Wie sehr die Müdigkeit Abdos Aufnahmefähigkeit beeinträchtigt, lässt sich auch daran erkennen, dass er auf das Stichwort, das unter normalen Umstände sofort sein Interesse geweckt hätte, gar nicht reagiert: Dämonen. Solveigs Lehrmeister kämpft also gegen diese und weist auch seine Schülerin im Kampf gegen sie an. Zudem handelt es sich bei ihm offenbar um eine Kreatur, die eine noch höhere Lebensspanne als Elben oder Zwerge besitzt—wie alt Zwerge werden können, weiß Abdo zwar nicht, aber Elben gibt es in seiner Heimat sehr wohl und von ihnen ist ihm bekannt, dass sie etliche hundert Jahre erreichen können. Und der Großvater dieses Mannes hat, will man zwergischer Geschichtsschreibung trauen, gar Dinge von vor zwei oder drei Jahrtausenden zu berichten gewusst? Doch auch dieser Gedanke zieht an Abdo vorbei wie ein vom Sturm gepeitschter Wolkenfetzen; genauso hoffnungslos wäre es, nach ihm zu haschen.
Als Abdo Schwester Hildegerd die Wertgegenstände des Abtes präsentiert, blinzelt diese zunächst verwirrt, bis sie begreift, worum es geht. Doch auch als ihre Miene sich erhellt, zögert sie noch, danach zu greifen.
"'Strebt nicht nach weltlichen Gütern', sprach Javrud also zu den Neunen, 'sondern nach Läuterung eures Geistes. Denn Besitz erzeugt Gier, und Gier ist die Mutter aller Sünden." Die fromme Schwester schlägt dabei ein Kreuz auf ihrer Brust, nach Art der Behadrim: Mund und Stirn mit dem Daumen der locker geballten Faust, die Schultern mit den Fingerspitzen, zuletzt das Herz mit der flachen Hand.
"Bruder Meirik ist entkommen, sagtet Ihr vorhin?" wendet sie sich an Halfdan.
Dieser nickt.
"Mit etlichen anderen. Wollten sich zur Feste am ander'n Ende des Walls durchschlagen. Mit etwas Glück wimmelt's hier in ein paar Tagen vor Gotteskriegern." Er unterbricht sich, um etwas auszuspucken, auf dem er seit längerem herumkaut, besinnt sich aber gerade noch eines besseren.
"Oder auch nicht. Wer weiß, ob sie durchgekommen sind, oder wie schnell man dort auf ihre Bitte reagiert. Wenn überhaupt."Hildegard nickt ernst.
"Dann werde ich die Sachen so lange in Verwahrung nehmen, bis Bruder Meirik zurückkommt und entscheiden kann, was damit geschehen soll." Endlich nimmt sie die Wertsachen von Abdo entgegen.
Um eine Sorge erleichtert, atmet Abdo ein wenig auf. Auch der Streit zwischen Zwerg, Solveig und Freydis scheint inzwischen beigelegt, und als er Lîf daraufhin beiseite zieht, nimmt sie ihm auch eine dritte Sorge ab, die besonders schwer auf ihm gelastet hat. Auf diese Weise beruhigt, ordnen sich auch seine Gedanken wieder ein wenig. Was er jetzt braucht, was sie alle brauchen, ist eine anständige Nachtruhe.
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Derweil offenbart Kjartan seltsame Ansichten über Leben und Tod, dass Tristan sich fragen muss:
Folgt er nun Gaja oder dem Einen? Weiß er es selbst? An ein Leben nach dem Tod scheint er jedenfalls nicht zu glauben: weder an das verborgene Reich Hel, in dessen drei Ebenen die Ahnen und all die anderen Geister wandeln und von wo aus sie beschworen werden können oder von selbst erscheinen, noch an die sieben Himmelreiche, zu denen die Seelen der Tüchtigen nach ihrem Tod auffahren und wo sie sich auf die große Schlacht vorbereiten, die an jenem Tag ausbrechen wird, da Gaja sich zum Sterben niederlegt. Wenn von allen Seiten Gajas Feinde—die Frost- und die Feuerriesen, Urian mit seinem Dämonen und Hela, die Herrscherin der Unterwelt—über sie herfallen, da sie ihre Schwäche wittern, wird es die Aufgabe dieser Tüchtigen sein, die feindlichen Heerscharen lange genug abzuwehren, bis Gaja eine neue Welt geboren hat.
Doch zu den Ansichten der Pfaffen passen Kjartans Worte ebensowenig. Zwar verleugnen auch sie das Leben nach dem Tod, glauben weder an Himmel noch Hel, nicht an den großen Kampf in Gajas Namen, nicht an Geister noch Ahnen, aber sehr wohl an mehr als ein Leben. Ihnen zufolge, so lehrte es sie Javrud, ihr Prophet, werden die Seelen der Menschen (und der anderen sterblichen Völker) hier auf Erden wiedergeboren, denn ein Leben ist nicht genug, um sich von der Sünde freizumachen und die geistige Vollkommenheit zu erlangen.
[1]Nicht, dass Tristan die Verwirrung des Mannes nicht nachempfinden könnte; ihm war es damals ähnlich ergangen, als er sich nach sieben Jahren Klosterleben unter den Rûngardern einleben musste. Der Spruch, welchen Kjartan zitiert, klingt in der Tat seltsam. Wen zitiert Kjartan da? Wortwörtlich? Oder bringt er da etwas durcheinander? Ganz entfernt klingt es ja nach etwas, dass der Prophet gesagt haben könnte, nur scheint das Hinterste nach vorne gekehrt, die Wirkung zur Ursache geworden zu sein.
