf seinen Lippen nahm der Illusion die Vollendung, das Gemüt und die Fahne des Mannes waren unverändert geblieben. Hagelganz begann die Anhöhe hinabzusteigen. Die beiden Protektoren warteten schon.
„Na das hat ja nicht sehr lange gedauert.“ Einer der beiden spuckte den Zigarrenstummel auf den Boden, trat ihn aus und nahm die Sonnenbrille ab.
Hagelganz blieb stehen und zügelte das Pferd. „Richter Heiden, dass sind die Protektoren Kerner und Maninski. Sie sind angewiesen, uns an den Ort des Verbrechens zu eskortieren.“
Heiden lächelte und tippte sich an den Hut. „Sie haben gesagt, ich leite die Ermittlungen, Advocat.“
„Stimmt genau.“ Hagelganz warf dem Protektor einen fragenden Blick zu.
„Gut. Dann entlasse ich jetzt die beiden Männer. Sie können zurück reiten. Nur lassen Sie eines der Pferde hier.“
Das Lächeln des Protektors wurde breiter. Heiden labte sich an dem Panorama. Hagelganz’ Antlitz zeigte nur Erstaunen, Kerners Wangenmuskeln schluckten Wut hinunter, Maninski tätschelte mit einem überheblichen Lächeln die Mähne seines Rosses.
„Der Mord hat sich im Technikcentrum zugetragen“, sagte Hagelganz schließlich.
„Und?“
Die Richter tauschten Blicke aus. Maninski grunzte.
„Nach der Säuberung ist es dort im Moment nicht gerade sicher.“
Heidens gehässiges Lachen ließ die Pferde schnauben. „Na das passt doch zu der Richterschaft. Alles niedertrampeln und sich dann wundern, dass die Scheiße am eigenen Stiefelabsatz die falsche Pflanze gedüngt hat.
Ach, kommen Sie, Advocat. Sie, der Sie doch so sehr von sich und der Richterschaft und ihrem Büchlein mit einem Haufen von gekritzelten Anweisungen überzeugt sind, wollen mir doch nicht sagen, sie hätten Angst vor einem Haufen Schrotter auf Entzug?“
Die beiden Protektoren hielten sich zurück. Hagelganz’ Adamsapfel zuckte. „Es wäre unklug, dieses Risiko einzugehen.“
„Unklug?“ Heiden seufzte, spielte den Nachdenklichen. „Tja, war es den Klug gewesen, den Burnfluss öffentlich und radikal abzuschneiden, während die halbe Stadt auf Droge ist? Wie auch immer, ich habe nicht vor mit einem Kleinverband durch die Schrotthalde zu reiten und die halb verrückt gewordenen Leute auch noch zu provozieren. Also, Junge, entweder kommen Sie jetzt mit und wir beide reiten zum Tatort, oder Sie machen sich auf in die Hochstadt und bitten um Versetzung.“
Kerner sog scharf die Luft ein. Es sollte unauffällig sein, doch in der entstandenen Stille schnitt die Gebärde durch die Luft. Hagelganz’ Blick ließ den Protektor krampfhaft ausatmen und sich abwenden. Das Pferd des Advocaten scheute plötzlich – seine Faust hatte sich zu stark um den Hals des Tieres verkrampft. Als er sprach, schien es, als wolle er Heiden in den Boden starren.
„Maninski, überlassen Sie Richter Heiden Ihr Pferd. Ihr Auftrag ist hiermit abgeschlossen, Sie sollten sich in der Hochstadt melden. Kerner, das gilt auch für Sie.“
Scharfer Wind kam auf, heulte durch die engen Durchgänge zwischen den Rosthütten, pfiff durch die Schlupflöcher Stukovs. Maninski machte ein Paar langsame Schritte und warf Heiden schweigend die Zügel zu. Er verabschiedete sich von ihm genauso, wie er ihn gegrüßt hatte – er tippte an seinen Hut, dann saß er auf. Kerner gab dem Pferd die Sporen.
Mit langsamen Schritten ging Heiden zum Pferd und begann das Tier zu tätscheln. Das Ross schien gefallen daran zu haben. Nach einiger Zeit saß der Protektor dann auf.
„Na dann, lassen Sie und uns reiten, Advocat. Und während wir unterwegs sind, sollten Sie mir den Fall schildern.“
Hagelganz hatte sich all diese Zeit nicht bewegt. Nun stieg er auch auf. „Das Opfer war ein Niederrichter – ein gewisser Protektor Herrmann. Der Mord wurde in einem der Schrottwaben, nahe dem Außenbezirk verübt. So weit ich weiß, führt der kürzeste Weg über die südliche Strichstraße. Im Technikcentrum müssen wir noch einmal nach Süden abbiegen.“
Heiden nickte. „Also – reiten wir?“
Hagelganz sah den Protektor scharf an. „Noch etwas. Ich habe es vorhin nicht gesagt, weil ich gedacht habe, es ziemt sich nicht, aber anscheinend ist Ihnen jegliche Höflichkeit lästig, also will ich Ihre zarte Seele nicht länger mit Ähnlichem quälen. Ich kenne Sie vielleicht seit gut zwanzig Minuten, aber eins weiß ich schon mit Sicherheit: Sie sind mir zuwider. Es kotzt mich an, wie Sie sich in diesen Scheißhaufen verkrochen haben und nun überheblich und selbstgefällig die Richterschaft, die ihnen erst dieses sinn- und nutzlose Leben ermöglicht, in den Dreck ziehen. Wären wir nicht da, würden wir nicht Tag für Tag für ihre Sicherheit sorgen, lägen Sie doch schon längst in einem dieser gottverlassen Löcher, mit durchgeschnittener Kehle, bis auf die Knochen ausgenommen und abgenagt.
Also – ich erwarte nicht, dass die Zusammenarbeit mit Ihnen mir Spaß machen soll, aber trotz meiner Ansichten werde ich Sie mit dem Respekt behandeln, der einem Richter zusteht. Und ich erwarte, dass Sie das auch tun.“
Heidens Lächeln war nicht gewichen, aber es hatte sich verändert. Es war darin eine Spur von Anerkennung zu sehen. „Danke für Ihre Ehrlichkeit, Advocat.“
Hagelganz verzog abfällig das Gesicht. „Nachdem das geklärt ist…“ Er gab seinem Pferd die Sporen.