"Die Patienten? Nein, in den Griff bekommen werden sie es nicht", antwortet Solveig auf Aeryns Frage.
"Auch die Heilerinnenschwestern aus Hildridsrast können nicht mehr für sie tun, als sie in einen Zauberschlaf zu versetzen, um das Fortschreiten der Verwandlung zu verlangsamen. Immerhin gewinnen wir dadurch ein paar Wochen, um die Quelle des Fluches ausfindig zu machen."Dann erblickt sie den Neuankömmling. Ihre Miene hellt sich auf und sie tritt ihm entgegen.
"Der Mutter sei Dank, Kjartan! Du hast gefunden, wen du suchtest?" fragt sie ihn leise.
"Dann ist bei den Schwestern alles in Ordnung? Erst, als ich dich gestern abend schon fortgeschickt hatte, kam mir der Gedanke, dass hinter deiner Geschichte vielleicht etwas mehr stecken könnte als die üblichen Liebesverirrungen. Aber ich konnte hier nicht fort, um dort auch noch nach dem Rechten zu schauen."Derweil atmet Abdo erleichtert auf, als Rogars und Tristans Reaktionen auf Kjartans Rede seine diesbezügliche Sorge als unbegründet zurückweisen: Rogar zeigt sich gänzlich unbeeindruckt, Tristan wendet sich lediglich mit einer leichten Röte des Gesichtes (eine äußerst seltsame Angewohnheit dieser Nordländer) von seinem Weibe ab.
Oder vielmehr droht die Gefahr mal wieder aus völlig anderer Richtung, als der Ya'Keheter vermutet hat. Als Kjartan nämlich sein Sax erwähnt, begleitet durch eine hinweisende Geste darauf, wird Tristan doch auf ihn aufmerksam.
"Kommer du fra øerne?"[1] fragt er ihn auf Värangsk. Dann runzelt er die Stirn. Der Fremde sagte ja, er sei hier aus der Gegend.
"Oder stammt dein Vater daher? Von den Rûngard-Inseln?" Dann wird er misstrauisch.
"Oder woher hast du das Sax?"[2]Doch nachdem Abdo einmal die Frage nach dem Fluch in den Raum gestellt hat, kann nicht einmal die Ankunft des Fremden verhindern, dass die Gefährten sich mit gesenkten Stimmen eifrig beraten. Zum einen muss ausgenutzt werden, dass die frommen Schwestern gerade anderweitig beschäftigt sind, zum anderen scheint Solveig den Neuen zu kennen und dessen Verbindung zu den Feenschwestern zu bestätigen, zum dritten hat dieser Kjartan eine derart leutselige, vertrauenserweckende Art
[3], dass man ihm keinerlei Hinterlist oder Falschheit zutraut und sich nicht scheut, offen vor ihm zu reden. Und er selbst mischt sich auch gleich in die Debatte ein.
"Ein Umfeld des Klosters gibt's nicht mehr", brummt Halfdan auf Kjartans Vorschlag hin.
"Wen die Kreaturen nicht verschleppt haben, der hat sich hier nach Ansdag geflüchtet. Die Höfe draußen stehen allesamt leer. Und hier im Ort will niemand was gehört oder gesehen haben—wenn sie überhaupt mit dir reden. Halfdan", stellt er sich verspätet vor, da Lîf ihn vergaß vorzustellen.
Als Lîf laut über den Blitz als Manifestation (oder Übermittler) des Fluchs nachdenkt und gar ins Grübeln gerät, ob Erdmagie im Spiel sein könne, widerspricht ihr, ganz unerwartet, der eigene Gatte.
"Askyr nennt man nicht umsonst den Sturmboten. So wie ich das sehe, vermochte er aus einem Sturm Kraft schöpfen. Warum sonst sollte er den Stürmen nachgereist sein? Wie sonst sollte er vorab gespürt haben, wo einer toben wird? In den meisten Versionen seiner Geschichte, die ich gehört habe, konnte er sogar selbst Blitze schleudern."Auch Solveig will widersprechen, doch Freydis kommt ihr zuvor. Nachdem die Berührte ihr Wissen über Flüche vor den Gefährten ausgebreitet hat und auch die Frage der Elbin, ob sie im Kloster diesen
Fokus gespürt habe, entschieden verneinen musste, und schließlich Rogar noch Verdachtsmomente in drei Richtungen warf—dreimal also setzte Solveig zum Sprechen, erst beim vierten Mal gelingt es ihr—verteidigt sie allen voran die Feen.
