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Autor Thema: Das Disenthing  (Gelesen 44526 mal)

Beschreibung: Kapitel 1

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Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #60 am: 21.09.2017, 22:09:06 »
"Ja, Lîf, ach, was glaubst du denn?" antwortet Tristan auf ihre naive Frage, ob die beiden Nächte erzwungener Keuschheit (eigentlich ja drei, mit der gestrigen) ihm wohl schwerfallen würden. Manchmal überrascht sie ihn doch. Ach, spürst du's denn nicht, ahnst es nicht einmal, wie sehr du mein kaltes Herz erwärmst? Meine verdorrte Seele nährst? Licht und Leben in meine stille Einsamkeit bringst, mich Nacht für Nacht aus endloser, rastloser Wacht erlöst? Doch auch er kommt dank Karl nicht mehr dazu, das auszusprechen, und ehrlich gesagt kann man nicht wissen, ob er mit etwas mehr Zeit den Mut dazu gefunden hätte, denn es ist schon ungewöhnlich genug für einen Inselmann, derlei Gedanken zu hegen—sie auszusprechen, gar vor Zeugen, wäre heroisch.

(Wobei, wenn man einmal darauf achtet, benehmen die Leute sich hier schon ganz anders als daheim, und ähnliche Szenen wie zwischen Lîf und ihrem Tristan spielen sich allerorts ab, wenn auch weniger zärtlich, wie sie meinen möchte. Karl zum Beispiel, kaum ist er seine freche Bemerkung losgeworden, tritt hinter seine Gertrud, die beim Herdfeuer in einem der Töpfe rührt, und packt ihr mit beiden Händen an die Oberweite, was ihm einen überraschten Aufschrei, gespielte Empörung, lachende Schelte und zuletzt einen Hieb mit dem Kochlöffel einbringt. Nein, so ausgelassen und frivol gestimmt hat Lîf das Inselvolk noch nicht erlebt.)

Lîfs Bericht über den alten Geschichtenerzähler und seine besondere Erzählweise saugt Tristan begierig auf. "Ich habe einmal gehört, in Kromdag gäbe es alle drei Jahre ein großes Sängertreffen, wo Sänger, Erzähler und Ependichter aus dem ganzen Land anreisten und sich eine Art Wettkampf liefern. Dass überall in Fersland, wo ein großer Markt abgehalten wird, fahrende Geschichtenerzähler zusammenkämen und ebenfalls miteinander wetteiferten um die Gunst und die Münze ihrer Zuhörer. Stimmt das? Erzähl' mir mehr!"

Als sie sich darüber empört, wie ungerecht es sei, dass er als einziger Gisle nicht herausfordern dürfe, schmunzelt er. "Wie, unterschätze ich da etwa, wie gern du ein Jarlsweib sein möchtest? Reicht dir ein einfacher Skalde nicht?" Aber dann beruhigt er sie. "Nein, schau, das habe ich vielleicht nicht gut erklärt. Als Gesetzessprecher kann man nicht gleichzeitig Jarl sein. Würde ich also Jarl, wem übergäbe ich mein voriges Amt, dem ich zutrauen könnt', es auch nur halb so gut zu erfüllen? Und die Sache mit dem Ansehen... doch, natürlich bin ich einer von ihnen, das stellt niemand in Frage. Nur, wie soll ich sagen, ich habe hier halt keine Sippe, verstehst du? Keine Brüder, Schwager, Vettern, derlei Verbindungen... nicht einmal ein Weib habe ich mir von den Inseln genommen. Aber genau das ist es wiederum, warum ich ein so guter Gesetzessprecher bin: weil mich keine Sippengebote an den einen oder anderen binden, sodass ich allen Leuten guten Rat geben und in jeder Sache neutral bleiben kann. Niemand braucht sich zu sorgen, ich könnte ihn benachteiligen, den Gegner aber vorziehen und die Sache verzerrt darstellen. Glaube mir, das wissen die Leute sehr zu schätzen. Nur für mich ist's manchmal recht einsam gewesen, bevor du kamst."

Das letzte ist ihm so rausgerutscht, aber leid tut's ihm nicht, dass es heraus ist. Und vielleicht wird Lîf an dieser Stelle neugierig und fragt ihn, warum er sich denn nicht, um die Einsamkeit zu bannen, schon vor vielen Jahren ein Weib genommen hätte, oder aber er kommt von selbst auf die Idee, diese Frage zu beantworten, die er ja quasi in den Raum geworfen hat. Zudem entdeckt er da gerade Ole, welcher mit einer vollen Schüssel auf dem Weg zu ihnen ist.

"Einmal hätte ich wohl fast geheiratet", erklärt er daher in aller Hast. "Es war schon alles ausgehandelt mit dem Verlöbnis. Sie war ein liebes Mädchen, die Mette, etwas still, aber sehr klug und fleißig. Drei Wochen vor dem Sejrsblót wollte ich sie heimführen, das war vor sieben Jahren. Einen schrecklich kalten Winter hatten wir, dass die Leute heute noch davon sprechen, und am dritten Hurna, keine zwei Monate vor unserer Hochzeit, starb Mette an einer Schwäche in der Brust. Oles Tochter war sie, sein einziges Kind. Deshalb sieht er mich heute noch wie seinen Schwiegersohn an und ich ihn als Schwiegervater."

