Als El'ssa Jaresh die Tinktur überreicht, lächelt der alte Mann und nimmt den Behälter entgegen. "
Habe vielen Dank, El'ssa", sagt er mit einem Nicken. Der Brauch des Gastgeschenks ist wohl etwas, was sowohl die Stämme der Dejy, als auch die Ukhtark gemeinsam haben, geht es Sanjan durch den Kopf. Der Bahir beobachtet die Szene ebenfalls. Ob es andere Kargi- oder Krangi-Stämme ebenso halten? Ein Gedanke, der Flannait kommt und der wohl auch Basilio kommen könnte, würde ihn Mirtel nicht so bedrängen.
Die Magd lächelt den Koraker wieder breit an und beginnt, Neues aus dem Dorf zu erzählen. Nichts Weltbewegendes, zum Beispiel, dass der Bär, den Sanjan verscheucht hat, vor wenigen Wochen auf einer Lichtung Richtung Sissalasido gesehen worden ist. Nach wenigen Sätzen unterbricht aber Jaresh mit seiner Einladung die Unterhaltung und Mirtel verstummt.
Die Gefährten begeben sich ins Innere des inzwischen gut bekannten Gutshauses. Der schwere Eichentisch ist weiter an Ort und Stelle. Die bekannte Treppe führt zur Balustrade, der schwere Kronleuchter hängt an der Kette hinab. Rechts geht die Tür zur Bibliothek ab. Alles, wie gehabt. Basilio, Sanjan, Flannait und Tarqetik kennen das Haus gut von ihren letzten Besuchen. El'ssa hatte es nicht vergessen und die Erinnerungen bei der kürzlichen Einkehr aufgefrischt, bevor sie nach Gulasado aufbrach. Und Amaara durfte sich in den letzten Tagen damit bekannt machen.
Wieder wird Rinderbraten, Ofenkartoffeln und frisches Brot gereicht. Dazu Brathähnchen und Würste. An Pfeffer, Salz, Ölen und Kräutern wurde nicht gespart. Dazu säumt frischer Schnittlauch das Fleisch und die Kartoffeln. Örtliches Bier - Tarqetik kennt es bereits; gar nicht so schlecht - und Shyta-na-Dobier Wein stehen bereit. Dazu eine Keraffe mit frischem Wasser, eingewickelt in nasse, kalte Tücher, um den Inhalt kühl zu halten. Wer mag, darf Wasser und Wein nach belieben mischen.
Es wird ein schönes Essen. Halb hatten die Gefährten erwartet, Malcus wiederzusehen, doch der Chevallier ist nicht da. Und Sanjan kann auch Siola, Jareshs Nichte nicht erspähen. Ein Knarren oben auf der Balustrade, als sie eintraten, hatte seinen Blick nach oben gelenkt. Er sah einen Schatten und hörte dann die Tür zu einem der Zimmer im Obergeschoss zufallen. Als wäre jemand vom Geländer weg- und in ein Zimmer getreten, als die Gefährten das Haus betraten.
Jaresh fragt nach den Erlebnissen der Gefährten in den letzten Monaten, ist von manchen Geschichten amüsiert, von anderen ergriffen. Seinerseits erzählt er die letzten Neuigkeiten. Tatsächlich hätte es ein weiteres Treffen zwischen den Ukhtark und den Menschen aus Dorwida gegeben. Ejdarn hätte darauf bestanden, hieß es und die Ratsherren haben - zum Teil sehr widerwillig - zugestimmt. Man konnte sich lange nicht darauf einigen, wo es stattfinden sollte. Letztendlich traf man sich bei Gulasado. Die Burg war zu einem Symbol der Zusammenarbeit zwischen den beiden Gemeinden geworden. Und wie Jemma, die dabei gewesen war, berichtet hatte, gab es viele Pläne. Die neutrale Zone sollte um viele Meilen schmaler werden. Das würde fruchtbares Ackerland für beide Gemeinden freigeben; mit dem Ziel, irgendwann den unbebauten Streifen kommplett nutzbar zu machen, wenn das Vertrauen weiter gewachsen war. Und: Ejdarn und Mago hatten auch eine militärische Zusammenarbeit bei Bedrohungen rund um Dorwida und Kezhdal besprochen, allerdings noch ohne konkrete Ergebnisse. "
Es geht voran", sagt der alte Mann.
