Die Blicke, die
Abdo für seine Rede über Aris' Gaben an den Menschen erntet, sind ungefähr von der Qualität wie jener, mit dem Tristan ihn auf der Reise bedachte, als der Ya'Keheter in Aris' Namen grüßte. Die jetzigen scheinen allerdings deutlich verwirrter:
Hä, was quatscht der Kerl da? Wer ist dieser Aris? Wieso sollten wir ihm gefallen wollen? Wir kennen ihn doch gar nicht. Und wie kann er uns eine Stimme und die Fähigkeit zu denken gegeben haben? Nun haben die drei Burschen dort im Stalleingang ja schon Talahans Pointe nicht verstanden, vielleicht darf man sie nicht als Maßstab nehmen.
Talahan passt kurz darauf einen unbelauschten Moment ab, um Abdo zu erklären:
"Wenn du einfach so von Aris sprichst, dann denken die Leute, du meinst damit einen der Ahnen wie Askyr den Sturmboten oder Hrothgar den Gastfreundlichen. Hier bei uns hat der Eine Gott keinen Namen. Nur die falschen Götter." Von
Aeryn aufgeregt nach Details bedrängt, hebt Frida schon zu einer Antwort an, da geht
Hjálmarr mit seiner laut geraunten Bemerkung dazwischen, das alles könne so ja wohl nicht stimmen. Wie zuvor bei Uthers Auftritt lässt die Bauersfrau sich zunächst verunsichern. Gehetzt schaut sie sich in alle Richtungen um, doch ist nicht klar, ob sie jemandem sucht, der ihr beipflichten könnte, oder im Gegenteil ungebetene Zuhörer befürchtet.
"Also nein, ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber mein Schwager, Hensgar, der ist mit zwei Burschen rüber, nach dem Rechten sehen, als wir letzte Nacht von dem Lärm wach wurden. Die beiden Schwestern waren schon tot, die Mutter schrie noch, aber da wühlte er schon in ihrem Gedärm—fraß es, behauptet mein Schwager, stopfte es sich mit beiden Händen ins Maul! Dass es Ilf war, erkannte er nur daran, dass ihm das linke Ohr zur Hälfte fehlte, das hat ihm als Junge mal ein Hund abgebissen, den er zu arg geärgert hatte. Ansonsten hatte Ilf nichts menschliches mehr an sich. Ausgezehrt bis auf die Knochen, aschgraue Haut, gelbe Augen, Reißzähne im Gesicht, Krallen an den Händen..." Frida legt den Kopf schief und überlegt, ob sie noch etwas wichtiges vergessen hat.
"Als er meinen Schwager entdeckte, warf er den Kopf in den Nacken und heulte so fürchterlich, dass beide von Hensgars Burschen vor Angst davonliefen. Dann stürzte er sich auf ihn! Der Knüppel hat ihm gar nichts ausgemacht!"An dieser Stelle wirft sie einen trotzigen Blick in Hjálmarrs Richtung, der wohl heißen soll: Und, klingt das etwa
nicht nach einem Dämon?
"Gott sei Dank sind noch andere Nachbarn herbeigeeilt, sonst hätte Ilf unseren Hensgar auch noch zu Tode gebissen. Aber entkommen konnte er. Ist in die Nacht verschwunden, schneller als die Männer ihm nachgucken konnten. Das ist noch ein Grund, warum wir uns nicht aus unseren Häusern wagen: weil er noch da draußen ist. Und vielleicht auch, warum Gus sich ertränken wollte: aus Angst, sich auch in einen Dämon zu verwandeln. Aber ich weiß nicht, wie klar der arme Junge da noch denken konnte."Derweil lernt
Freydis Fridas heldenhaften Schwager Hensgar in voller Lebensgröße kennen. Die beiden Pferde im Schlepptau, zieht sie ein wenig mühsam das zertretene Gatter der kleinen Umzäunung neben dem Gasthaus auf. Da öffnet Hensgar schon die obere Hälfte der Stalltür und gleich darauf die untere. Locker um einen Kopf überragt der Gastwirt die junge Frau. Seine Schultern und Oberarme wären eines Schmiedes würdig, auch wenn er insgesamt eher hager wirkt, wohl auch wegen seiner Körpergröße. Freydis folgt ihm in den geräumigen Stall, wo ein Bursche sich um die Pferde kümmert. Im völligen Gegensatz zu draußen ist es hier drinnen sauber und ordentlich. Bis auf zwei weitere Tiere sind die Boxen leer, obwohl Platz für ein rundes Dutzend wäre.
"Um die Jahreszeit habe ich sie ja normal draußen", erklärt Hensgar,
"aber seit letzter Nacht..."Als Freydis nachhakt, erzählt der Gastwirt bereitwillig: Durchgegangen seien die Viecher ihm letzte Nacht, hätten draußen Zaun und Gatter zertreten. Die beiden dort drüben hätten seine Burschen rasch wieder eingefangen. Da habe noch keiner gewusst, was los war. Er selbst dachte, ein Bär müsse sich ins Dorf verirrt haben, dass die Tiere so verschraken.
"Statt dessen trieb ein Wandler sein Unwesen. Tut es noch! Wenn ihr wirklich heut' noch ins Kloster hoch wollt, seht' zu, dass ihr vor Einbruch der Dunkelheit eine Unterkunft habt. Hast ja gesehen, wie er den Gaul draußen zugerichtet hat. Mit bloßen Händen!" endet der Mann kopfschüttelnd.
