Vielleicht ist sein größtes Problem die Neugier, überlegt Kjartan nicht zum ersten Mal. Was könnte er glücklich und zufrieden vor sich hin leben, wenn er den Dingen nicht immer auf den Grund zu gehen versuchte. Wer, wie, warum und wozu? Mit derlei Fragen quält er sich; wann und wo, selbst diese weniger interessanten beschäftigen ihn oft. Er versucht sich zu erinnern, wie es war, wenn der Großvater seine Ahnengeschichten vor der ganzen Kinderschar erzählte. Sicherlich war Kjartan, wenn vielleicht der eifrigste, keinesfalls der einzige, der den Opa mit Fragen unterbrach, doch will er gerne schwören, dass außer ihm selbst nie ein Kind den Greis gefragt hat,
wann und
wo denn diese spannenden Ereignisse stattfanden. Vielmehr erinnert er sich an verdrehte Augen und einer der Brüder murrte: Das ist doch jetzt wirklich egal, erzähl weiter, Opa! Trotzdem waren ihm diese Abende in guter Erinnerung, denn der Opa beantwortete seine Fragen (bis auf einige wenige, von denen er zugeben musste, die Antwort nicht zu kennen), während andere Menschen weniger Verständnis für diese Unart zeigten. Was hat er sich als junger Mann befremdliche Blicke damit eingehandelt! Fragen, so schien man sich in seiner Heimat einig, waren etwas für Kinder, schließlich hätten die ja noch etwas zu lernen; einem Erwachsenen aber stünden sie seltsam zu Gesicht. (Erwachsene, das war ihm inzwischen selbst aufgefallen, stellten kaum noch Fragen. Woran lag das wohl, dass es regelrecht verpönt war?)

Nun ja. Jedenfalls macht es unglücklich, zu viel fragen. Wie das? Nun, man stelle sich folgende Situation vor. Ein junger Mann räkelt sich an einem lauschigen Ort zu lauschiger Stunde wohlig im Arm der Geliebten, aufs angenehmste an ihr gesättigt. Man plaudert leichthin, blickt sich in die Augen, streichelt einander, tauscht Liebesschwüre. Dazu hat er sich ermutigt gefühlt, da seine Dame sich gar so sehr freute, ihn wiederzusehen; um den Hals ist sie ihm gefallen, hat ihn geküsst und geherzt und geschluchzt vor lauter Glück: ach, oh weh, für tot habe sie ihn schon gehalten, der Mutter sei Dank, dass er noch lebe! Und dann hat sie ihn gleich in ihr innerstes Refugium gezogen, einem stillen Teich, so dicht von Bäumen und Strauchwerk und Dornenranken umwuchert, dass von Außen kein Eindringen ist und nur der Weg durchs Wasser bleibt, weshalb man hier ganz herrlich ungestört ist und sich ungeniert einander widmen kann, und dies auch tut, und das obwohl man nicht allein ist.

Die beiden Schwestern der Dame sind ebenfalls da und sie haben Besuch, man muss schon verzeihen, der Herr mit den Hörnern kommt nur zwei- oder dreimal im Jahr vorbei, da kann man ihn nicht fortschicken, da muss man ihn hereinbitten und unterhalten! Da kann man sein kleines Schwesterlein noch so sehr lieb haben und es ihr noch so arg gönnen, das Herzensglück mit dem strammen Menschenmann! Und so seltsam es diesem Mann zunächst erscheint, schon bald ist die Scheu verflogen und es kommt ihm alles nur noch schön und richtig und natürlich vor, hier das Liebesspiel zu zweit, dort jenes der Schwestern zu dritt. Es wird gelacht, gekichert, gesungen, geneckt, ein Korb mit den süßesten Früchten wird herumgereicht, dazu ein Horn mit herrlichstem Honigwein, und beides leert sich nicht, so sehr man davon nascht und durch die Kehle rinnen lässt. Man lernt sich kennen, rückt näher zusammen, verliert an Schüchternheit, dank des Weines, und überkommt die Eifersucht, dank der Regeln, die seine Dame aufstellt: gerne darf der Besuch der Schwestern sie berühren und streicheln, auch küssen wohin er will, besteigen dürfe er sie diesmal aber nicht, das darf zurzeit nur ihr Liebster. Von diesem erwartet sie dasselbe: küssen und streicheln darf er die Schwestern, kosten, kuscheln und vergleichen; lieben aber darf er nur sie, die Jüngste, seine Herzensdame.
Und nun stelle man sich vor, in dieser Situation richtet der Mann sich plötzlich auf seinen Ellenbogen auf und fragt seine Liebste:
"Wie bist du eigentlich aus dem Kerker entkommen?"Welche daraufhin in einen wirren Redeschwall verfällt, dem sich auch mit größter Mühe nur wenig Sinn entringen lässt. Befreit worden sei sie, von einer Baumtochter und einem Nachtling, einem schwarzen und einem kleinen Mann, einer Elbentochter und einer Feuerbraut. Die seien von irgendwem geschickt worden—Uther war's nicht, behaupten sie!—um das Kloster von den "Pilzmönchen" zu befreien, welche zu schwarzen Schleim zerspritzen, wenn man sie tot haut, und der Schleim war in ihren schönen Bach geflossen, was sogar den Leuten in Ansdag nicht gefiel, und Abt Halfir sei der schlimmste von allen gewesen, aber jetzt sei auch er zerspritzt, obwohl ihre Retter dabei fast tot gestorben wären.
"Und dann haben meine Schwestern und ich, und Choron und die Nachtschwester, den Bach umgeleitet, damit nicht der ganze Abt dort reinfließt, und jetzt ist er bald wieder schön sauber", schließt Ninae ihre aufgeregte Rede, seufzt wohlig auf, und küsst Kjartan auf die Brust.