Zu Rogars Erklärungen nickt Kjartan eifrig, auch wenn die Worte "selten und sehr wertvoll" ihm ein abschätziges "Pfft" entlocken. Ob dieses "Quellwasser"
[1] nun aber den alchemistischen Tränken seiner Heimat ähnelt, kann Abdo auch nach der Erklärung, sie stabilisierten einen Kämpfer, der sonst von seinen Wunden bereits überwältigt würde, nicht so recht sagen. Alchemistentränke lassen einen Kämpfer etwa seinen Schmerz vergessen oder versetzen ihn in einen Kampfrausch, oder sie vertreiben für eine kurze Weile jegliche Erschöpfung, machen ihn schneller oder stärker oder schärfen seine Sinne, lassen ihn Hitze oder Kälte ertragen oder alle Furcht vergessen. Heilende Tränke gibt es wohl auch, aber diese sind fürs Krankenlager geeignet, nicht für den Kampf, ihre Wirkung offenbart sich in Tagen, nicht in Augenblicken. Quellwasser. Der Name hilft ja nun gar nicht weiter.
Vielleicht schaut Abdo noch immer verwirrt oder skeptisch, jedenfalls sieht Kjartan weitere Überzeugungsarbeit vonnöten.
"Oh ja, wenn du verletzt bist und trinkst das Wasser, dann heilst du sofort. Ich habe leider nur noch die beiden Fläschchen hier—eins für dich und eins für mich—obwohl ich vier eingesteckt habe, als der Bruder Wulfhart mal nicht aufpasste, aber zwei habe ich schon selbst getrunken, die hatten mich aber auch zugerichtet, bloß weil sie mich mit Ninae erwischten."Er hält inne und schaut auf einmal erschrocken.
"Aber für einen Dieb dürft ihr mich nicht halten! Nämlich die eigentlichen Diebe sind die Mönche, die so tun, als gehörte das Wasser ihnen. Da solltet ihr Ninae einmal wettern hören! Für alle sei das Wasser da, die von der Quelle für würdig befunden werden, schimpft sie, aber die Mönche spielen sich auf, als dürften sie das entscheiden! Der Prophet selbst war ein würdiger Mann, auf ihn lässt Ninae nichts kommen, sie hat ihn ja noch kennengelernt. Javrud hieß er damals einfach bloß und als Prophet wurde er auch noch nicht verehrt. Aber die Quelle habe ihn von der ersten Begegnung an für würdig befunden, so würdig, dass sie mit ihm zeit seines Lebens das Lager teilte. Das macht ihn in Ninaes Augen quasi zu einem Familienmitglied. Aber glaubt Ihr, dies fände in der Überlieferung seiner Lebensgeschichte eine einzige Erwähnung? Pfft. Davon wollen die Mönche nichts wissen. Keusch und enthaltsam habe er angeblich gelebt und darin wollen sie es ihm gleichtun, um besser gewappnet zu sein gegen die Einflüsterungen der Dämonen!"Kjartan hält stirnrunzelnd inne. Seine Erzählung scheint vom Weg abgekommen zu sein. Eine kurze Überlegung bringt ihn zurück zu dem, was er hat sagen wollen. Sein Gesicht hellt sich auf.
"Genau! Nicht als als Prophet wurde er nämlich damals verehrt, sondern weil er als einziger etwas über die Dämonen wusste und wie man sie bekämpfen kann, und er brachte alle zusammen, die dabei helfen wollten: Menschen, Elben, Zwerge, und so weiter. Er forderte sie auf, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und sich zusammenzutun, denn sonst wäre es für sie alle das Ende. Sogar Ninae und ihre beiden Schwestern vertragen sich seither mit ihren Nachtgeschwistern. Einen Pakt hat man damals geschlossen, dort bei der Quelle—Elb, Mensch, Zwerg, Riese[2], Kolkar und Fee—dass man zusammen die Dämonen bekämpfen wolle. Und dass jeder von ihnen, der im Kampf gegen die Horde verletzt würde, an der Quelle Hilfe fände. Jeder, versteht ihr? Und über Jahrzehnte lief alles gut, aber kaum war Javrud tot, nahmen seine Anhänger die Quelle in Beschlag und bauten eine Feste drumherum und bestimmten, dass fortan nur wer an ihren Einen Gott glaubt auch von dem Wasser trinken darf. Eine Frechheit, sagt Ninae, und sie würde sich bestimmt sehr freuen, wenn sie wüsste, dass ich einem ihrer Befreier etwas von dem Wasser gegeben habe."Kjartan schließt seine Rede mit einem befriedigten Nicken.
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Die Ankunft so vieler Zweibeiner verursacht bei den Welpen große Aufregung. Einzelne Schreckmomente kommen wohl vor, bei denen ein Tier vor Angst quietscht oder zurückweicht, doch überwiegt das kindliche Urvertrauen und die Not. Ob die zupackende Lîf, der verzückte Abdo oder die eher zurückhaltende Aeryn, die Welpen bedrängen alle mit nämlichem Eifer: überall wird beschnuppert, erkundet und beleckt, gestubst und mit großen Augen angebettelt. Auf Lîfs Versuch, sie zu beruhigen, reagieren sie ebensowenig wie auf Abdos Zuspruch (obwohl seine Fleischbrocken sie doch anlocken, allerdings fallen ihnen die Happen immer wieder aus dem Maul, was ihr Interesse daran aber kaum mildert). Auch Aeryns Sorge, die Kleinen könnten abhauen, ist unbegründet. Schon ein Schritt Entfernung zu den Geschwistern lässt jeden kleinen Ausreißer winselnd zur Gruppe zurückjagen.
Lîf kommt zu dem Schluss, nachdem sie ein paar von ihnen in der Hand hatte (manche vielleicht auch zweimal), dass die Tiere wohl hungrig und durstig sind, aber noch nicht ausgehungert. Sie sind wohl erst seit kurzem auf sich allein gestellt. Seit gestern vielleicht oder allenfalls den Tag davor. Wo wohl ihre Mutter ist? Die Kleinen scheinen dem Säugealter noch nicht ganz entwachsen zu sein, auch wenn sie bereits kleine Zähnchen bekommen. Vorkauen müsste man das Fleisch, so wie das Muttertier es täte. Oder vielleicht nähmen sie auch Milch von einem anderen Tier an?
Letzeres erkennt auch Aeryn. Dass die Tiere von der Mutter wohl noch gesäugt werden und allenfalls erste, vorgekaute Fleischmahlzeiten bewältigen können.
Rogar hat weniger Zeit für die Welpen. Er behält die Kellertreppe im Auge.