Tristan rückt ein Stück zu Lîf hin, um Ole Platz zu machen, doch dieser hat sich zwei Tische weiter in ein Gespräch verwickeln und dadurch aufhalten lassen. Und so bleibt Tristan und Lîf noch Zeit, ein offenbar großes Missverständnis zu klären. "An dich? Natürlich habe ich an dich gedacht. Seit sechs Monaten denke ich nur an dich. Wie schön du bist, wie sehr ich dich will, wie gern ich deine Stimme höre, wie schwer es zu erwarten ist, bis wir endlich unser erstes Kind in den Armen halten—das ist nur das eine, das andere aber ist, und war vom ersten Moment: wie schütze ich dich!"

Da kann Ole sich endlich losreißen und kommt weiter auf die beiden zu.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #61 am: 22.09.2017, 12:42:18 »
Ein wenig beschämt senkt die junge Frau bei Tristans Antwort den Blick. Dass er so uneigennützige Gedanken für sie hegt, ist ihr wirklich noch nicht in den Sinn gekommen! Und sie hat gedacht, die Mannsleute hier seien alle miteinander gleich... Da ist es nicht gerade ein Grund zum Stolz, was sie sich bislang so alles dabei dachte, wenn sie bemerkte, wie er sie manchmal ansah. Denn natürlich kann es einem Weib nicht lange entgehen, wenn ein Mann es so begehrt, wie Tristan offenbar Lîf. Abgesehen von ihrer gestreichelten Eitelkeit – wer fühlt sich schon ungern schön und begehrenswert – hat sie dem jedoch keine positive Seite abgewinnen können. Stets ging sie davon aus, es ginge ihm nur darum, sie zu besitzen, wahrscheinlich auch, sie zu schwängern, damit sie ihm Nachwuchs gebären würde. Und nicht zuletzt um eine zuverlässige Arbeitskraft in seinem Haus. Doch sein Tonfall, als er sie so fragt, was sie denn wohl glaube, der kann einfach nicht vorgetäuscht sein, der zeugt von einem anderen Gesinnung, als sie hier auf den Inseln üblich ist. Und sie hat das unwahrscheinliche Glück, der unfassbare Segen der Göttin getroffen, von dem einen Mann geraubt zu werden, der so ist... Stumm leistet sie der Großen Mutter Abbitte, die sie so oft um Erlösung angefleht hat, wenn sie in der ersten Zeit nach ihrer Entführung nachts weinend wach lag. Ja, sogar den törichten Gedanken daran, sich von einer hohen Klippe zu stürzen, sich zu ertränken, hatte sie in einer besonders verzweifelten Nacht... welche Undankbarkeit..! Sie beißt sich auf die Lippen.

Was heißt denn das Lebensglück, das sie sich als Mädchen erträumte? Vollkommene Freiheit? Ihren Dickschädel immer und überall durchsetzen zu können, zu dem Preis, allein zu bleiben, ledig, kinderlos – eine heimatlose Heilerin bis an ihr Ende..? Nach und nach beginnt sie zu ahnen, wie naiv, wie kurzsichtig ihre Träume waren. Und wie gut es womöglich ist, dass die Große Mutter ihr die Entscheidung aus der Hand nahm, ehe sie sich nichtsahnend selbst unglücklich machen konnte. Ohne dass sie es in Worte fassen könnte, beginnt sie zu spüren, dass auch sie sich nach einem Platz in einer Gemeinschaft sehnt – und dass in einer solchen nur Platz hat, wer am eigenen Willen nicht ohne Rücksicht auf andere festhält. Zurückstecken, Einsicht zeigen, manchmal auch den stolzen Nacken beugen, um aller willen: Das ist nicht so verabscheuenswert und ungerecht, wie sie immer meinte. Es ist ein Teil des Lebens als Mensch unter Menschen. Lîf kommt sich mit einem Mal viel weiser und reifer vor – nicht ahnend, dass sie damit schon wieder in ihren Fehler der Kurzsichtigkeit verfällt. Aber immerhin kann sie nun sogar lächeln, als sie sieht, wie Karl mit seiner molligen Gertrud schäkert. Vielleicht... vielleicht ist es ja doch ganz gut so, wie es ist zwischen Männer und Weibern. Sie scheinen beide glücklich und unbeschwert, wie Lîf sie so heimlich beobachtet. Und wenn es Ihren Kindern gut geht, hat die Große Mutter gewiss nichts dagegen.

Lange kann sie ihren Gedanken aber nicht nachhängen, denn schließlich sitzt sie bei ihrem eigenen Mann, und der zeigt sich überraschenderweise an ihren Worten höchst interessiert. "Nun... ja, das stimmt" erwidert sie ihm unsicher und überlegt. Dann erklärt sie: "In Kromdag selbst war ich noch nie. Ganz ehrlich gesagt war ich noch nie weiter als einen halben Tagesmarsch von Vaters Hof weg, ehe ich mit den Heilerinnen loszog. Aber auf dem Markt, da waren wir regelmäßig." Sie beginnt bei der Erinnerung zu lächeln. "Dort waren immer Geschichtenerzähler. Die hören nämlich alle Leute auf dem Markt gern und geben ihnen ab von ihren Waren oder aus ihrer Börse, wenn sie gute Geschichten zu hören bekommen. Da gibt's so viele! Als kleines Mädchen hab' ich mich dazugestellt, wann immer es ging – sogar wenn ich die Geschichten schon auswendig kannte." Die junge Frau kichert unbeschwert. "Als Kind durfte man das, ohne etwas zu geben. Oh, so manche Geschichte hätte ich fast schon selbst erzählen können: Das Märchen vom Holzfäller und seinem Weib, die Halfdan-Saga oder das Rurik-Lied..." Ihre Augen glänzen sogar ein wenig, als sie sich auf die Markttage besinnt.

