Während die Gefährten—sein Weib inklusive—Talahan mit großer Überzeugung ihre Unterstützung andienen und darüber in Diskussion verfallen, ob es hier im Kloster Überlebende geben könne und wo man nach diesen, oder aber nach den Verursachern, als erstes suchen solle, begreift Tristan erst so richtig, was Lîf da eben zu Abdo gesagt hat. 'Ich ahne, wovor du mich vorhin gerettet hast...'
Allmächtiger, wie knapp ist sie denn entkommen? Hätte sie um ein Haar das Schicksal des Bruder Infirmars geteilt, welches ihm so schrecklich deuchte, dass er dafür gar sein Seelenheil zu opfern bereit war, nur um seinen beiden Schutzbefohlenen mit einem Schnitt durch die Kehle dies Schicksal zu ersparen? Ich hätte sie niemals mit dem Mönchlein[1] mitziehen lassen dürfen! Allein! Unbewaffnet! Am liebsten würde er Lîfs inbrünstige Bitte ausschlagen und sie aus dem Kloster zerren, so schlecht ist ihm bei dem Gedanken, in welcher Gefahr sie hier schwebt, aber dazu ist es zu spät. Wer weiß, wie viele der falschen Mönche sich da draußen herumtummeln? Und inzwischen dürfte auch der letzte von ihnen die Anwesenheit der sieben Fremden mitbekommen haben. Nein, hier drinnen hätten die Gefährten wohl noch am ehesten eine Chance, sei es, indem sie sich irgendwo verschanzten oder aber sich zum Ursprung der Plage vorkämpften und diese beseitigten.
Und so sagt Tristan statt dessen in die Runde:
"Ja, wir sind dabei." Die Ironie an der Sache aber entgeht ihm nicht.
Vor wenigen Wochen habe ich mit meinen Fahrtenbrüdern ein Kloster fast so groß wie dieses geplündert und niedergebrannt, einem halben Dutzend Mönchlein meine Klinge in den Leib gerammt, auch ein eifriger Novize war dabei, nicht viel älter als die beiden dort auf dem Bett, auch wenn ich dafür zwei jüngere gerettet habe, die's mir irgendwann vielleicht sogar als gute Tat anrechnen werden, als Befreiung... und jetzt soll ich dabei helfen, ein Kloster zu retten? Oder, falls es nichts mehr zu retten gibt, die Mönche zu rächen? Oder vielmehr, Gerechtigkeit für sie zu finden, wie sie es nennen würden?"Måske er det Gajas idé om retfærdighed?" fragt er Lîf leise.
"Måske de ønsker hermed at etablere en slags ligevægt?"[2]"Gerechtigkeit" ist ein Konstrukt der Pfaffen, welches Gaja-Anhängern gerne Kopfzerbrechen bereitet, deshalb hat Tristan sich auch schnell verbessert. "Gleichgewicht" heißt im alten Glauben die vergleichbare Größe. Bislang hat Tristan sich nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, doch jetzt erscheint ihm auf Anhieb das Gleichgewicht tatsächlich als das einfachere, leichter anwendbare Konzept. Um Gerechtigkeit zu verstehen oder zu erklären, braucht es Philosophen oder Priester; was Gleichgewicht ist, erkennt jedes Kind auf einen Blick.
Zweimal schon hat das Schicksal mich verschont, hat mir meine Lîf gelassen, obwohl es anderen ihre Liebsten nahm. Von diesem Glück muss ich nun meinen Teil zurückzahlen in den Schicksalstopf, muss Fremden helfen, so wie Fremde meiner Lîf halfen! Sonst nimmt sich bald von mir das Schicksal selbst, was zum Gleichgewicht ihm fehlt. Das leuchtet einem sofort ein, ganz ohne kompliziertes Philosophieren, ohne lauthals Gerechtigkeit, Buße oder Sühne zu fordern, oder was den Pfaffen sonst noch so alles einfällt. Wenn sie es richtig kompliziert machen wollen, dann fragen sie nach den Motiven. Schlimm ist's laut ihrer Vorstellung, wenn einer das Richtige tut aus falschem Grund!
Tristan Blick gleitet zu den beiden toten Novizen hinüber. Seltsam ist es ja schon, wie wenig ihn der Anblick rührt im Gegensatz zu seinen Gefährten und insbesondere zu Abdo. Da fragt er sich nicht zum ersten Mal:
Empfinde ich weniger als andere Leute? Ist's mir wirklich alles gleich? Aber warum? Bin ich ein Unmensch? Ist das normal? Dass mir die Menschen so fremd vorkommen, so furchtbar fern? Ach, manchmal spüre ich mich selbst nicht mehr!Wie anders als er ist dagegen sein Weib. Sofort bereit zu helfen, das eigene Leben für die Mitmenschen zu riskieren. Wie ihre Stimme dabei vor Leidenschaft bebt, ihre Augen vor Überzeugung glühen! Ist es da nicht ein Wunder, muss man sich fragen, dass sein Weib, dass dieses wilde junge Geschöpf mit dem Herzen reiner als ein Bergquell, ihn überhaupt lieben, ihn zärtlich berühren und in ihrem Schoß empfangen kann, obwohl sie weiß, was auf seinem Gewissen lasten müsste, wenn sich ein solches in ihm regen würde? Achtzehn Jahre lang hat er mit seinen Fahrtenbrüdern die Küsten und Gewässer Dalarans heimgesucht auf Jagd nach leichter Beute. Leichte Beute wie sie und ihre Heilerinnenschwestern vor zwei Jahren. Wie das Kloster zu Sundheim vor wenigen Wochen. Wie es Ansdag genausogut hätte werden können.
In diesem Augenblick tritt Lîf zu ihm. Vielleicht hat sie seiner Miene abgelesen, welch ernste Gedanken ihm durch den Sinn gehen. Indem sie die Hand auf seinen Arm legt, will sie ihn trösten oder zum Aufbruch mahnen? Einerlei ist's, denn plötzlich fühlt er sich ganz nah. Plötzlich schlägt ein warmes Herz in seiner Brust, so voll von Gefühl, dass es ihm übergeht, dass er selbst, Leib, Herz, Verstand und Seele, damit überfließt. Impulsiv zieht er sie in seine Arme—gerade als sie etwas von eilen spricht—und drückt sie an sich, als wär's das letzte Mal.
"Die Taten eines Mannes sind's, die zählen, nicht seine Gründe", murmelt er an ihrem Ohr und endet still bei sich:
Dass ich's nur ihr zuliebe tu—was macht das schon, wen soll das kümmern?Unter den Gefährten scheint inzwischen Einigkeit zu herrschen. Tristan blickt rechtzeitig auf, um Talahan entschlossen nicken zu sehen, worauf der Gotteskrieger und Abdo auch schon zusammen zur Tür schreiten, durch die man gekommen ist.
Tristan gibt sein Weib wieder frei und die beiden folgen den anderen. Auch Lîf hat dabei die Hand am Griff ihrer Waffe, wie Tristan zufrieden bemerkt. Den Abschluss bildet Hjálmarr. Dass der Lesdager Tristan mit acht knappen Worten den Frauen und Kindern zuordnet, scheint dieser überhört zu haben, zu Lîfs großer Erleichterung.
"Eine Sache versprich mir noch", bittet Tristan rasch, bevor sie den Hof betreten.
"Falls wir es je bis zu deiner Familie hinaufschaffen, lass uns deinem Vater nichts hiervon erzählen. Wenn er fragt, wie war die Reise, lass uns sagen: länger als erwartet, denn wir mussten uns noch ein wenig Geld verdienen, ansonsten aber ohne Zwischenfälle."