"Ich glaube, das ist die stark verkürzte Fassung folgender Worte des Propheten"—den hier gerade eigentlich jeder zitierte, erst Solveig, dann Hildegerd, dann Kjartan (hier blieb es beim redlichen Versuch), dann würde Tristan mal zeigen, wer dies von allen am besten kann—
"die da lauten: 'Was aber ist der Lohn dessen, der sein Leben lang hart im Dienste der Gemeinschaft gearbeitet hat, für sie sein Leben riskiert hat, die Gesundheit ruiniert? Noch härtere Arbeit, noch größere Gefahren, noch ärgere Prüfungen in seinem nächsten Leben, denn er hat gezeigt, dass er die einfacheren bestehen kann. Beschwert euch also nicht über die Mühen eures Lebens, denn je größer sie sind, desto näher seid ihr dem Einen. Jede Herausforderung, die ihr meistert, bringt euch einen Schritt weiter auf dem Weg zu ihm, welcher von uns allen als einziger vollkommen ist und dem sich nur der nähern darf, der alle Schwächen des Geistes hinter sich lässt und sich selbst der Vollkommenheit nähert.' Ich glaube, das meintest du mit deinem Spruch: der, dessen Leben am elendsten und damit hassenswertesten erscheint, der ist dem erstrebten Gewinn, nämlich der Vollkommenheit seiner Seele, am nächsten."~~~
Was Abdo und Lîf miteinander ausgemacht haben, ist den anderen schnell erklärt und es regt sich auch kein nennenswerter Widerspruch. Freydis' Pochen auf ihre adlige Herkunft, welche sie über die anderen erhebt und damit von jeglichem Gehorsam entbindet, entlockt Tristan nur ein Kopfschütteln (über so viel Torheit) und eine Grimasse (wie von Schmerzen).
"Jeg forstår ikke, hvorfor I efterligner frankernes adel", raunt er seinem Weib zu. "En fri mand skylder ikke nogen lydighed, han følger sin jarl eller sin drage leder, så længe de gør det godt. Jeg troede, at folk i Albion havde mere mening!"
[2]Ansonsten kommentiert er die Sache nicht weiter. Warum sollte Lîf nicht hier im kleinen die Aufgabe erfüllen, die ihr seit Esjas Tod unter den Jarlsöern obliegt? Und Abdo will er gerne als Drachenführer akzeptieren—solange er seine Sache gut machte. (Allenfalls einen Stich tut's ihm, denn er muss dabei an die Seinen denken und daran, dass er und Lîf ihnen eigentlich zur Seite stehen sollten, jetzt mehr als je zuvor! Es wird Zeit, dass man den Auftrag hier endlich mal erledigt, oder vielmehr endlich überhaupt einmal angeht, dann in Kromsdag berichtet und rasch zu Lîfs Eltern weiterzieht, und dann endlich zu den Seinen zurück, die gestrandet, ohne Hab und Gut, ohne Jarl und drei Viertel ihrer kampftauglichen Männer, in der feindlichen Fremde!)
Und so ist bald alles besprochen. Die sechs Heilerinnen sehen so erschöpft aus die Gruppe selbst, weshalb man sich bald darauf zur Nachtruhe begibt. Rogar und Abdo bleiben bis zum Morgen zur Beobachtung im Heilerzelt, während Lîf, Freydis, Aeryn, Tristan und Kjartan den Bunten Hahn aufsuchen, in welchem man ja schon eine Schlafkammer für sieben Personen bezahlt hat. Auch Halfdan zieht sich dorthin zurück. Dort angekommen, führt Frida sie in ein Nebengebäude. (Sollten sie Halfdan dazu einladen, da sie zwei freie Bettstellen hätten, kommt er gerne mit.)

Der Weg führt durch die Küche des Hauses, wo die drei geretteten Novizen auf zwei Bänken direkt vorm Herdfeuer liegen; die beiden jüngeren bereits schlafend. Frida stellt den Gefährten erstaunlich wenige Fragen und fast ausschließlich solche, die man von einer Gastwirtin erwarten würde. Habt ihr noch Hunger? Findet ihr euch zurecht? Braucht ihr noch etwas? Oder wollt ihr selbst kochen? Meine Speisekammer steht euch offen. Nur ganz zum Schluss, als die Gefährten sich bereits in ihrer "Kammer" umschauen—vier Bettbänke für je zwei, eine kleine Feuerstelle in der Mitte mitsamt großem Suppenkessel, zwei Truhen und allerlei Haken für die Habe, Kochgeschirr und allerlei Nützlichem—fragt Frida sie:
"Ist es denn endlich vorbei? Ist die Gefahr gebannt?"Nach der Antwort, wie sie auch ausfällt, zieht Frida sich dann zurück und die Gefährten fallen in die Felle.
Die Nacht vergeht ohne besondere Vorkommnisse. Auch beim Frühmahl haben sie die Wahl: selbst kochen, hier unter sich, oder begeben sie sich in den Gastraum? Danach gilt es, die üblichen Vorbereitungen zu treffen, doch natürlich drängt es alle zurück zu Solveigs Hütte und dem Heilerzeit, um nach Abdo und dem Dain zu sehen.
Auch für Abdo und Rogar vergeht die Nacht ohne Vorkommnisse. Die Patienten schlafen ruhig, die Heiler ebenso, und die Wachen wachen.
[3]