"Det er i orden, honning, jeg vil give ham dette til at drikke", beruhigt Tristan die erschöpfte Lîf.
"Du har gjort nok for i dag. Du har fået os alle gennem dette. Jeg er stolt af dig!"[1]Als der Dain, wie er sich nennt, so plötzlich dazwischen drängt, schwillt Tristan erst einmal der Kamm. Die Dain kommen in den Worten des Propheten mehrmals vor, aber nicht gut weg. Uneinsichtig, unbelehrbar, so noch das mildeste Urteil. Normalerweise müsste Tristan sich ihnen also verbunden fühlen, aber was zuviel ist, ist zuviel.
Hat der kleine Kerl mich da gerade beschuldigt, ich kümmerte mich nicht gut genug um mein Weib? Mutete ihr zuviel zu? Was weiß der schon? Ich tu meinen Teil und sie den ihren, und wenn ich sie den ihren nicht tun ließe, würde ich eine Schelte zu hören bekommen, dass mir die Ohren wackeln. Doch er schluckt diese Worte hinunter. Was soll er sich aufregen, wenn man morgen eh wieder getrennte Wege gehen wird? Und überhaupt, er ist niemandem eine Erklärung schuldig.
Doch Lîf fühlt sich ebenfalls angegriffen, als der Dain ihr so brüsk das Ruder aus der Hand reißt. Leider hat sie aber nicht mehr genug Kraft, um dem kleinen Mann eine wahre Kostprobe ihres Temperaments zu geben, daher fasst Tristan ihre Hand.
"Det er godt at have hjælp", beschwört er sie leise.
"Godt, at du ikke behøver at gøre alt alene. Giv i gang!"[2]Er nimmt den Napf aus ihrer Hand und drückt sie sanft auf die letzte freie (und trockene) Pritsche. Dann macht er sich sogleich zu Talahan auf und reicht ihm Lîfs Absud, den der Gotteskrieger mit soldatischem Gehorsam bis zur Neige leert.
~~~
Später
[3] sitzt Tristan mit Lîf zusammen auf der Pritsche—er gegen die Wand gelehnt, sie gegen seine Brust—und birgt sie in beiden Armen. Trotz ihrer Erschöpfung ist sie zu unruhig, um Schlaf zu finden. Den anderen geht es ähnlich, besonders den Überlebenden aus dem Turm. Entmutigt, noch eine weitere Nacht an diesem Schreckensort ausharren zu müssen, zucken sie beim kleinsten Geräusch zusammen. Dabei sind Wachen aufgestellt
[4] und die Kampfspuren im Raum so gut es ging beseitigt, vor allem die Leichen der Hungerkreaturen und der falschen Mönche. Pritschen wurden aus dem oberen Stock herbeigeholt und auch Astrids Vater kam, von Ingolf gestützt, die Treppe heruntergehumpelt und liegt nun bereits wieder friedlich atmend in der Nähe seiner Tochter, als einziger schlafend. Den anderen gelingt es einfach nicht, ein Auge zuzutun. Und dieses Gejammer von Orren... Tristan bemüht sich, die Ohren dagegen zu verschließen, indem er das Gesicht in Lîfs kräuterduftendem Haar vergräbt und an nichts denkt außer an sie, hier, jetzt, in seinem Arm. Doch auch so lässt sich die Unruhe nicht vertreiben. Die Stimmung erinnert ihn an seine Fahrten, wenn etliche junge Männer das erste Mal dabei waren, abends im Lager, wenn man wusste, der nächste Tag sieht ihre erste richtige Schlacht. Es war nicht direkt Angst, oder jedenfalls nicht nur.
"Wenn eh keiner von euch ein Auge zumachen kann", spricht Tristan daher in die Runde,
"dann können wir uns geradesogut die Zeit mit einer Geschichte vertreiben." Er winkt Astrid und die beiden Pilgerbrüder heran und wer immer sonst ihm noch lauschen mag.
"Kennt ihr schon die Geschichte von Jesper Olsen, einem braven Fischersmann in einem kleinen Ort an Ferslands Küste?" fragt er, als die kleine Zuhörerschar sich um ihn und Lîf versammelt hat. Man bekundet ihm Nein. Köpfe beugen sich vor, Augen glänzen erwartungsvoll.