Auch etwas anderes war geschehen. Sindal Darren war in Ketten gelegt worden. Richter Anis hatte ihn zu Zwangsarbeit bei der Trockenlegung der Ausäufer des DuKemp-Moores verurteilt, für sieben Jahre. Seinen Besitz musste er abgeben. Drei Zehntel gingen an das Dorf, um die Kosten für die Kriegsanstrengungen aufzuwiegen. Sieben Zehntel bekam seine jüngere Schwester zugeschlagen. Und wie der letzte Bote aus Betasa verkündet hatte, war Dario Andor, einer der Stadträte in Betasa von seinem Amt zurückgetreten und hatte eine Spende von 50.000 P'Baparischen Löwen an die Stadtkasse geleistet. Er wolle sich mehr um seine Pferdezucht und die Güter östlich von Betasa kümmern und die Politik weiseren Männern überlassen. Außerdem halte er es für notwendig, seinen Reichtum mit der Gesellschaft zu teilen. "
Die Schlange hat sich freigekauft", schließt Jaresh ab. "
Ejdarn soll ihr Kommandozelt vor Wut fast abgerissen haben, als sie es hörte, hat man mir gesagt. Zumindest wurde Sildan hingerichtet. Tod an der Guilletine - einen halben Mond ist es her."
Es sind lange Gespräche, doch der Gutsherr scheint stets nicht völlig bei der Sache. Nicht völlig frei. Als würde er auf etwas warten. Es gibt wohl ein anderes Thema, aber es eignet sich anscheinend nicht für ein Gespräch bei Tisch. Und die Bräuche und Manieren der Dorguln erlauben es wohl nicht, die Gäste ohne ein vorheriges Gelage aufzunehmen. So ist dieses Abendmahl weniger gelöst und aus ungreifbarem Grund formeller, als die beiden vor zwei Monden.
Irgendwann sind die Gespräche verstummt, ist der Wein getrunken, der Form Genüge getan. Jaresh erhebt sich vom Stuhl und bittet die Gefährten in die Bibliothek. "
Es gibt etwas, was ich mit euch besprechen möchte."
* * *
Als die Gefährten es sich in den Sesseln und auf den beiden Sofas der Bibliothek bequem gemacht haben, bittet Jaresh eine der beiden Mägde, die neuerlich Erfrischungen anbieten, seine Nichte zu rufen. Das Mädchen zögert, nickt dann aber und eilt davon.
Jaresh wartet noch ab, eine Pause entsteht, die mit verlegenen Floskeln gefüllt wird. Doch schon bald geht die Tür wieder auf und Siola tritt ein. Sie nickt den Anwesenden zu und begrüßt alle, lächelt Sanjan und Basilio sogar an, doch damit kann sie die beiden und Tarqetik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Augen von Ringen gezeichnet sind und das Gesicht nun härter und müder wirkt, als wären nicht sechs Wochen, sondern einige schwere Jahre vergangen seit ihrem letzten Treffen. Jaresh würdigt sie keines Blickes und setzt sich stumm in einen der Sessel.
"
Nun ja", fängt der Gutsherr an, als alle bereit sind. "
Ich habe euch alle noch einmal zu mir gebeten, weil ich euch vertraue. Es mag sein, dass wir uns - mit Ausnahme von El'ssa - nicht lange kennen, aber es kommt nicht immer darauf an, wie lange man jemanden kennt, wenn es um Vertrauen geht."
"
Fürwahr", wirft Siola spöttisch ein.
Jaresh hält kurz inne und schaut zu ihr, fährt dann aber fort. "
Ihr habt euch bewiesen. Als ehrbare Männer und Frauen. Ihr stammt vielleicht aus aller Herren Länder, aber ich glaube, dass ich mit dem, was ich jetzt sage, euch vertrauen kann. Und ich kann heute die Menschen, die nicht in diesem Raum sind, und denen ich in dieser Angelegenheit vertrauen kann, an den Fingern einer Hand abzählen. Es ist kompliziert und heikel. Und das Wissen an sich kann gefährlich sein. Aber ich habe keine andere Wahl und muss euch darum bitten."
