In der Tat ist Talahans Anblick erschreckend, das Gesicht aufgedunsen, die blutunterlaufenen Augen tief in ihren Höhlen, das Haar schweißnass. Und doch scheint es ihm besser zu gehen, als Rogar erwartet hätte: am ersten Abend in der Krankenstube waren die Fieberpatienten bereits kaum noch ansprechbar gewesen und nur der widerborstigste unter ihnen hatte noch genug Willenstärke aufbringen können, sich von seiner Lagerstatt zu erheben und am Fenster Abkühlung zu suchen. Talahan dagegen setzt sich, nachdem er längere Zeit geblinzelt und sich über die Augen gewischt und endlich wieder orientiert hat, ohne größere Mühe auf und lauscht Rogars Worten. Was ist das nur für ein Absud gewesen, den die rothaarige Heilerin dem Mann gebraut hat? Jedes normale Fieber hätte vor diesem Trank kapituliert!
Oder täuscht der Schein? Trotz des verständigen Blicks beginnt Talahans Antwort konfus.
"Lîf", sagt der Mann, ohne zu bedeuten, auf welche der Fragen er sich bezieht.
"Der graue Barnas", geht's unverständlich weiter. Wer ist der graue Barnas? Ist der Gotteskrieger doch so fieberwirr im Kopf wie die anderen Patienten, obwohl die Hand an seiner Stirn sagt, dass sein Fieber erstaunlich weit zurückgedrängt wurde?
"Was der Mann sagte", erklärt Talahan zwischen zwei keuchenden Atemzügen.
"Lîf oder Solveig sollen's tun, wenn's nötig wird... wann's nötig wird. Bis dahin kann ich noch..." An dieser Stelle erhebt er sich, will gar nach seiner Waffe greifen, doch statt dessen greift er lieber nach seinem Kopf, während er von einem Schwindel erfasst schwankt und beinah stürzt.
"Ah...", macht er enttäuscht.
Dann legt zur Abwechslung mal er die Hand auf Rogars Stirn und murmelt ein Gebet dabei. Jetzt kann Rogar auch die Worte verstehen. Seinen Gott bittet der Mann um Hilfe, fleht, dieser möge auf den Glauben seines Dieners blicken und seine Taten und die Wahrheit des Herzens und nach dem, was er dort fände, entscheiden, ob er die Bitte dieses seines ergebenen Dieners erhören will und sein Heil durch ihn weiterleiten, auf dass die hier Versammelten sich mit neuer Kraft wieder an ihr heiliges Werk begeben könnten, den Kampf gegen das Böse, zum ewigen Ruhm Gottes.
Irritiert oder fasziniert, so leicht sind die beiden Empfindungen gar nicht auseinander zu halten, lauscht Rogar dem Gemurmel und ahnt zunächst nicht, was der Mann damit bezweckt—bis ihm plötzlich auffällt, wie unglaublich erfrischt er sich fühlt, wie voller Kraft, wie frohen Mutes! Talahan aber—sein Patient!—schwankt und droht vor Schwäche zusammenzusacken. Und doch lässt er sich nicht zu seiner Pritsche zurückdrängen.
"Abdo", sagt er bestimmt. Und das nicht nur, um die nächsten Schritte in dessen Richtung zu lenken, sondern vielmehr in Antwort auf die zweite Frage:
"Abdo soll die Führung übernehmen. Wissen... wissen tun wir alle... so wenig wie der andere... aber Abdo... wird das rechte tun..."Sobald man den Ya'Keheter erreicht hat, legt Talahan auch diesem die Hand auf die Stirn, wiederholt sein Gebet, und auch Abdo fühlt sich danach wieder gänzlich erfrischt und beinah—gesegnet.