Genauso aber hat auch Tristan einiges zu erzählen, und sie lauscht ihm, gegen seine Schulter gelehnt, mit ihren Zöpfen spielend, sehr aufmerksam. So also ist das... sie hat sich bislang wohl viel zu wenig um die Sitten und Gesetze derer gekümmert, in deren Mitte sie lebt. Vielleicht, weil sie innerlich noch immer davon ausging, dass sie nicht zu ihnen gehört, nie zu ihnen gehören würde, eines Tages – ja, was denn? Befreit? Zurückgeholt in ihr geliebtes Fersland? Lîf seufzt leise, aber es ist kein schwermütiger Seufzer. Eher ein wenig verwundert darüber, wie sich ihre Ansichten heute so plötzlich und scheinbar unmotiviert ändern konnten. Ist es am Ende gar das Wirken der Göttin, eine Art minderer Eingebung an Ihre künftige Dienerin? "Einsam warst du also, eh' ich kam..." wiederholt sie leise, und die Worte klingen gut in ihren Ohren. Dann öffnet er ihr sein Herz noch weiter, und sie atmet tief aus. "War sie sehr schön, deine Mette?" kommt es ihr wie von allein über die Lippen. "War sie gut zu dir? War sie sanftmütig oder... so wie ich?" Dabei kichert sie nun doch wieder leicht, obwohl sein erstes Weib, sein Verlust, sie sehr beschäftigt. Oles Tochter also... der arme alte Mann..! So hat sie ihn noch nie gesehen: Als einen Vater, fast so wie ihren eigenen.

Ohne zu bemerken, dass Ole sich in höchsteigener Gestalt nähert, linst sie zu Tristan hoch und kuschelt sich enger an ihn. "Das ist schön, wie du das so sagst" murmelt sie leise. "Unser erstes Kind..." Was nichts anderes heißt, als dass er davon ausgeht, es werden noch weitere folgen. Sie werden lange miteinander leben, miteinander alt werden... glücklich sein? "Sag mal..." Ihre Hand wandert streichelnd über seine Brust, und sie linst wieder nach oben. "... wie viele... Kinder würdest du wohl haben wollen..?" Lîfs Stimme klingt nachdenklich, als sie ihre Frage fast beiläufig stellt, als handele es sich um eine bloße Vorstellung ohne praktische Bedeutung, oder um einen anderen Mann, ein anderes Weib als ihn und sie. Nur ihr Blick ruht sehr intensiv auf ihm, und ihre Wangen sind kaum merklich gerötet.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #62 am: 23.09.2017, 19:15:08 »
Auch Tristans Augen glänzen, als Lîf von den Markttagen ihrer Kindheit berichtet. "Oh, diese Geschichten kenne ich alle noch nicht, die musst du mir dringend erzählen, sobald wir wieder daheim sind. Seit bestimmt zehn Jahren habe ich keine Geschichte mehr gehört, die ich nicht wortwörtlich hätte aufsagen können oder bei der ich zumindest gleich zu Beginn schon wusste, wie sie ausgeht."

Wie Lîf hier auf einmal auflebt! Liegt das einfach daran, dass sie sich allmählich einlebt oder hat das etwas mit dem zu tun, was da gestern abend in Esjas Hütte stattfand? Ob sie das Wichtige gefunden hat, das sie laut der alten drudkvinde suchte?

So lange Jahre hat Tristan allein gelebt, dass es ihm erst, nachdem er bereits eine geraume Weile still bei sich über diese Dinge nachdachte, überhaupt in den Sinn kommt, Lîf danach zu fragen.

"Du bist auf einmal so gelöst, so unbefangen! Nicht wahr, so allmählich lebst du dich ein bei uns? Bei mir? Oder hat Esja dir gestern abend helfen können? Sie meinte, du seist auf der Suche nach etwas Wichtigem. Ich hoffe, du hast es gefunden. Ich wäre sehr glücklich, wenn du alles wichtige, das du suchst, hier bei uns fändest. Hier bei mir."

Die halb geleerte Suppenschüssel steht vergessen vor ihm, als Lîf sich gegen ihn lehnt und ihn ausfragt. "Mette?" beginnt er ein wenig zögernd. "Oh, sie war eine ganz sanfte. Manchmal denke ich, sie könnte noch leben, wenn sie weniger sanft gewesen wäre, dafür kämpferischer. Sie ist einfach ganz still verloschen, keine zwei Wochen hat es gedauert, ohne sichtbare Gegenwehr. Ob sie schön war? Nun, viele lobten ihr glänzendes blondes Haar, aber mir gefiel am besten ihr Lächeln. Sie strahlte dabei von innen heraus und es wurde einem ganz warm ums Herz. Wir wären wohl gut miteinander ausgekommen, will ich meinen. Aber eines, das hatte sie mit dir gemein, was die anderen Weiber, die ich bisher traf, nicht haben: sie war, wenn wir uns im selben Raum befanden, tatsächlich bei mir, nicht bloß in der Nähe. Weißt du, wie ich das meine? Man kann unter ganz vielen Leuten stehen und sich trotzdem allein fühlen, mit niemandem richtig verbunden, aber wenn du bei mir bist, bin ich nicht alleine. Wenn wir miteinander sprechen, dann sind die Worte nicht austauschbar, sondern bedeuten etwas, dann ist es dem einen tatsächlich wichtig zu erfahren, was der andere denkt. Das war bei Mette auch so, und wenn sie sonst ganz anders war als du. Ich kann es nicht richtig erklären."