Der Gutsherr macht eine Pause und nimmt einen Schluck, als wolle er den Anwesenden die Möglichkeit geben, schon an dieser Stelle abzulehnen. Als sich jedoch keiner meldet, fährt er fort. "
Vor 19 Jahren, im Jahre 544 nach der Imperialen Zeitrechnung von Kalamar - oder bei uns nach dem brandobischen Kalender im Jahre 1025 - bestieg der heutige Imperator Kabori Bakar den Thron des Kaiserreichs von Kalamar. Er tat es unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Eine Gruppe von Fürsten hatte sich gegen das schwache und korrupte Herrscherhaus gestellt und das Ziel ausgerufen, die Tradition des alten Herrscherfamilie Inakas wiederherzustellen, auch wenn die Bakar alle Nachkommen derselben bei ihrer Thronbesteigung vor drei Jahrhunderten ausgelöscht haben. Angeführt wurden diese Fürsten von Herzog Mattéo Rúben, seines Zeichens Herr über die Mark Salireta und einer der edelsten und einflussreichsten Adelsmänner des Landes. Doch der Widerstand hatte Kabori Bakar falsch eingeschätzt. Der neue Imperator war viel ruchloser und fähiger, als seine nichtsnützigen Ahnen - und er verfügte über ein militärisches Genie, dass es mit dem von Herzog Rúben aufnehmen konnte. Der Widerstand wurde niedergerungen, Herzog Rúben und seine Truppen bei der Schlacht bei Togeseta endgültig geschlagen, er selbst gefangengenommen."
Wieder eine kleine Pause. Wieder ein Schluck. Siola gießt sich reinen Wein aus der Keraffe ein. Sanjan muss staunen - Jareshs Nichte hat er nie zuvor dem Alkohol zusprechen sehen. Bestenfalls hätte sie ein Glas Wasser mit einem Spritzer Wein veredelt. Sie setzt den Becher an die Lippen und leert ihn zu Hälfte in einem Zug.
"
Mattéo Rúben wurde wenige Tage später hingerichtet - zusammen mit allen anderen aufständischen Adelsmänner und tausenden von Soldaten und Bauern, die ihnen gefolgt waren", fährt derweil Jaresh fort. "
Bakar schickte auch seine Häscher aus, um die Familien der aufständischen Lords zu meucheln und ihren Besitz zu konfiszieren. Er hat es geschafft und seine Macht zementiert. Niemand wagt es heute noch, gegen das Haus Bakar und den Imperator aufzubegehren. Der Name Rúben wird nur noch geflüstert und die Namen der anderen Aufständischen sind fast vergessen.
Aber Mattéo Rúben war ein kluger Mann - und er ließ sich von seinen Zielen und Wünschen nicht blenden. Als sich die Niederlage abzeichnete, hatte er Pläne gemacht und alte Freunde kontaktiert. Freunde außerhalb des Kaiserreichs. Freunde, von denen Kabori nicht wissen konnte. Und er hatte dafür gesorgt, dass seine Kinder überleben. Die beiden - Zwillinge, kaum vier Jahre alt damals - wurden über den Seeweg von Torisato aus nach Pekal gebracht und von dort weiter ins Landesinnere. Einer wuchs in Pekal in der Hauptstadt im Hause eines Fernhändlers auf. Die andere in Ek'Gakel im Haus eines Gutsbesitzers."
Siola knallt ihren Becher so stark auf den Tisch, dass einige Tropfen rausschwappen. "
Bei den Göttern, Onkel - nun sag' es endlich."
Jaresh zögert kurz, nickt dann aber. "
Die andere, die Tochter, ist Siola. Siola Melanie Rúben, um genau zu sein. Tochter des Herzogs von Mark Salireta. Und seit ihrem vierten Lebensjahr mein Mündel und für mich wie eine Tochter. Ich kannte den Herzog - zunächst von einer gemeinsamen Schiffsreise nach Sivmohzia und danach haben wir uns immer wieder getroffen, aber nie im Kaiserreich, so dass sie bei mir sicher ist. Er war mein Freund. Der beste Mann, den ich je kannte."
