Hjálmarr schlendert seinen Gefährten gelangweilt hinterher, oder zumindest tut er gelangweilt. (So richtig offen hat er seine Augen nicht. Er wähnt sich in düsteren Gängen, dabei durchschreiten die Gefährten einen wunderschönen Klostergarten und treten gerade einmal durch eine einzige Pforte und stehen bereits in der Schreibstube. Die allerdings ist mit Kerzen erhellt, nicht mit Tageslicht. Hätte man nicht einfach größere Fenster einbauen können?) Die Mönche, über deren Schulter er blickt, ignorieren ihn. Keine der sechs Federn hält irritiert inne, keine Hand zuckt, keine Konzentration bricht. Die Arbeiten sehen durchaus prächtig aus, ob man lesen kann oder nicht.
Bei Bruder Edgar angelangt, lässt sein kryptischer Einwort-Einwurf diesen nur die Stirn runzeln; die folgende Frage aber überrascht gegenfragen:
"Das hat man bis ins Dorf gehört? Trotz Sturm? Donnerwetter." (In
Abdos Ohren klingt die Überraschung aufgesetzt; ebenso die folgende Anteilnahme.
[1])
"Ja, das war schlimm. Er hatte sich verletzt und die Wunde war brandig geworden. Da hilft nun einmal nichts außer das Gliedmaß absägen."Nahtlos fährt der Bibliothekar an
Abdo gewandt fort:
"Eine Krankheit breitet sich im Dorf aus? Das ist schlimm", kommentiert er die Neuigkeiten.
"Aber so schlimm kann es auch wiederum nicht stehen, sonst hätte man ja nach unserem Infirmar geschickt. Aber dass ihr keine Soldaten dabei habt, das ist schade, denn die Räuber sind inzwischen wahrhaft eine Plage. Auch wenn ich kein großer Gärtner bin, sei mir der Vergleich gestattet: Unkraut reißt man besser aus, sobald es sich zeigt, und lässt es nicht erst groß und stark werden und so den nützlichen Pflänzlein Wasser, Licht und Nahrung rauben. 'Lass uns endlich unsere Ordensritter herbeirufen', habe ich Abt Halfir inbrünstig beschworen, doch er wollte noch abwarten. 'Soren hat längst nach Kromdag geschickt', erklärte er mir, als die erste Karawane ausblieb und später bei der zweiten: 'Jetzt wird Ayrin handeln müssen.' Da sagt Ihr wohl zu recht, dass ich enttäuscht bin, dass er nur vier Mann geschickt hat und das auch erst jetzt. Ein Dutzend Wachen konnten den großen Handelszug nicht vor den Räubern schützen, was wollt Ihr da erreichen? Habt Ihr schon mit Uther gesprochen, dem Sohn unseres örtlichen Fürsten? Er war wie ich von Anfang an für Handeln statt Abwarten und überblickt die Lage besser als sein Vater, der nie ein entschlossener Anführer war und im Alter jetzt auch noch zu Zerstreutheit neigt."Eine Pause folgt dieser langen Rede, in der erst einmal niemand etwas zu antworten weiß. Zu schnell hat der Bibliothekar die Worte heruntergeleiert, zu sprunghaft wechselten sich dabei die Themen ab. Er sprach von etwas banal-alltäglichem wie Unkrautrupfen im gleichen Tonfall wie von Krankheit oder Räuberplage. Und weil niemand gleich antwortet, fällt ihm auch noch ein Nachsatz ein:
"Abdo al'Mbabi ist Euer Name, da kommt Ihr wohl von weit her? Eure Züge sind ja auch sehr fremdländisch. Kommt Ihr vom großen Festland? Wurdet Ihr wegen der ausbleibenden Handelsschiffe ausgesandt?"Abdo blickt sich nach Talahan um, der während Edgars Rede einmal empört einwarf:
"Um Räuberbanden kümmert sich normalerweise der Fürst vor Ort. Ayrin hat genug mit dem Krieg zu tun! Und Sorens Bote war alles anders als kohärent...", ohne dass Bruder Edgar dafür in seiner Rede innegehalten hätte. Doch jetzt, da Talahan die Gelegenheit zum Einspruch hätte, lauscht er mit geneigtem Kopf etwas, das die Elbin ihm ins Ohr raunt. Abdo sieht sich überraschend in der Rolle des Sprechers. Wie ist er nur dazu gekommen? Der Bibliothekar jedenfalls sieht ihn erwartungsvoll an.
[2]Von
Aeryn auf den seltsamen Geruch angesprochen, saugt Talahan überrascht in drei verschiedene Richtungen Luft ein und zuckt dann ratlos mit den Schultern, als verstehe er nicht, was sie meine. Als alter Kämpe hat er es sich angewohnt, die meisten Gerüche auszublenden—Schweiß, Blut, hervorquellendes Gedärm oder einfach nur viel zu viele ungewaschene Leiber auf zu engem Raum: das sind die normalen Gerüche im Soldatenleben, neben Bohneneintopf mit viel Zwiebel. Doch selbst jetzt, wo er aktiv schnuppert, scheint er nichts zu bemerken. Menschen haben ja sowieso einen schlechteren Geruchssinn als Elben und Talahans ist mit den Jahren wohl sehr abgestumpft. Allerdings fällt Aeryn selbst auch nicht mehr zu dem Geruch ein als vorhin beim Tor, auch wenn er jetzt intensiver ist: feuchter Waldboden.