Auf die Frage, wieviele Kinder er wohl haben wolle, lacht er erst einmal. "Oh, am liebsten einen ganzen Stall voll!" gibt er unüberlegt zur Antwort, was üblicherweise erwartet wird. Dann erst denkt er darüber nach. "Das klingt ein wenig gierig, nicht wahr? Eigentlich bin ich kein gieriger Mensch. Überhaupt hat da ja wohl die Große Mutter mitzureden. Ich hoffe aber, sie gewährt uns doch so viele, wie es braucht, um unser stilles Haus mit Leben zu füllen." Dann fallen ihm Esjas Worte ein: 'Es ist nicht leicht, eine Dienerin Gajas dein Weib zu nennen!' Ja, richtig. Wenn Esja einmal nicht mehr ist und Lîf ihr als drudkvinde nachfolgt, dann wird sie noch andere Pflichten haben, als nur für ihn, sein Haus, seine Kinder (und noch mehr Kinder) zu sorgen. "Und damit fangen wir besser bald an, denn ich weiß sehr wohl, dass du, wenn du erst einmal Esjas Amt übernimmst, deine Kraft auf deine vielen Pflichten wirst einteilen müssen. Als drudkvinde wirst du mir kein Blag nach dem anderen werfen können, das leuchtet mir ein." Er blinzelt ein wenig verwirrt, weil er sich gerade nicht mehr daran erinnert, wie sie eigentlich auf dies Thema gekommen sind. "Lassen wir die Sache einfach auf uns zukommen, ja? Frag' mich einfach nach dem ersten Kind noch einmal: willst du ein zweites? Und nach dem zweitem: willst du ein drittes? Und nach dem dritten: bist du dir auch ganz sicher, dass du ein viertes möchtest?"[1]

"Ha!" ruft Ole triumphierend, als er seine Schüssel auf den Tisch knallt und sich neben Tristan setzt. "Plant ihr hier etwa die Zahl der Enkelkinder, die ihr mir schenken wollt? Um einen ganzen Stall voll bitte ich doch!"
 1. sense motive = 6; nicht erkannt, wie dringend Lîf die Frage ist und was sie sich als Antwort erhofft.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #63 am: 24.09.2017, 14:56:30 »
Die junge Frau ist sichtlich überrascht, dass ihr Tristan auf dem Gebiet der Sagen, Märchen und Geschichten tatsächlich noch nicht alles kennen soll. Sie lächelt daher, natürlich auch leicht geschmeichelt, und verspricht: "Ich will gern versuchen, sie dir nachzuerzählen. Ich bin aber nicht so gut darin wie ein richtiger Erzähler. Und Stimmen kann ich schon gleich gar nicht nachmachen" warnt sie ihn schon einmal vor, wenn auch nicht ganz im Ernst sprechend, wie ihr Schmunzeln beweist. Als er sie aber nach ihrem plötzlichen Aufleben befragt, huscht kurz eine feine Röte über ihre Wangen, als fühlte sie sich ertappt. "Oh, wirklich..?" fragt sie zögerlich, eher um Zeit zu gewinnen, denn leugnen lässt sich seine Beobachtung ja nun wirklich kaum. Da sie aber trotz angestrengten Nachdenkens nicht auf eine Erwiderung kommen kann, die sich in ihren Ohren richtig anhört, legt sie anstelle einer Antwort nur schweigend ihre Hand auf seine und streichelt, da sie Tristans größere Hand mit ihren Fingern nicht umschließen kann, mit dem Daumen sanft über seinen Handrücken.

Darauf lauscht sie seiner Erzählung über die arme Mette und seufzt leise. "Manchmal wünschte ich, ich wäre auch so... Ich weiß, Weiber sollten sanftmütig sein. Aber die Große Mutter hat mich nun mal so gemacht" murmelt sie halb zu sich selbst, ehe ihr auffällt, was für ein Geständnis sie da gerade abgelegt hat. Ihre Wangen flammen in tieferem Rot auf, und sie senkt den Kopf so weit, dass ihre dicken Zöpfe Großteile des Gesichts verdecken sollten. "Meine Mutter hat mir sogar mal gedroht, wenn ich mich nicht ändere, würde sie mich noch in Hosen stecken und mir die Haare schneiden" versucht sie ihre Verlegenheit mit einem Scherz zu überspielen. Tristans abschließende Worte lassen sie aber wieder verstummen. Ob er überhaupt ahnt, wie sehr sie davon berührt ist..? "Ich kann deine Mette niemals ersetzen, aber ich will versuchen, dass du dich niemals mehr allein fühlen musst" sagt sie impulsiv und drückt seine Hand. Ein wenig durcheinander gerät ihr wohliges, warmes Gefühl der Geborgenheit an seiner Seite erst beim Thema der Kinder.