Nun ist es an Jaresh, innezuhalten. Kurz werden die Augen trüb, als würde er nach innen Blicken, wäre wieder bei einem der Treffen mit Herzog Rúben. Damit gibt er seinen Gästen auch die Gelegenheit, die Information zu verarbeiten. Vor allem der Schamane kennt Siola schon sehr lange. Dann räuspert Jaresh sich und fährt fort. "
Das war vor 19 Jahren. Sieben Jahre später, also vor 12 Jahren, im Jahre 1032 des brandobischen Kalenders, erreichte mich eine Nachricht, dass das Haus eines wohlhabenden Fernhändlers aus Bet Rogala, der Hauptstand von Pekal, in der Nacht angegriffen und verwüstet worden war. Das Haus selbst hatte man bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Alle Bewohner, sowohl die Herrenfamilie, als auch alle Bediensteten waren gemeuchelt worden, hieß es. Es war das Haus von Marvin Hud, einem Freund von mir. Und einem Freund des Herzogs. Siolas Bruder war bei ihm untergebracht worden, zeitgleich mit ihrer Unterbringung bei mir. Der Herzog hatte gewollt, dass sie getrennt aufwachsen, damit niemand gezielt nach einem Zwillingspaar suchend, sie finden konnte. Sie sollten sich das erste mal wieder treffen, wenn sie achtzehn geworden waren, doch zum Zeitpunkt des Überfalls waren die beiden erst elf.
Mir war klar, dass es nur Kaboris Männer gewesen sein konnten, die den Angriff geführt hatten. Dass sie nur angegriffen hatten, um Mattéos Erben zu töten. Ich hatte auf eine Nachricht gehofft. Auf einen Hinweis, dass es gelungen war, zu entkommen. Doch es kam nichts. Nichts. Ich musste annehmen, dass alle tot waren."
"
Mir hast du was anderes erzählt, Onkel", gibt Siola zurück. "
Mir hast du gesagt, dass dir berichtet worden wäre, man hätte seine Leiche gefunden."
"
Es waren Jungenleichen gefunden worden, Siola. Nur konnte man sie nicht mehr zuordnen. Zu stark hatte das Feuer gewütet. Ich wollte dich nicht mit einer ewig währenden, sinnlosen Hoffnung belasten."
"
Also sagst du einfach, er sei tot? Schönen Dank aber auch."
Jaresh schüttelt den Kopf und fährt dann fort. "
Hud - der Händler - hatte einen Brief geschickt. Einen Boten. Doch der Mann ist nie bei mir angekommen. Er muss unterwegs überfallen worden sein. Seine Gebeine, seine Tasche und der Brief lagen mehr als ein Jahrzehnt lang in einer Höhle. Es ist ein Zeichen der Götter, das gerade Malcus, einer von vielleicht einem halben Dutzend Menschen auf ganz Tellene, dem ich von unseren Rufnamen aus der Jugend erzählt hatte und der diese in der verschlüsselten Sprache des Briefes wiedererkennen konnte, die Gebeine bei einer seiner Reisen gesehen und den Brief gefunden hat. Diesen Brief hat er mir gebracht. Mehr als zehn Jahre, nachdem ihn Hud abgeschickt hat."
Jaresh greift in die Tasche seiner Weste, holt einen zerknitterten, vergilbten Bogen heraus, und legt diesen auf den Beistelltisch vor sich. "
Darin heißt es, dass Siolas Bruder vor dem Überfall aus dem Anwesen geschafft wurde. Dass er den Angriff überlebt hat. Und das bedeutet, dass er vielleicht immer noch lebt."
Siola prustet sarkastisch. "
Ja - vielleicht - sind ja nur elf Jahre vergangen, in denen wir untätig dagesessen sind, anstatt nachzuforschen. Da kann ihm ja nicht viel zugestoßen sein."
Jaresh sieht die junge Frau traurig an, dann geht sein Blick wieder zu den Gefährten. "
Ich will euch anheuern, euch bitten, Siolas Bruder zu finden. Doch bevor ich näheres zu den Informationen in diesem Brief sage, zu seinem möglichen Aufenthaltsort, will ich euch die Möglichkeit geben, schon jetzt abzulehnen, oder - wenn ihr das nicht tut - anzunehmen. Das Wissen in diesem Bogen ist gefährlich - für euch, und für uns alle, wenn ihr darüber mit Dritten sprecht. Ich will es mit niemandem teilen, so lange es nicht für diesen Auftrag notwendig ist. Und ich will euch die Möglichkeit geben, hier und jetzt auszusteigen, falls es für euch zu heikel ist."