"Niemals würde eine Fee die Landschaft verseuchen! Uns Menschen strafen, mit Pest oder Pocken, für einen begangenen Frevel—ja, das wäre ihnen zuzutrauen. Aber doch nur mit natürlichen Mitteln! Das, was hier geschieht, ist durch und durch unnatürlich. Und dafür gibt es nur zwei mögliche Ursachen: Dämonenwerk oder Berührtenmagie."Freydis' Miene verfinstert sich, als ihre Magie in einem Atemzug mit Dämonenwerk genannt wird, deshalb setzt Solveig eilig hinterdrein:
"Berührtenmagie, weil sie künstlich ist, wie das Feuernetz nun ja auch künstlich erschaffen wurde.[4] Die schrecklichen Verwandlungen sprächen für das eine, die Verbindung zum Sturm, noch mehr die Gezieltheit der Attacke, für das andere. Wenn wirklich der Abt das Ziel war, spricht das für menschliche Motive. Dämonen kämpfen wild gegen alles, was ihnen in die Quere kommt, sie suchen sich doch keine einzelnen Ziele irgendwo tief im Feindesland aus."Nach Abdos Einschätzung stimmt letzteres nicht so ganz. Einzelne, besonders mächtige Dämonen besitzen schon die Intelligenz und die Fähigkeit, einen gezielten Schlag auszuführen, etwa gegen den Anführer einer gegen sie ausrückenden Armee. Ein solcher war der Abt nun aber gerade nicht. Weit entfernt. Statt den Kampf gegen die Dämonen zu organisieren, hat er lieber die eigene Bevölkerung verfolgt
[5], also etwa arme Frauen verbrennen lassen, deren einziges 'Verbrechen' darin bestand, ihrem Mann ein außereheliches Kind unterjubeln zu wollen. Also eigentlich eher die Art Mensch, die ein Dämon sich an der Spitze seiner Gegner wünschen würde.
"Viel Wissen braucht es wohl nicht, um einen Fluch zu wirken." Solveigs Blick geht zum schlafenden Talahan, als sie den Zwerg korrigiert.
"Auch kein großes Können oder Talent. Vor allem wohl den Willen, dazu den nötigen Hass und die Phantasie, sich die erwünschte Strafe ganz genau auszumalen... Euer Anführer hat von einem Fall erzählt, mit dem er einmal zu tun hatte. Ein ganz junger Berührter war es, kaum ein Mann zu nennen, der sich für ein Unrecht rächen wollte. Doch so einfach es ist, einen Fluch zu wirken, so schwer lässt sich die Sache offenbar kontrollieren, ist sie einmal entfesselt. Verglüht sei der dumme Junge zum Schluss an seinen eigenen Kräften."Rogars Verdacht gegen Uther wehrt sie ab.
"Uther würde niemals mit solchen Kreaturen zusammenarbeiten. Und vonwegen ansässigen Gaja-Anhängern, da gibt es außer mir und den Bachschwestern, ihrem Bruder und einem gelegentlichen Gast nur noch ein paar Weiber, die den Gedanken einer um die Kinder besorgten Mutter erträglicher finden als den des strengen, stets mit Strafe drohenden Vaters, aber über ein paar nächtliche Treffen, bei denen sie nur mit Blumenranken bekleidet bei Mondschein tanzen, geht das nicht hinaus. Aber wie schon gesagt, ich halte es für ausgeschlossen, dass Erdmagie im Spiel ist.""Aber ist Dämonenwerk wirklich auszuschließen?" will Abdo sich vergewissern.
"Das mit dem Abt sind doch nur Vermutungen. Es muss kein gezielter Schlag gewesen sein.""Nun", beginnt Solveig zögernd.
"Grundsätzlich ist Dämonenwerk niemals auszuschließen. Wäre aber ein Dämon hier in der Gegend, bliebe es nicht bei ein paar verfaulten Beeten, sondern die ganze Landschaft würde leiden. Gehen wir aber von einem Fluch aus, da ein solcher eben aus der Ferne gewirkt werden kann, so sind wir uns sicher: ihn kann kein Dämon gewirkt haben. Was nämlich die wenigsten wissen: Dämonen selbst können nicht zaubern. Sie verderben alles, mit dem sie in Berührung kommen, durch ihre bloße Anwesenheit; sie dringen in den menschlichen Geist ein und richten dort Schaden an oder flüstern demjenigen Befehle, Gelüste, Träume oder Gedanken ein, und ja, auf diese Art können sie ihn auch zu schrecklichen Taten bewegen; die mächtigsten von ihnen kontrollieren eine ganze Schar solcher Anhänger—aber direkt zaubern, so wie wir es verstehen, können sie nicht. Das Feuernetz ist ihnen, nach allen bisherigen Erfahrungen, so unzugänglich wie die Erdmagie."