"Jesper Olsen, unser braver Fischer, sammelte also eines Tages Muscheln am Strand. Sein Eimer war schon fast voll und er wollte bald heimkehren. 'Nur noch bis zu dem Felsen da vorne', dachte er sich und watete weiter durch das eiskalte Wasser, das seine Waden umspülte, wobei er sich hier und da nach einer Muschel bückte, die sich im schlammigen Grund versteckte. Beim Muschelsammeln besaß er einen siebten Sinn, auch wenn der junge Mann ansonsten in seinem Leben noch nichts umsonst bekommen hat außer Kummer. Die Eltern waren ihm früh weggestorben, Bruder und Schwester auch. Hunger litt er zwar nicht, denn er hatte Boot und Hütte des Vaters geerbt und war leidlich geschickt bei seiner Arbeit, doch sein sehnlichster Wunsch blieb ihm unerfüllt: obwohl längst über dreißig, besaß er weder Weib noch Kinder. Obwohl er sein Auskommen hatte, obwohl er ein ehrlicher, rechtschaffener Mann war, obwohl er gar nicht mal schlecht aussah, wollte ihn doch keines der Mädchen aus seinem Dorf zum Gatten haben. Ja, er hatte bereits mehr als eine gefragt und erhielt jedesmal nur Spott zur Antwort. Denn Jesper Olsen war mit einem Klumpfuß geboren. 'Hexenkind' und 'Wechselbalg' nannten die alten Weiber des Dorfes ihn gern und sie mussten es ja wissen, denn so hässlich und bösartig wie sie waren, hätten sie selbst Hexen sein können, die Kinder aus der Wiege stahlen, um sie zu verspeisen, und dafür die eigene Brut ins gemachte Nest zu legen. So etwas sagte man unserem braven Jesper nach, einzig wegen seines Klumpfußes! Es gibt nun einmal kein abergläubischeres Volk auf der Welt als das Fischervolk.
Und so humpelte Jesper also am Strand entlang, sammelte Muscheln, und haderte mit seinem Schicksal. Da hörte er plötzlich ein gar klägliches Wimmern. Es kam von hinter dem großen Felsen, direkt am Wasser. Rasch setzte er seinen Eimer am nahen Land ab und eilte hinüber. Und traute seinen Augen kaum. Ein junges Ding saß da, zitternd vor Angst und Kälte an den Felsen gedrückt, splitterfasernackt! Ihre Haut war weiß und rein, ihre Rundungen üppig, ihr braunschwarzes Haar... 'Bei Gaja!' dachte Jesper, 'Wer hat ihr das angetan?' Keine Handbreit über der Kopfhaut hatte jemand ihr das Haar abgeschoren, fast könnte man meinen ausgerupft, so ungleich war das Messer zu Werke gegangen, bis die Büschel in alle Richtungen abstanden, mal länger, mal kürzer. Auch die Hände, Knie und Fußsohlen der jungen Frau waren zerschnitten, wohl von den scharfen Felsen. Und sie weinte gar bitterlich.
Jesper reagierte sofort. Seine Jacke riss er sich vom Leib und hüllte das arme Mädchen darein. 'Hab keine Angst', redete er auf sie ein. 'Alles wird gut. Ich kümmer mich um dich!' Mit großen Augen sah sie ihn da an und plapperte etwas in einer gurgelnden Sprache, die er nicht verstand, und er wiederholte nur immer wieder: 'Hab keine Angst, bei mir bist du in Sicherheit', was sie wohl ebensowenig verstand und doch schmiegte sie sich schon bald vertrauensvoll an ihn, und er nahm sie mit zu sich nach Hause. Dort entfachte er als erstes ein Feuer und richtete ihr ein Lager davor, auf dass sie sich dort wärmen könne, doch das Mädchen hatte Angst vor den Flammen und kroch lieber zu ihm ins Bett. Und obwohl Jesper in seinem ganzen Leben noch niemals die Notlage eines Menschen oder einer Kreatur ausgenützt hatte, wurde er von unbändiger Lust übermannt und nahm die schöne Fremde in Besitz, ohne zu fragen, die ganze Nacht, wieder und wieder. Anfangs sträubte und zierte sie sich wohl ein wenig, doch mit jedem Mal fügte sie sich ihm williger, zuletzt gar freudigst."An dieser Stelle verirrt Tristan sich dann ein wenig zu sehr in Details, welche zudem, so könnte man ihm vorwerfen, für den Verlauf der Geschichte ohne jeglichen Belang sind. Doch auf seinen Fahrten war es nun einmal so, dass die Brüder, welche sich nach ihren Weibern in der Ferne verzehrten, die sie oft seit Monaten nicht mehr gesehen hatten, stets nur nach den deftigsten Zoten verlangten und ein jedes Mal lautstark protestierten, wenn es in Tristans Geschichten nicht möglichst rasch (und möglichst heftig) zur Sache ging. Und so verfällt Tristan auch jetzt ganz unbewusst in dieses Erzählschema, obwohl er doch so brav begonnen hat. Ihre Wirkung versagt die wort- und bildgewaltige Schilderung der stürmischen Liebesnacht, in der Jesper Olsen und das schöne Mädchen hemmungslos wie die Tiere übereinander herfielen, allerdings auch in dieser Runde nicht.