Es überrascht sie, dass er anscheinend noch gar keine genaueren Pläne hat, was die Familie angeht, die zu gründen von ihnen erwartet wird. Andererseits, vielleicht gar nicht so überraschend... was hat ihr doch die alte Esja gesagt: "Für die Mannsleute ist das einfach mit dem Kindermachen: Sie besteigen ein Weib und haben ihren Spaß, und damit ist's gut für sie. Den dicken Bauch, die Übelkeit und die Rückenschmerzen, die haben wir allein. Und wenn das Kleine da ist, wer legt es dann an die Brust, wer füttert es später, wer wechselt ihm die Windeln und tröstet es, wenn es nachts weint? Wieder die Weiber! Darum sei dir gewahr: Auch du musst uns Kinder schenken, damit wir stark bleiben – doch als drudkvinde musst du auch darauf achten, dass dir dein Mann nicht jahrein, jahraus einen dicken Bauch macht und du ständig drei am Rockzipfel und zwei an der Brust hängen hast. Denn wenn du der Großen Mutter dienst, hast du auch noch andere Pflichten..." Diese Erinnerung lässt Lîf doch ein wenig schlucken, ist sie doch so viel jünger als ihr Mann und muss wohl dennoch diejenige sein, die mit Vernunft in die Zukunft blickt und weise entscheidet – was doch für gewöhnlich als schwacher Punkt der Weiber angesehen wird.

Sie überlegt gerade, was sie auf seine recht unbeschwert wirkende Antwort zurückgeben soll – Himmel, nach dem dritten wird er vielleicht noch ein viertes von ihr wollen, ein fünftes und sechstes womöglich gar..? – da tritt Ole auf die beiden zu. Und was er, ganz typisch nach Männerart eben, ganz unbedarft und ohne Scheu bei diesem Thema, so laut herausposaunt, lässt Lîf erneut erröten. "Aber keinen zu großen Stall" wirft sie rasch ein, um dann etwas versöhnlicher hinzuzufügen: "Ein kleiner Stall voll wird es doch hoffentlich auch tun?" Und auf einmal fällt ihr auf, dass sie sich bislang geschworen hatte, diesen Piraten gar keine Kinder zu schenken. Und nun verhandelt sie schon ohne nachzudenken darüber, wie viele sie gebären wird?! Na, das kann ja noch heiter werden, wenn sie den ungestümen Tristan bei der Familienplanung bremsen soll...

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #64 am: 25.09.2017, 13:25:04 »
Lîfs Schwur lässt Tristans Augen aufleuchten, doch eine passende Erwiderung will ihm nicht einfallen. Das mit Mette und mir war eine ganz leise Zuneigung, unsere Ehe hätte wohl Vertrauen und Geborgenheit gekannt, aber da war niemals so ein Gefühlstaumel wie es mir mit dir ergeht, kein solcher Rausch, kein Höhenflug, kein Herz, das bis in die Kehle schlägt vor lauter Verlangen... Nein, das sagt er dann doch lieber nicht laut und schon gar nicht hier, wo jederzeit und überall gespitzte Ohren Zeuge werden könnten.

"Ich mag dich ganz genau so, wie du bist", wispert er ihr deshalb wenig einfallsreich und nicht ganz wahrheitsgemäß zu: ein wenig sanftmütiger dürfte sie schon werden. Doch Lîfs gute Laune, ihre Bekundungen der Zuneigung, wenn auch noch ein wenig scheu, lassen in ihm die Hoffnung wachsen, das Disenthing vielleicht doch zu überstehen, ohne dass sein Weib ihm vor allen Leuten eine Szene macht, wie sie's daheim in den vergangenen Wochen mehrfach tat. Aus heiterem Himmel beginnt sie dann über die hiesigen Sitten zu spotten oder ruft seine Fahrtenbrüder unschmeichelhafte Namen oder zetert ganz allgemein herum über dies oder jenes, was ihr gerade nicht passt. (Da fiel Tristan die Geduld manches Mal schwer, obwohl er sich gut daran erinnert, dass er derlei Dinge in seiner ersten Zeit auf den Inseln auch oft gedacht hat. Gedacht, wohlgemerkt, nicht ausgesprochen. Was sollte das auch bringen außer Kummer?) Aber wenn Lîf jetzt echte Einsicht zeigt, dann wird sie ihr stürmisches Temperament ja wohl noch drei Tage zügeln können.

Derweil hat Ole sich zu ihnen gesetzt und die Aufzucht der noch ungeborenen Kinder übernommen. Tristans beiden Söhne haben bereits, wenn er das richtig sieht, ihre Ausbildung mit Schwert und Schild begonnen. Fischen können sie längst, Kaninchenfallen aufstellen, schwimmen, reiten, mit dem Boot umgehen...

"Und was mache ich in der Zeit, wo du ihnen das alles beibringst?" ruft Tristan in gespielter Empörung. "Meinen vier Töchtern das Kochen und Spinnen beibringen?"

Während die beiden weiter im Scherz sich um die wachsende Kinderschar kümmern, fällt Lîf vielleicht doch auch der ein oder andere Scherz dazu ein oder sie bemüht sich wenigstens, in das Lachen der Männer einzustimmen, und so wird es zumindest nach außen hin eine recht fröhliche Mittagsrunde—bis Lîf auffällt, dass sie beobachtet wird. Inga sitzt ihnen auf der Bank gegenüber, etwas weiter in Richtung Mitte des Langhauses, und stillt ihr Kleines. Neben ihr sitzen Helga und ein junges Weib, das Lîf nicht kennt, ebenfalls mit entblößten Brüsten und jede hat ein Kind daran hängen. Helga und die Unbekannte plaudern fröhlich, aber Inga—auf einer zusammengefaltenen Felldecke sitzend, wodurch sie die anderen beiden um einen halben Kopf überragt, was sie irgendwie hoheitsvoll wirken lässt—beteiligt sich nicht am Gespräch. Ihre Miene verrät, dass unschöne Gedanken sie beschäftigen. Und zwischendurch schießt sie immer mal wieder einen missgelaunten Blick in Richtung des Skaldenweibes.

