Runde 2 - Block 3 und 4
Gerade hat
Abdo neue Hoffnung geschöpft, da wendet sich für ihn das Blatt. Erst stürzt die Kolkra sich auf ihn, wild nach ihm schnappend und schlagend, und erwischt ihn mit einer Kralle am Arm, da folgt auch schon eine weitere der
Hungerkreaturen und verbeißt sich in seiner Kehle. Er spürt noch das warme Blut, das über seine Brust fließt, und sich selbst—Körper und Geist—fallen.
[1]
Sanfte Arme fangen ihn auf, betten ihn weich. Seidiges Haar streift seine Brust, während zarte Frauenhände ihm Schweiß und Sorgen von der Stirn streichen und duftende Frauenleiber sich warm und weich an ihn schmiegen. Noch balsamischer als all dies aber ist der Gesang, der ihn einhüllt, ihn trägt wie ein Boot auf leise plätscherndem Wasser. Reinere Klänge hat er sein Lebtag noch nicht gehört. Welch Liebreiz! Welch Sehnsucht! Kaum wagt er, die Augen zu öffnen. Wird alles wie ein Trugbild verschwinden? Doch dann erträgt er es nicht mehr, zu machtvoll wird die eigene Sehnsucht: den Liebreiz zu schauen. Drei Frauen sind es, die sich über ihn beugen, eine reizender als die andere. Die Jugend ist ihnen als einziges gemein, verschieden alles andere. Schlank ist die eine, üppig die zweite, die dritte scheint kaum mehr ein Mädchen. Von reinstem Weiß ist die Haut des Mädchens, himmelblau die unschuldigen Augen, ihr schwanenweißes Haar fließt federleicht bis hin zum Boden; sonnenverwöhnt bronzefarben ist die Haut der üppigen Frau, ihr lockiges Haar wild und füllig und flammendrot, Geheimnisse und süße Versprechen locken tief in smaragdgrünen Augen; die dritte könnte aus seiner Heimat stammen, so dunkel sind Haut und Augen, so schlank ist sie, so hungrig, so drahtig muskulös, einem Panther gleich, und schwarz glänzend wie sein Fell ist ihr Haar, durch kompliziertes Flechtwerk gebändigt, wie die Frauen in Ya'Kehet es gerne tragen, um die Männer davon träumen zu machen, es zu öffnen, zu entknoten, die Hände hindurch gleiten zu lassen und darauf den erwartungsvoll zitternden Körper hinab, dort weitere Knoten zu entzerren, bis alle Hüllen abgestreift sind und sie in nichts außer dem eigenen Haar gekleidet vor ihm steht... In was ist die dunkle Frau eigentlich gehüllt, das bewegt sich ja! Das ist nicht der spinnfädenzarte Stoff, für den er es zunächst hielt, sondern Nebel, der ihren Körper umwabert. Alle drei Frauen sind in Nebel gekleidet, und Tautropfen perlen auf ihren nackten, ihren bebenden, ihren bezaubernd schönen Leibern...[2]Lîf müht sich weiterhin mit den steilen Stufen ab, als unter ihr Tristan plötzlich ganz andere Töne anschlägt. Plötzlich klingt sein Lied so süß wie in ihrer Hochzeitsnacht. Einen Moment lang vergisst sie, wo sie ist und träumt sich zurück in jene Nacht, zurück in die Arme des Mannes, für den sie alles, alles tun würde. Wie kann sie nur immer mit ihm schimpfen, ihm widersprechen und das Leben schwer machen? Wo er doch der liebste, der schönste, der zärtlichste aller Männer ist und sie das glücklichste Weib auf Erden! Ihn anschauen, berühren, herzen und küssen zu dürfen, gar ihr eigen nennen—beneiden würde jede andere sie darum! Für ihn zu sorgen, ihm ein Heim zu bereiten, seine Kinder zu gebären—was könnte ein Weib sich mehr vom Leben wünschen? Wohin soll sie nur mit all der Dankbarkeit, all der Liebe für ihn, die ihr schier das Herz sprengt? Ach, wo ist er, dass sie sich ihm um den Hals werfen kann, ihn auf das weiche Lager ziehen, mit Armen und Beinen umschlingen...