[5]Astrid, obwohl schamesrot im Gesicht, hängt mit großen, glänzenden Augen an Tristans Lippen und muss immer wieder erregt kichern; Ingolf, trotz seines gesetzten Alters, hat einen verträumten, einen ganz und gar
fernen Ausdruck auf seinen Zügen, als dächte er an eigene Erlebnisse, als sähe er eine ganz andere Frau als die geschilderte vor seinem inneren Auge; sein fast zwanzig Jahre jüngerer Bruder Orren dagegen vergisst ausnahmweise das Beten ganz und wohl auch seinen Gott. Ihm steht der Mund sperrangelweit offen, dazu geht der Atem ihm stoßweise, keuchend, es treten am Hals die Muskelstränge hervor, der gesamte Körper steht unter Anspannung: deutlicher könnte seine Haltung und Miene nicht zeigen, dass Tristans Schilderung vor seinen Augen Welten öffnet, die ihm bislang vorenthalten wurden.
Und Tristan selbst? Nun, er zieht an dieser Stelle vielleicht sein Weib ein wenig enger an sich als zuvor und dabei bemerkt sie wohl, wie gerne er momentan ein Mann der Taten statt der Worte wäre.
Irgendwer räuspert sich schließlich. Der Verdacht fällt rasch auf Talahan, der mit geschlossenen Augen daliegt, kopfschüttelnd, derweil sich auf seiner Miene ein Schmunzeln ausbreitet, das so gar nicht zu seinem aufgedunsenen, fieberglänzenden Gesicht passen will.
"In einem Kloster...", murmelt er und fast klingt es entzückt.
"Guter Gott, wenn Wände Ohren hätten!""Am nächsten Morgen fragte Jesper das Mädchen dann, ob sie sein Weib werden wolle", fährt Tristan unbeirrt fort (aber immerhin fährt er fort),
"und er las die Antwort in ihren Augen. Und so wurde bald darauf geheiratet und die beiden lebten viele Jahre glücklich beisammen. Ein Kind nach dem anderen gebar sie ihm, alle zwei Jahre eins. Seine Sprache hatte sie bald gelernt, auch die Gebräuche seines Dorfes, obwohl sie von sich aus keinen Kontakt mit den Leuten suchte, sondern am liebsten mit Mann und Kindern alleine blieb. Vielleicht, weil die Leute im Ort gern über sie lästerten: wie sie spricht (ihren gurgelnden Akzent), wie sie geht (einladend die Hüften schwingend, wie kein braves Weib es wagen würde), vor allem aber über ihr kurzgeschorenes Haar, das sie niemals länger wachsen ließ, als wie ein Mann es trägt[6]. Eine Verbrecherin müsse sie sein, eine Diebin, entlaufene Sklavin, gar eine Kindsmörderin! Warum sonst hätte ihr jemand das Haar geschoren? Warum sonst schnitt sie es seither immer wieder selbst—wenn nicht wegen des schlechten Gewissens? Keine Frau würde sich freiwillig so hässlich machen! Und die Männer im Dorf riefen Jesper nach: 'Bei dir daheim hat wohl das Weib die Hosen an! Leg' sie mal ordentlich übers Knie, bis sie einsichtig wird: eine Männerfrisur macht noch keinen Männerverstand!'