Schließlich ruft Jarl Gisle Tristan zu: "Kommst du, Skalde? Es geht weiter."

Tristan legt die Hand auf Lîfs Schulter. "Ich muss los. Gehst du wieder mit den Weibern oder kommst du mit mir?"

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #65 am: 26.09.2017, 10:31:35 »
Obwohl seine Worte nicht sehr originell sein mögen und vielleicht auch zum Teil geschwindelt: In Lîf hat Tristan eine Zuhörerin, die erstens als Bauerntochter keine wortgewaltigen Redner gewohnt ist und sich gern mit einer recht einfachen Schmeichelei zufrieden gibt und zweitens just in diesem Moment besonders empfänglich dafür ist. Weshalb sie gar nicht weiter nachfragt, ob er es denn auch wirklich ganz exakt so gemeint hat, wie er es sagt. Sie lehnt sich weiter gegen ihn, schließt die Augen und überlässt sich den wohligen Gefühlen, die sie gerade erfüllen. Jetzt gerade würde sie sich sogar Tristans – reichlich optimistischer – Einschätzung anschließen, dass sie in diesen drei Tagen noch gut miteinander auskommen werden. Es ist wie meist, wenn ihr Zorn schlummert: Sie versteht gar nicht, warum sie sich manchmal so erregt, und blickt zuversichtlich in die Zukunft. Die Große Mutter wird es schon richten!

Noch nicht einmal Oles eifrige Schilderungen über die Erziehung der Kinder, die schließlich Lîf in die Welt setzen soll, können sie so einfach aus ihrem friedlichen Zustand reißen. "Die Mädchen werdet ihr schön mir überlassen" wirft sie nur ein, halb im Scherz. "Wer würde sie noch heiraten wollen, nachdem ihr sie in euren ungeschickten Tatzen hattet? Danach wüssten sie wahrscheinlich ein Schwert besser zu halten als eine Nadel!" Darüber hinaus beteiligt sie sich nur mit einigen wenigen Einwürfen an der Diskussion, die zu eindeutig Männervisionen zum Inhalt hat, und lässt ihren Blick schweifen, während sie sich dem Gefühl der Geborgenheit in Tristans Arm überlässt.

Als sie jedoch neben Helga Inga sieht, wird sie aus ihrer wohligen Trägheit herausgerissen. Unbehaglich beobachtet sie das junge Weib, das ihr so ungünstig gesonnen scheint. Warum nur... was hat sie gegen mich? fragt sie sich, nicht eingedenk der Tatsache, dass sie ihren hiesigen Geschlechtsgenossinnen gegenüber wohl so manches mal eine kühle Würde an den Tag gelegt hat, die die eine oder andere dem Rotschopf als Arroganz ausgelegt hat. Nicht alle Weiber waren so alt und erfahren, dass sie hinter Lîfs Kälte die Angst und die Verzweiflung erkannt haben, die eine entführte Jungfrau Abstand halten lassen. Und Inga, die sich gern ihr Mundwerk über andere zerreißt, gehört gewiss nicht zu diesen. Ihre Missgunst ist deutlich zu spüren. "Ich will mit dir kommen" sagt die junge Frau daher impulsiv, als Tristan sie fragt und Ingas Blick sie im selben Moment trifft.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #66 am: 15.10.2017, 13:05:30 »
Kurz darauf marschieren Tristan und Lîf also den Jarl begleitend zur Thingstätte zurück, umgeben natürlich von weiteren Grüppchen mit nämlichem Ziel. Nachdem der Jarl einen scherzenden Kommentar zu dem Bild von Eheglück, welches das junge Paar vor und während des Mahls geboten hat, loswurde—"Wir feiern ja schließlich das Fruchtbarkeitsfest, da ist es gut, wenn der Gesetzessprecher und sein Weib in allem, was Recht und gute Sitte ist, mit gutem Beispiel vorausgehen!"—richtet er sein Augenmerk auf den kommenden Gerichtsfall.

"Hat Thorstein noch mit dir gesprochen? Bei mir war er ziemlich vage. Was genau ist denn nun vorgefallen zwischen seinem Weib und Vetter Björn? Hat er die beiden im Vollzug erwischt? Will er sich von ihr scheiden lassen oder den Vetter zum Holmgang fordern? Ich weiß überhaupt nicht, womit zu rechnen ist."

Tristan schüttelt bedauernd den Kopf. "Nein, er hat mich nicht weiter um meinem Rat gebeten, ich weiß so viel wie du. Aber sicherlich, wenn er die beiden zusammen erwischt hätte, hätte er den frechen Kerl gleich seiner gerechten Strafe zugeführt und müsste nicht das Thinggericht bemühen? Ich denke eher, es läuft auf Scheidung hinaus. Oder vielmehr darauf, dass er dabei einen möglichst großen Anteil des gemeinsam erwirtschafteten Zugewinns für sich behalten will. Es geht bei sowas immer ums Geld, Gisle. Alles andere hätte er als Mann längst ohne Gericht erledigt."

