Tristan wirft einen erstaunten Blick über die Schulter.
"Gebetskammer? Der Mönche? Wir sind doch an der Kapelle vorbeigekommen, die war wirklich nicht zu übersehen!" Kann es sein, dass jemand
so wenig über die Anhänger des Einen Gottes weiß, dass er nicht einmal ein Gotteshaus als solches erkennt oder das Wort 'Kapelle' auch nur gehört hat? An Lîf gewandt, fährt er fort:
"Und wenn das hier echte Mönche wären, dann träfe man sie dort noch beim Vespergebet an[1]. Aber so? Was weiß ich." Er zuckt mit den Achseln.
Und so bleibt den Gefährten nichts anderes übrig, als Abdos Vorschlag zu folgen: das Gemäuer Raum für Raum zu durchsuchen, nach überlebenden Mönchen und weiteren dieser
Wesen. Doch wie das eine vom anderen unterscheiden?
Zunächst jedoch folgen alle der Elbin, als diese sie—inzwischen leicht ungeduldig—hinaus in den Klostergarten führt. Dieser sieht auf den ersten Blick noch genauso hell und freundlich aus wie vorhin, doch verfehlt er diesmal seine Wirkung. Nicht länger ein geschützter, stiller, friedlicher, heilender Ort, sondern ein feindlicher: misstrauisch gehen die Blicke zu den schmalen Fenstern hoch, zu den anderen Türen und Toren, nach hinten, sogar zum Brunnen hinüber. Die Ohren sind gespitzt, die Hände an den Waffen, die Herzen hämmern in der Brust. Lîf meint, kurz ein Gesicht an einem Fenster im dritten Stock des Gästetrakts zu sehen, genauer im Turm, denn das Gebäude selbst hat nur ein Stockwerk über dem Erdgeschoss (und auch im Turm dürfte die dritte Etage die letzte bewohnbare sein; darüber läuft er spitz zu). Aeryn dagegen erblickt eine Bewegung im Hauptgebäude, an derselben Stelle wie zuvor.
[2]Doch die Gefährten durchqueren den Klostergarten ohne Zwischenfälle. Kaum wieder im dunklen Gemäuer, hält Lîf ihren leuchtenden Kamm hoch. Vor ihnen liegt ein großer, verwinkelter Raum, still und in seinen Tiefen dunkel. Weiter hinten, wo er sich weitet, scheint es zwar ein Fenster zu geben, doch da dies nach Osten geht, erhellt es nicht viel. Eine Reihe von Pritschen ist zu erkennen, doch auch ohne diese wäre klar, dass man sich im Infirmarium befindet, denn soviel verrät schon der warme Kräuterduft, der ihnen entgegenschlägt. Nach rechts geht ein schmaler Gang ab, der noch schmaler wirkt, weil die Außenwand mit hohen Regalen vollgestellt ist; an seinem Ende befindet sich eine Tür. Aeryn aber steuert schnurstracks auf die Tür linkerhand, nur ein Stück weiter voraus zu, welche offenbar nur angelehnt ist, denn sie schlägt leise gegen ihren Rahmen.
[3] Aeryn wartet nicht lange: sie stößt die Tür auf.
Oder vielmehr: schiebt die Tür auf, denn bald trifft sie auf Widerstand und muss sich dagegen stemmen. Offenbar hat jemand versucht, die Tür von innen zu verbarrikadieren, wozu er eine schwere Holztruhe und zwei Regale davorschob, was ihm aber wohl nichts genutzt hat, denn das Möbiliar ist zerschlagen, der Türriegel natürlich auch, und das gesamte Zimmer verwüstet, als hätte hier ein Kampf stattgefunden.
[4]Äußerst seltsam machen sich daher die beiden Knabenleichen aus, die lang ausgestreckt, fast schon friedlich—die Augen geschlossen, die Hände auf der Brust überkreuzt—auf dem großen Bett liegen. Das einzige, was das friedliche Bild stört, ist das ganze Geschmeiß, die Fliegen, Maden und sonstigen Krabbeltiere, die schon fleißig zugange sind, denn die Leichen liegen wohl schon an die vier Tage da. Und natürlich das inzwischen getrocknete Blut, das Kissen und Felldecke tränkt. Die beiden sind nicht in einem Kampf gestorben, so viel ist klar: fein säuberlich hat jemand ihnen die Kehlen durchschnitten. Tatsächlich findet Lîf neben dem Bett ein dünnes Messer, wie ein Heiler es benutzt.
Ein zweiter Blick durch den Raum zeigt, dass es sich um die Kammer des "Bruder Infirmar" handeln muss, wie Tristan verkündet. Allein das imposante Bett zeigt die Wichtigkeit des Bewohners: massiv, doppelt so breit, wie ein Mensch benötigt, mit vier Pfosten und Baldachin, und Schubkästen unter der Liegefläche. (Auf diese Weise war es leider zu schwer, um vor die Tür geschoben zu werden.) Die Kleidung in der Truhe offenbart, dass ihr einstiger Träger ein korpulenter Mann gewesen ist.
Die beiden Knaben auf dem Bett bezeichnet Tristan als "Novizen".
Den Geruch darf sich jeder selbst ausmalen.