Die Vorwürfe trafen Jesper sehr. Er wollte doch, dass jeder sein Weib so sah, wie er sie sah: gutherzig, fleißig, wunderschön! Beneiden müsste alle Welt ihn eigentlich um sie! Den Spott der Männer aber ertrug er noch weniger. Also fragte er eines Abends: 'Weib, musst du dir denn immer das Haar so kurz schneiden? Wieviel schöner könntest du sein mit langem Haar!' Darauf fragte sie erschrocken: 'Ja, findest du mich denn nicht schön, so wie ich bin? Liebst du mich nicht so, wie ich bin?'—'Doch, natürlich', versicherte er, 'aber die Leute! Sie lästern über dich und über uns, erfinden die gemeinsten Lügen, während sie darüber rätseln, warum ein Weib sich auf diese Weise den Liebreiz verschandelt. Warum tust du das? Ich selbst begreife es nicht. Warum willst du nicht... mir zuliebe... dein Haar wachsen lassen!' 'Ach, geliebter Mann', sprach sie darauf, den Tränen nahe. 'Warum, das kann ich nicht sagen, das darf ich nicht, aber glaube mir bitte, dass ich's dir zuliebe und nicht zum Trotze tu!' Doch Jesper bat und schalt und räsonierte und gab nicht nach, bis sie es schließlich tat, wenn auch mit größtem Widerwillen.
Und so kam es, dass Jespers Weib in dem Jahr, da ihr Leib sich sanft über seinem sechsten Kind wölbte, eines frühen Morgens vor ihm stand, nackt wie an dem Tag, da er sie das erste Mal erblickte, diesmal aber von ihrem seidig glänzenden braunschwarzen Haar umflossen, welches ihr nun bis zur Hüfte reichte. Sie war so schön, dass ihm die Tränen kamen. Auch ihr Blick war tränenverschleiert. 'Du warst ein guter Mann', sagte sie. 'Ich werde dich vermissen. Leb' wohl.' Und schon eilte sie davon in Richtung Strand, ohne weitere Erklärung, und unser Jesper humpelte hinterdrein so schnell er konnte, doch bekam sie nicht zu fassen. Am Meer angekommen, stürzte sein Weib sich ohne Zögern hinein. Bis zu den Knieen reichte ihr das Wasser, da klebte das Haar ihr bereits nass am Leib, ihre Blöße völlig bedeckend; die Hüfte aber umsprudelte das salzige Nass, da verschmolzen Haar und Haut zu einem Pelz; die Brust erreichte das Meer, da war des Fischers Weib verschwunden mitsamt des Kindes, das sie unter dem Herzen trug. An ihrer statt durchpflügte eine Robbe die schaumgekrönten Wellen. Jesper aber blieb am Strand zurück und heulte seinem Weib und Kind wehklagend hinterher.
Noch gut zwanzig Jahre lebte unser braver Fischersmann, aber sein geliebtes Weib sah er nie wieder. Selbst kurz vor seinem Tode kamen ihm noch die Tränen, wann immer er den Robben am Strand zuschaute."~~~
"Eine Selkie!" ruft Astrid und klatscht erfreut in die Hände.
"Wusst' ich's doch!" Doch sogleich empört sie sich:
"Aber warum ist sie nicht geblieben, wenn sie Jesper doch so sehr liebt? Es hat sie doch keiner gezwungen, ins Meer zurückzukehren, bloß weil sie es nun konnte? Es blieb doch trotzdem ihre Wahl, nicht anders als zuvor, wenn sie sich selbst die Haare schnitt! Warum ist sie nicht einfach bei ihrem Mann und ihren Kindern geblieben? Wenn sie sie wirklich geliebt hätte, wäre sie geblieben!"Astrids Eifer lässt ein Lächeln über Tristans Gesicht huschen, doch seine Stimme ist ernst, als er ihr entgegenhält:
"Wenn Jesper sie wirklich geliebt hätte, hätte er ihr nicht so zugesetzt, sich doch das Haar wachsen zu lassen, bloß weil andere Frauen es lang tragen. Wenn er sie wirklich geliebt hätte, wäre es ihm egal gewesen, was die Männer in seinem Dorf redeten und erst recht die Weiber! Von Kind auf wusste er doch, dass die Leute nur dummes Zeug schwätzen und nichts die bösen Zungen je verstummen lässt. Er hätte einfach bloß zu seinem Weib halten müssen und ihr vertrauen!""Es begreift der Mensch sein Glück nicht, bis er es verliert", bringt Ingolf auf den Punkt, was er für die Moral der Geschichte hält.
Oh, aber ich begreife es, denkt Tristan sich, indem er Lîf über Haar und Wange streicht.
Und Jesper hatte es auch begriffen. Und trotzdem ist's ihm zerronnen wie Sand unter den Fingern.