Auch
Freydis muss ihren ersten Einfall revidieren: Es riecht nicht nach Schimmel. Trotzdem: die Feuchtigkeit kann nicht gut sein für das Schreibmaterial, das ringsum gelagert wird, oder für die Schriftrollen und Manuskripte, die sich linkerhand in vier großen Regalen neben dem Schreibtisch des Bibliothekars befinden. Sie blickt sich suchend um, kann aber nicht ausmachen, woher die Feuchtigkeit stammen könnte außer von den Männern selbst. Schwitzen diese etwas besonders stark?
So warm ist es heute doch gar nicht, eigentlich eher kühl hier drinnen—für jemanden, der von draußen kommt und eine Bergwanderung hinter sich hat. Aber sie entdeckt keine Schweißperlen auf den Stirnen der Mönche, kein schweißnasses Haar.
[3]Dann wird sie durch die Inschriften abgelenkt, die in die Kopfleisten eines jeden Regals eingeritzt stehen: Sinnsprüche über das Wissen, wie es sich für diesen Ort geziemt, doch erscheinen sie Freydis eher wissensfeindlich.
"Bemühe dich nicht, alles wissen zu wollen, sonst lernst du nichts", fängt es noch eher harmlos auf dem linken Regal an. Daneben wird gewarnt:
"Solange du das Wissen suchst, musst du die Weisheit missen." Darauf wird man wortreich ermahnt:
"Wer wenig weiß, geht häufig fehl; wer zu viel weiß, kommt nicht vom Fleck, denn vor jeder Entscheidung scheut er zurück in banger Sorge: kenne ich alle Fakten? habe ich alles bedacht? kein Detail übersehen? Wie in allem gilt es auch beim Wissen: auf das gesunde Maß kommt's an." Der letzte Spruch sagt provokant:
"Mehr wissen zu wollen, als man braucht, ist Gier, ist Futterneid, ist Völlerei!"Freydis zuckt zusammen, als jemand direkt neben ihr verächtlich schnaubt.
Tristan ist neben sie getreten und hat wohl ebenfalls die Inschriften gelesen. Ein Inselpirat, der lesen kann? Die Welt ist voller Wunder. Dazu teilt er offenbar ihre Meinung zu diesen Sprüchen. Bevor sie ihn ansprechen kann, ist er aber schon wieder an der Seite seiner jungen Frau, die ihm schon beunruhigt nachgeblickt hat, obwohl er sich ganze drei Schritt von ihr fortgewagt hat.
Lîf denkt gerade wieder an die Worte ihres Mannes draußen im Klostergarten. "
Så hjælpsom som den strenge far, der uddanner sin søn med slag", lautete seine Antwort auf ihre Bemerkung.
"Alt til sin fordel, selvfølgelig, at han er en anstændig mand. Senere, når sønnen er allerede takke ham for det."[4] Sie weiß, dass Tristan als Junge einige Jahre in einem Kloster verbracht hat und dass er nicht gern über die Zeit spricht. Ein einziges Mal hat er es über sich gebracht, ihr davon zu erzählen, in knappen Worten und mit hohler Stimme. Erst vorhin vor Solveigs Hütte hat er ihr dann offenbart, dass er sein Leben dort als so schlimm empfand, dass der brutale Überfall der Rûngarder Piraten ihm glückselige Befreiung war.
Ein guter Mönch ist der, der brennt... Lîf überkommt ein Schauer. (Es ist aber auch sehr kühl hier drinnen, wenn man aus der Sonne kommt.)
Den seltsamen Geruch, auf den Freydis sie anspricht, identifiziert Lîf mühelos. Vielleicht liegt das daran, dass sie sich gerade erst Gedanken darüber gemacht hat, ob die Mönche auch genug zu Essen bekommen. Jedenfalls riecht es hier nach Pilzen. Frischen Pilzen, keinem Pilzeintopf. Wie gerne wäre sie jetzt im Wald, ein leichtes Weidenkörbchen am Arm, auf der Suche nach derlei Köstlichkeiten! Zuletzt war es die alte Esja auf Jarlsö, die Lîf zum Pilze Sammeln begleitet hat und ihr auch einige zeigen konnte, die Lîf noch nicht kannte. Es gibt auch heilkräftige Pilze, doch diese sind knifflig in der Anwendung, denn der Grat zwischen Gift und Heilmittel ist hier meist besonders schmal. So ganz von ungefähr kommt es nicht, wenn Heilerinnen vom unwissenden Volk (oder der oft ebenso unwissenden Obrigkeit) als Giftmischerinnen verkannt und verschrieen werden.
Lîf schnuppert noch ein paarmal, bis sie sich sicher ist: der Geruch scheint von den Mönchen selbst auszugehen.