[1]Bei den letzten Worten des Gebetes legt Talahan die Hand auf die eigene Brust, doch eine Verbesserung seines Zustandes ist nicht erkennbar: am Ende seiner Kräfte scheint er vielmehr zu sein. Freiwillig setzt er sich auf die nächstgelegene Pritsche und hat nur eine Bitte:
"Wasser!"~~~
Derweil werden die beiden Fehlenden gesucht. Halfdan ist auf Rogars Befehl, oben im Ausguck zu schauen, ob sich dort einer befände, sofort aufgesprungen und dorthin verschwunden. Aeryn geht anders an die Frage heran. Sie hat ihr bisheriges Leben im Wald verbracht. Das ist bei ihrem Volk so. Elben verbringen fast ihr ganzes Leben im Freien: sie kochen, speisen und arbeiten dort, sie unterrichten die Kinder oder studieren selbst—das gesamte öffentliche wie auch das private Leben findet im Freien statt. Vom Frühjahr bis zum Herbst schlafen sie auch im Freien. Sie lieben sich im Freien. Ihre Behausungen sind klein und eng und nur für den Schutz vor Sturm, Feind und der schlimmsten Kälte gedacht. Bei ihnen gibt es weder kalte Steinfliesen noch gepflasterte Wege. Wird jemand vermisst, sucht man den Boden nach Spuren ab.
Wie Aeryn jetzt. Dabei lässt sie sich nicht davon beirren, dass es hier weder Laub noch Erdreich noch Unterholz gibt, welches aufgewirbelt oder abgeknickt werden könnte, statt dessen eben bloß den harten, von Menschenhand gehauenen Stein, auf dem sich normalerweise keine Fußspuren fänden. Und doch findet sie reichlich davon! Bei Lîfs und Tristans Lagerstatt beginnend, wo sie ihn zuletzt bei der Wachübergabe sah—bis er sich die Rüstung angezogen hatte, schlief sie selbst allerdings schon—bemerkt sie zunächst, dass er Schwert und Horn offenbar dabei hat. Dann geht's aber schon an die Fußspuren. Davon gibt es zwei verschiedene Paare in diesem Raum und sie führen kreuz und quer, nur immer schön um die an den Rändern bereits ausgetrocknete Schleimpfütze herum, und insgesamt vor allem zum Kamin hin. Rußschwarz sind die Spuren, ein schmaleres Paar mit langem Schritt, ein breiteres mit kürzerem. Halfdan trägt schwere Reitstiefel und ist einen Kopf kleiner als Tristan, welcher außerdem in Proportion zum Körper die längeren Beine hat; Halfdan dagegen ist ganz muskelbepackter Oberkörper auf kurzen Beinen. Also steht schon einmal fest, welche Spur zu wem gehört. Danach muss die Elbin nur noch herausfinden, welche Spur wann von wem... und wie verwischt... und wieviele sind danach noch da herüber getappst... und welche führt hin, welche weg... und kommt zum Ergebnis: Tristans letzte Spur—eigentlich mehr ein Verwischen alter Spuren als eine eigene, rußklare Spur—führt zum Kamin.
[2]"Astrid ist oben im Ausguck", berichtet Halfdan hinter ihr.
~~~
Talahan zupft Abdo am Ärmel; es erschreckt den Ya'Keheter, wie schwach der Griff des Mannes ist.
"Mit dem zusammen", ein Nicken geht in Richtung Halfdan,
"und vielleicht noch einem zweiten Mann, der ein Schwert halten kann... da könnt' ich entweder hier die Stellung halten, zum Schutz der Pilger... oder wir wagen den Versuch und schlagen uns nach Ansdag durch... einer sollte wenigstens berichten... Nur für den Sturm ins Innere, da fürchte ich, so viel taug' ich nicht mehr, am Ende fall ich euch im entscheidenen Moment zur Last... gefährde den Erfolg... Ha, so glaubt man als Krieger nicht, dass man einmal zu Grunde geht, nicht wahr? Mein Gott wird mich wohl so oder so recht empfangen, er schaut in die Herzen und sieht unsere gute Absicht. Wär ich vom alten Glauben, müsst' ich allerdings um meinen Platz im Kriegerhimmel fürchten!"So fasst der Gotteskrieger seine Frustration in Worte, an der heiligen Aufgabe zu scheitern, während andere ohne ihn weiterkämpfen müssen.