Freydis erkundigt sich auch nach dem Weg zum Kloster und erfährt, dass einige Stellen so eng und steil sind, dass man nur als erfahrener Reiter den Weg zu Pferd wagen sollte. Pilger würden natürlich schon aus Pietätsgründen zu Fuß gehen.
"Im Dunklen sollt' man beides besser lassen."Wegen der Unterbringung der Tiere ist man sich schnell einig. Auch an Zimmern gibt es freie Auswahl. Hensgar verspricht hoch und heilig, den Tieren nur Regenwasser zu geben. Noch sind die Tränken und Wassertonnen voll. Und er steht zu seinem Wort: die erste Nacht für sie alle auf Kosten des Hauses.
[1]"Feuer", sagt er noch, als Freydis sich bereits zum Gehen wendet.
"Vor meiner Fackel hatte der Wandler mehr Respekt als vor meinem Knüppel. Davor wich er zurück. Nur ein Stück und er kam auch gleich wieder an, wütender als zuvor, aber mir hat's die nötige Zeit verschafft, bis Verstärkung kam. Ich glaub', das Licht tat ihm in den Augen weh."Als Freydis wieder ins Freie tritt, brennt am östlichen Ende des Dorfplatzes schon der Scheiterhaufen. Wenig später tauchen im Norden
Lîf und Tristan auf. Der ein oder andere Gefährte muss zweimal hinschauen, um seinen Augen zu trauen: tatsächlich, die beiden gehen engumschlungen und wenn sie sich anblicken, huscht ein Lächeln über beide Gesichter, mehr ein Leuchten in den Augen als ein tatsächliches Hochziehen der Mundwinkel, aber dennoch unverkennbar. So traut wie jetzt hat noch keiner der Anwesenden das ungleiche Paar gesehen. Ein krasser Gegensatz zu der grauslichen Arbeit, die Abdo, Hjálmarr und Talahan hier in der vergangenen Stunde geleistet haben.
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Als die Gefährten kurz darauf gemeinsam in Richtung Osten aufbrechen, steht die Sonne in ihrem Rücken abermals ein deutliches Stück tiefer.
[2] Zunächst führt der Weg am Bach entlang, der sich durch die Wiesen und Felder schlängelt, vielerorts überschattet von Bäumen oder hohem Gebüsch. Kleinere Schleifen des Gewässers kürzt der Weg dabei ab und so hält man zu Beginn fast schnurstracks auf das Kloster zu.
Unterwegs tauschen die Gefährten sich aus. Lîf und Tristan erzählen, was sie von Solveig noch über die möglichen Ursachen und schrecklichen Auswirkungen der Seuche erfahren haben, Aeryn und Freydis teilen ihre Beute an Wissensbrocken aus Fridas und Hensgars Schilderungen, Abdo beschreibt den Auftritt des Fürstensohns, während Hjálmarr noch einmal seine Meinung wiederholt: in was immer Ilf sich verwandelt hat, es war sicherlich kein Dämon. Als das Kloster schließlich unmittelbar über ihnen aufragt, wiederholt Talahan seine Vermutung, dass Pater Halfir womöglich vorhatte, so lange zu warten, bis die Situation mit den Räubern so weit eskaliert ist, dass die lokale Bevölkerung gar nicht mehr in der Lage wäre, mit der Bedrohung noch fertig zu werden—um dann die Kavallerie (in Form von Kriegern seines, Talahans, Ordens) herbeizurufen und sich als Retter zu präsentieren.
"Alles Strategie", glaubt Talahan.
[3]Aus der Ferne beeindruckt vor allem der Erlstav, der mit seinem schneegekrönten Gipfel dreimal so hoch aufragt wie der kleine Vorberg, auf dem das Kloster steht, doch je näher man heran ist, desto beeindruckender wird der Vorberg selbst und vor allem die schiere Steilwand, oberhalb deren das Kloster sich befindet. Da muss man heute noch hinauf!
"Das ist der Wächter", gibt Talahan dem Vorberg einen Namen.
Beeindruckend ist auch der Wasserfall. Das, was hier unten als etwa 8 Schritt breites Bächlein durch sonnige Wiesen gluckst, stürzt sich dort geschätzte 200 Schritt den schroffen Felsen hinab.
[4] Lange bevor die Gefährten den Fuß des Wasserfalls erreichen würden, biegt der Weg nach Süden ab und führt sie eine geraume Weile unter dem Steilhang entlang. Dann beginnt, in umgekehrter Richtung, der Aufstieg. Möglich, dass der ein oder andere hier bald flucht, dass man sich das angetan hat: zu Fuß gehen! Zu Pferd säße man jetzt gern! Doch bald muss auch der unwilligste Bergsteiger zugeben: huch, die Stelle da, die wäre mir doch zu eng, zu abschüssig zum Reiten, oder auch nur zum Mitführen eines Tieres, das weder mich noch die Berge kennt. An zwei dieser Stellen finden sich eine Serpentine weiter oben hölzerne Kranvorrichtungen, die den sicheren Transport nennenswerter Warensmengen ermöglichen. Endlich ist die letzte Serpentine erreicht. Nur noch wenige hundert Schritt und die Gefährten stehen vor dem Tor des Klosters.
[5]