Sprachlos hält Abdo inne und bestaunt die Steinhalle, Überrest einer versunkenen Kultur von Entwicklungstand, den er in Dalaran längst nicht mehr erwartet hätte. Schmerzhaft drängt sich die Erinnerung an seine Heimat auf. So ähnlich scheint ihm die Architektur zu der seiner Heimat, dass er einer Verbindung sucht. Womöglich geschah hier dasselbe wie in Ya'Kehet?
Doch Rogar hatte die Mauerreste vor dem Haus als hakadisch und etwa 3000 Jahre alt identifiziert, und darauf so lapidar wie kryptisch angefügt, dass über das Reich der Hakadi seit 25 Jahrhunderten das Wasser herrsche. Ya'Kehets Blüte dagegen begann mit der Ankunft des Propheten Sinai vor 385 Jahren. (185 Jahre lang lehrte dieser größte aller Gelehrten die Menschen Ya'Kehets in den zwölf Wissenschaften
[1] und er wird wohl die Mehrheit dieser Jahre gebraucht haben, um Ya'Kehet von einer Zivilisationsstufe, dem heutigen Dalaran, zu einer den Erbauern dieser Halle ebenbürtigen zu heben.) Und was ihren jeweiligen Untergang betrifft: Laut Tristan fielen die Shetani vor knapp vier Jahrhunderten in Dalaran ein. Auch hier liegen also mindestens zwei Jahrtausende zwischen den beiden Ereignissen.
Wenn nur Asha und Amaal noch am Leben wären, die beiden kannten sich mit geschichtlichem aus, dem Leben Sinais so gut wie mit allem, was seither geschah. Abdo selbst fallen nur so nutzlose Geschichten ein, die ihm in seiner Kindheit der Onkel erzählte, wie etwa folgende:
Ein Schüler fragte Sinai eines Tages: "Ist es wahr, dass du vom Himmel gefallen bist?" Worauf Sinai ruhig erwiderte: "Bin ich eine Sternschnuppe? Nein, Fateh, ein Schiff brachte mich hierher." Damit, so glaubte Sinai, war die Sache geklärt, doch einige Wochen später fragte ein Schwager Fatehs: "Ich habe gehört, du bist in einem Schiff vom Himmel gefallen, ist das wahr?" Während Fatehs Nichte rief: "Und ich hörte, du bist den Tiefen des Meeres entstiegen, wo eine Seehexe dich gebar und du ihr jahrzehntelang dienen musstest, bis du ihr endlich entkamst!" Da hieb Sinai mit der Faust auf den Tisch. "Ich kam auf einem Schiff hierher", erklärte er. Seine Stimme war ungeduldiger, als man sie je erlebt hatte. "Wir wurden angegriffen. Unser Schiff brannte. Ein halbes Dutzend von uns rettete sich in Boote. Wir suchten die nächste Küste zu erreichen. Nur ich erreichte sie lebend. Und jetzt will ich solchen Unfug nicht mehr hören! Und komme ich aus einem noch so fernen Land, in welchem gewiss sehr viele Dinge ganz anders sind als hier, so ist doch auch bei uns der Himmel oben und die Erde unten und wer weder Flügel noch Flossen besitzt, der bleibt besser mit beiden Beinen auf dem Boden!"
Vielleicht hatten auch die Hakadi einen Lehrer wie Sinai? Oder andersherum: vielleicht stammte Sinai von den Hakadi ab? Welch schreckliches Unglück sie auch immer von 25 Jahrhunderten überkam, vielleicht überlebte ein Teil von ihnen an abgelegenen Orten, sowie es ja auch in seiner Heimat Überlebende gab? Dann müsste er nur noch wissen: Wie sahen die Hakadi aus? Vielleicht fände er hier unten ein Bildnis, Statue oder Mosaik, das einen Hakadi zeigt. Kweku, der Daktari, hatte Abdo ein Porträt Sinais gezeigt, welches er nach dem großen Mosaik in der Universitätsbibliothek angefertigt hatte, als Student im ersten Jahr dort, und seither in seinem Notizbuch bei sich trug.
[2] Sollte der Mann also ein Nachkomme der Hakadi sein, reicht ihm ein einziges Abbild zum Vergleich.
Vielleicht befindet Abdo sich mit den Hakadi aber auch auf dem Holzweg und der Zusammenhang liegt viel näher. Es gibt nämlich einen zweiten Lehrer, von dem er schon gehört hat, der wie Sinai in Ya'Kehet als "Prophet" verehrt wird und diesem auch sonst sehr ähnlich scheint: Javrud. Auch von ihm weiß niemand, woher er kam. Am Strand zu Ansdag tauchte er eines Tages auf, etwa zeitgleich mit Sinai in Ya'Kehet. Javrud, wie Sinai, warnte die Menschen vor den Shetani. Auch er wurde ihr Anführer, laut Kjartan, "weil er als einziger etwas über die Dämonen wusste und wie man sie bekämpfen kann."
Nun der Unterschied: Javrud brachte den Dalaranern weder Kultur noch Wissenschaft bei, sondern ausschließlich die Kriegskunst. Aus gutem Grund. Denn es tauchten die Shetani gleichzeitig mit ihm auf, und nicht erst dreieinhalb Jahrhunderte später wie in Ya'Kehet. Javrud, anders als Sinai, führte die Menschen im Kampf gegen die Dämonen eigenhändig an. "Die Bestien sind niemals weit aus den Bergen herausgekommen", ist laut Tristan der Erfolg davon. Oder in Kjartans Worten (von Rogar bestätigt): "Er brachte alle zusammen, die dabei helfen wollten: Menschen, Elben, Zwerge, Riesen, Kolkar und sogar die Feen. Er forderte sie auf, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und sich zusammenzutun, denn sonst wäre es für sie alle das Ende. Einen Pakt hat man damals geschlossen, dort bei der Quelle..."
Und hier der zweite Unterschied. Elben gibt es in Ya'Kehet ebenfalls, aber keines der anderen Völker. Weder Dain noch Riesen noch Kolkar und erst recht keine Wesen wie Ninae, die Kjartan "Feen" nannte. Feen. Vor dem heutigen Tag kannte Abdo diese nur aus Geschichten, welche Hilda gerne erzählte, oder auch Tristan. (Man denke an die Frau, die sich in einen Fischer verliebte, obwohl sie eigentlich ein Seehund war, in anderen Worten: Kindermärchen.) Kjartan aber sprach von Feen als mächtige Verbündete im Kampf gegen die Shetani.
Abdos Herz schlägt schneller. Kann es sein, dass die Antwort auf eine seiner Fragen zum Greifen nahe ist? Nämlich wie es den Dalaranern gelang, den Shetani fast vier Jahrhunderte lang die Stirn zu bieten, während Ya'Kehet in fünf Jahren überrannt wurde? Ihr Prophet lebte damals noch. Führte sie an. Vereinte sie. Elben, Menschen, Zwerge, Riesen, Kolkar. Und Feen. Über sie alle könnte es sich lohnen, mehr zu erfahren. Das brächte ihn sicherlich auf die Spur seiner zweiten Frage: wie bekämpft man die Shetani erfolgreich, welche Schwächen haben sie? Worauf ihm nur die dritte bliebe: wie käme er mit all dem schönen Wissen zurück nach Ya'Kehet?