[3]Dann kommt sie, Gaja sei Dank, wieder zu sich und hastet weiter die Treppe hinauf. Oben angekommen, sieht Lîf gerade noch, wie eine schreckliche Kreatur—ein verhungerter Mensch in zerrissener Mönchskutte—Talahan mit Krallen und Reißzähnen anfällt und sich dabei kurzzeitig in dessen Oberarm verbeißt, bevor der Gotteskrieger sich losreißen kann.
[4]Aeryn stürzt noch immer die Stufen hinab, ein einziges Gefühl in ihrem Herzen: Angst! Angst vor der schrecklichen Kreatur, deren Schrei in ihren Ohren nachhallt, sie verfolgt, bis sie meint, den faulen Atem der Kreatur in ihrem Nacken zu spüren. Doch dann verstummt der Schrei, wird übertönt durch eine singende Männerstimme. Und mit einen Mal lässt nicht mehr die Angst ihr Herz wild schlagen sondern heiß entbrannte Liebe. Tristan! Wieso erkennt sie es erst jetzt? Seit einer Woche zieht sie schon mit ihm durch die Lande und hat ihm noch nicht gestanden, wie es um ihr Herz steht, wie sehr sie ihm zugetan ist! Was sie für ein einziges Lächeln von ihm geben würde! Wenigstens gesorgt hat sie für ihn, hat das erjagte Wild mit ihm geteilt und jedes Mal ein dankbares Nicken von ihm als Lohn erhalten—wie ihr Herz dabei höherschlug! Und wie sehr es ihr Herz zerreißt, wenn sie daran denkt, wie er und dieses rothaarige Luder Arm in Arm auf dem Dorfplatz erschienen, wo die beiden vorher doch nur gestritten haben. Dieses Weibsstück hat ihn doch gar nicht verdient, so wie sie mit ihm umspringt, zickt und keift und sogar seine Hand wegschlägt, wenn er sie doch liebkosen will. Sie, Aeryn, würde ihn niemals so schäbig behandeln! Wenn er sie nur sehen würde! Wenn es ihm nur einfiele, endlich mal von seinem undankbaren Weib abzulassen und sich seine Mitreisenden lange genug anzuschauen um zu erkennen, dass hier jemand vor ihm steht, der ihn wirklich liebt, der alles für ihn tun würde, wirklich alles! Mit dem eigenen Leib würde sie ihn schützen! Sogar der schrecklichen Kreatur will sie sich entgegenwerfen, um ihn zu schützen und damit er sieht, wie mutig sie ist—nur für ihn!
[5]Und schon stürmt Aeryn die Stufen wieder hinauf, Tristans Stimme im Ohr, seinen Namen im Herzen, vor allem aber wild entschlossen, dieser kreischenden Kreatur den Garaus zu machen.
[6]Freydis und
Hjálmarr dagegen erreicht Tristans Sang nicht. Beide sind in ihrem jeweils eigenen Kerker gefangen: Freydis in einem aus gleißendem Schmerz, Hjálmarr in bodenloser Verzweiflung und Einsamkeit. In der Ferne meint er zwar ein Lied zu hören, das die Schwestern auch gesungen haben, aber ach, das kann nur eine Illusion sein! Eine Erinnerung! Überhaupt, die Sehnsucht, die nicht einmal einen Namen kennt, zerreißt ihm das Herz, stürzt ihn nur tiefer in den lichtlosen, schwindelndleeren Abgrund. Auch Freydis erinnert der liebliche Sang nur an all das, was ihr entgeht, weil sie mit diesem Fluch geboren wurde, den kein Mensch erträgt—warum, ach warum kann sie nicht so wie ihre Schwester sein, einfach nur frei atmen, lieben, leben?
[7]Von all dem bekommt
Rogar nichts mit. Irgendwas summt und säuselt da im Hintergrund. Klingt ja ganz nett, aber mal ehrlich. Wie kann man zu so einem Zeitpunkt singen?