Der Jarl seufzt. "Scheidung meinst du also. Da weiß ich nicht, was mir lieber wäre. Besser ein ehrlicher Holmgang unter Männern, das bringt die Gemeinschaft weniger durcheinander als eine Scheidung und das ganze hässliche Theater davor und danach. Aber gut, schauen wir uns die Sache mal an, vielleicht lässt sich ja doch noch etwas retten. Sie ist ja eigentlich ein tüchtiges Weib, seine Rike. Bin mir nicht sicher, dass er den Hof ohne sie überhaupt hätte halten können. Verspielt hätte er ihn wohl längst. Ich kann mich noch erinnern, wie er vor der Hochzeit war und auch in den ersten Jahren danach, bis sie ihm den Kopf gerade gerückt hat. Hast du ihn da schon gekannt? Nein, ach, das ist ja zwanzig Jahre her."

"Ja, du hast recht", pflichtet Tristan ihm pflichtschuldigst bei (allerdings mit einem Augenzwinkern in Lîfs Richtung). "Es wird alles gleich viel komplizierter, sobald Weibsbilder mit im Spiel sind."

"Und doch vermisst man sie bisweilen auf der Fahrt und freut sich, wenn man heimkehrt und sie am Ufer warten sieht!"

Auf diese Art geht die Rede zwischen den beiden noch leichtfüßig hin und her, bis die Thingstätte in Sicht kommt. Oder vielleicht fällt Lîf noch etwas zum Thema ein? Der Blick beider Männer geht wohl mehrmals in ihre Richtung, der des Jarls fast wie eine Herausforderung, der ihres Mannes dagegen eher, wie um sich der Wetterlage zu vergewissern, ob diese noch so mild bis heiter aussähe wie zum Zeitpunkt des Aufbruchs.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #67 am: 16.10.2017, 16:36:09 »
Es ist wohl für die meisten, die Tristan und Lîf kennen, ein recht ungewohnter Anblick, den Skalden und sein Weib so eng beieinander und offenbar friedlich vereint zu sehen. Für gewöhnlich gibt sich der Rotschopf außerhalb des Hauses deutlich kühler. Doch noch nicht einmal die neckenden Worte des Jarls können ihr heute das seelische Gleichgewicht rauben, so aufbrausend sie sonst auch ist. "Dass ihr Mannsleute solche Feste immer sehr eifrig feiern wollt, ist ja nichts neues" hat sie seine Worte nur schnippisch kommentiert – ohne von Tristans Seite zu weichen. Dann jedoch haben die Männer begonnen, sich über den anstehenden Rechtsstreit zu unterhalten, und Lîf, die von der Rechtsprechung herzlich wenig Ahnung hat, spitzt unmerklich die Ohren. Sie verzieht das Gesicht, als ihr klar zu werden beginnt, worum es anscheinend geht: letztlich Besitz, wie so oft. Wären die Menschen nur für die Gaben der Großen Mutter, Gesundheit, Fruchtbarkeit und Liebe, so dankbar wie für klingende Münzen, viele Leibeigene, fettes Vieh oder große Äcker! Ihr Mienenspiel verrät viel von den Gedanken der jungen drudkvinde, während sie so ihrem Mann und dem Jarl lauscht.

"Scheidung" schnaubt sie nur irgendwann und speit das Wort regelrecht aus. "Mann und Weib gehören zusammen, aber bei der kleinsten Wolke am Himmel streben sie gleich wieder auseinander!" Und ohne es auszusprechen, billigt sie den Hauptteil der Schuld hierbei den Männern zu. Denn sie fühlt sich Rike nach der Schilderung des Jarls gleich verbunden, obwohl sie sie nicht näher kennt. Erinnert sie das nicht an die vielen Weiber, die treu und brav arbeiten, um Haus und Hof zu erhalten, während die Männer oftmals komplizierte Pläne entwerfen, aber so viel weniger praktischen Verstand beweisen? Mag sein, dass der Drang des männlichen Geschlechts nach Freiheit, nach Abenteuern und der lockenden Ferne größer ist, sind es die Männer doch nicht, die sich zur einen Hälfte des Jahres mit einem dicken Bauch mühsam umherquälen und die andre Hälfte durch Pflicht und Liebe an den Nachwuchs gefesselt sind wie die Weiber. Ihr Horizont ist weiter, nicht beschränkt auf den häuslichen Kreis. Aber gerade deswegen sind es doch oftmals die Weiber, welche mit Leib und Seele schuften und wirken, um den großen Hof oder auch die ärmliche Hütte zu einem wahren Heim zu machen!

Andererseits... so töricht die Mannsleute sein können, so schlecht geht es doch auch ohne sie. Und so lächelt sie nur und lehnt sich im Gehen gegen Tristan, als die beiden Männer zugeben, dass eines nicht ohne das andere bestehen kann. Erst als beide sie ansehen, meint sie: "Genau das kann man von Mannsbildern auch sagen: Solange sie auf Fahrt sind und die Herrin im Haus die Fäden in der Hand hält, da spuren Knechte und Mägde, und es läuft alles wie ein Spinnrad munter vor sich hin. Aber wenn die Herren heimkehren, dann wird's laut und wirr, alles muss springen, und man hat seine liebe Müh und Not, ehe der Haushalt wieder so ist, wie er sein soll." Dabei grinst sie den Jarl herausfordernd an. Ängstlich war sie noch nie veranlagt, und jetzt, in ihrer ungewöhnlich gelösten Stimmung, ist sie einmal dazu aufgelegt, seine Neckereien ohne ihren üblichen flammenden Zorn zurückzugeben. "Allein seid ihr doch allesamt wie die Kinder. Ihr braucht jemanden, der euch den Kopf von zeit zu zeit zurechtrückt, das ist's!" behauptet sie kühn.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #68 am: 18.10.2017, 22:28:50 »
"Einmal im Jahr feiern wir unsere Weiber, sollen wir das etwa mit weniger Eifer tun?" fragt der Jarl gutgelaunt, als Lîf ihm ihr sehr eng gefasstes Männerverständnis vorführt. "Du wärst jedenfalls die erste, die sich das nicht mit größtem Vergnügen gefallen ließe!"

