Während sich einige der Waisen noch für eine Weile unterhielten, wurde es insgesamt doch immer stiller und schließlich versammelte Aquila Ventus, die die meisten nur als "Tante Aquila" kannten, weil sie das Waisenhaus bereits verlassen hatte, bevor sie dort gelebt hatten, alle Anwesenden um den aufgebahrten Leichnam des alten Zwerges und ergriff das Wort: "Wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Orbus Proteg, dem letzten seines Clans, der uns allen wie ein Vater war. Seine Seele hat nach langer Mühe den verdienten Weg zu seinen Göttern angetreten. Wir sind hier zusammen gekommen, um sicher zu stellen, dass er sich auf dem Weg nicht verläuft, und das er nichts von sich selbst verliert. Deshalb wollen wir seiner Gedenken, Erinnerungen an sein Leben teilen und so dafür sorgen, dass er mit festem Schritt ins Zwergenheim eintreten kann." Für einen Augenblick schwiegen alle und sahen bedrückt auf den Boden oder starrten einfach geradeaus. Dann ergriff Aquila von neuem das Wort: "Orbus ist der erste, an den ich mich erinnern kann. Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren, ich weiß nicht, woher ich stamme. Alle Wurzeln die ich habe führen zu diesem Ort, zu ihm. Er hat mich aufgezogen, hat mich davor bewahrt draußen in den Winden wie ein Blatt umhergeweht zu werden. Er hat mich auf den Pfad gesetzt, den ich bis zum heutigen Tag beschreiten, auf den richtigen Pfad. Meine erste Erinnerung an ihn ist ein lachendes Gesicht. Es war ein kalter Wintermorgen, aber das machte mir nichts aus. Es stürmte und die Winde peitschten um die Häuser. Aber auch das machte mir nichts aus. Ich bin ins Dachgeschoss geklettert und habe eines der Fenster geöffnet, um nach draußen sehen zu können, um den Wind auf meiner Haut spüren zu können. Die Läden schlugen laut im Wind, eine der angeln ächzte unter der Last und drohte auszubrechen. Orbus hat mich dort oben gefunden, weil er das Schlagen der Läden gehört hat, ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Wintern, das die eisigen Winde genossen hat. Und er hat mich nicht dafür gescholten, dass ich die Läden dem Sturm aussetze. Er hat einfach nur dargestanden und gelächelt, weil ich glücklich war..."
Wieder schwiegen die Versammelten und ließen die Erinnerungen an ihren Ziehvater wach werden, das, was er gewesen war. Für eine Weile war es bis auf vereinzeltes Schluchzen ruhig, bevor dann Sarai das Wort ergriff: "Erinnert ihr euch, wie er uns im Winter, wenn uns kalt war, wenn wir Albträume hatten oder wenn irgendetwas Schlimmes in der Stadt passiert war, das uns Angst machte, immer aus seinem Kelch hat trinken lassen? Ich weiß es noch genau, wie er mich das erste Mal auf den Schoß genommen hat und mir dieses Gebräu, das er immer in seiner Brusttasch trug eingeschenkt hat und dann mit ernster Stimme sagte: "Das hier ist ein Zauberkelch, er vertreibt Hunger und Sorgen!" Und nach dem ersten Schluck waren die Sorgen vergessen. Ich weiß nicht einmal mehr, was für ein Getränk es war, das habe ich lange vergessen, aber dass Orbus damit alle Sorgen vertreiben konnte, daran erinnere ich mich, als wäre es erst gestern gewesen..."
So standen die Waisen für eine Weile beieinander und teilten Erinnerungen an ihren Ziehvater. Nicht alle ergriffen das Wort, aber während sie hier zusammen standen, verstanden sie, was die Zwerge mit diesem Ritual bezweckten und auch mit den Wiederholungen. So viele Geschichten, wie sie in den nächsten Zehntagen über Orbus hören und erzählen würden... das würde sicherlich dafür sorgen, dass keiner von ihnen den alten Zwerg jemals vergessen würde, auch wenn es vorher schon beinahe unmöglich gewesen wäre.
Nach einer Weile war das Ritual für diesen Tag beendet und sie würden sich erst in einem Zehntag wieder treffen. All jene Waisen, die ein Heim in Niewinter hatten, kehrten dorthin zurück, während der Rest in Orbus Anwesen verblieb. Zimmer gab es hier mehr als genug und früher war es ihr Heim gewesen, auch für die nächsten Wochen sollte das so sein. Der Abend selbst war noch nicht allzu weit fortgeschritten, aber dennoch zogen sich die meisten Waisen schnell auf ihre Zimmer zurück. Sei es, weil ihnen noch eine weite Reise in den Knochen steckte oder weil die Erinnerung an ihren Ziehvater sie in die Einsamkeit trieb.