Lîfs Meinung zum Thema Scheidung lässt ihn dagegen zuerst verdutzt schauen, dann laut auflachen. Sie begreift nicht sofort, warum, doch da beugt der Jarl sich zu Tristan hinüber und sagt ihm wie vertraulich ins Ohr, ohne allerdings die Stimme zu senken: "Tristan, du Tausendsassa, wie machst du das bloß? Vor zwei Wochen hat dein holdes Weib noch hitzig geschworen, du sollest sie niemals mit ihrem Einverständnis besitzen, nun aber hängt sie glückstrahlend an deinem Arm und schwört mit nämlicher Inbrunst, dass sie dir in Sturm und Not unverzagt als treues Weib zur Seite stehen will!"

Wer dem Jarl das wohl zugetragen hat? rätselt Lîf, die sich nicht erinnern kann, in seiner Gegenwart je so dahergeredet zu haben. Derweil versucht ihr Mann sich brav, wenn auch ein wenig stotternd, an einer Erklärung: "Ja, was glaubt ihr denn alle, wie flugs und ohne Aufbegehren ein junges Mädchen sich in eine solche Lage fügen soll, in die meine Lîf so plötzlich geraten ist: geraubt und allein unter Fremden, Feinden zunächst, in Sorge um Leib und Leben? Wundert es da irgendwen, wenn sie bisweilen Zähne und Klauen zeigt oder uns alle—mich vorneweg, weil in ihren Augen ich ihr Räuber bin—beschimpft und kein gutes Haar an uns finden will? Und überhaupt hatte sie ja bereits, wie jeder von euch wusste, ihr Einverständnis gegeben, laut und deutlich am Hochzeitstag, und der Ausspruch, den du ihr hier vorhältst, war bloß wütendes Gefauche, weil sie sich über dieses oder jenes, was ich getan oder nicht getan habe, wohl geärgert hat."

Und wie Tristan sein Weib so in Schutz nimmt, kichert der Jarl in sich hinein (halb überdeckt von einem Husten), und ruft zum Schluss: "Lass gut sein, es war doch ein Lob! Ein prächtiges Weibsbild hast du dir da ausgewählt und dir will ich wohl zutrauen, dass du ein derart temperamentvolles Ross zugeritten bekommst!"

Bekräftigt wird diese Rede durch einen Schmetterschlag auf die Schulter, der Tristan erst einmal die Luft aus den Lungen treibt, sodass er nicht gleich zu einer Antwort kommt, und wahrscheinlich ist es gut, dass der Jarl auf ein neues Thema zu sprechen kommt, bevor Tristan wieder bei Atem ist. Er scheint Lîf ganz rot vor Verlegenheit geworden zu sein. Oder ist's nur der eisige Wind, der seine Wangen und Nasenspitze rötet? Für Lîfs erste Vermutung aber spricht, dass Tristan nicht einmal einen kurzen Blick in ihre Richtung wagt, dafür aber ganz fest ihre Hand drückt, wie um sich für Gisles Worte zu entschuldigen.

Auch Lîfs halb scherzende, halb ernst gemeinte Tirade, wie Mannsbilder den ganzen Haushalt bloß durcheinander bringen, nimmt der Jarl breit grinsend auf, sichtlich erfreut über ihr Kontern. Allmählich gewinnt Lîf aber den Eindruck, dass der Jarl kein einziges Wort, das sie spricht, so recht ernst nimmt, weil sie eben ein Weib ist, und ein besonders junges noch dazu. Ha, da würde es sie ja fast interessieren, was sie sonst noch so alles sagen dürfte, wie weit sie gehen dürfte... Ach, aber das kann sie Tristan nicht antun, nicht wahr? Das probiert sie lieber nicht aus... Aber ärgern tut es sie doch, so gar nicht ernst genommen zu werden... Wie ein Kind behandelt sie der Jarl!

Mit ihrem Vorwurf aber, ohne die Frauen seien die Männer doch alle wie die Kinder, hat sie sich des Jarls Antwort selbst verdient, ist quasi sehendes Auges hineingelaufen, dafür kann sie wirklich niemandem außer sich selbst die Schuld geben: "Allein? Nein, nur in Gegenwart der Frauen, denn dort wollen wir schließlich das gleiche wie die Kinder: an ihren Zitzen saugen...!"

Tristan zieht sein Weib dicht an seine Seite und beschleunigt seinen Gang. Ein paar dutzend Schritt noch bis zu den Feuern, welche die Gerichtstätte umringen und an denen sich bereits vereinzelte Zuschauer eingefunden haben. Von Lîfs neuen Bekannten ist noch keine dabei, wohl aber sieht sie Gertrud und Sigrid eintreffen.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #69 am: 20.10.2017, 14:16:36 »
Die Art des Jarls bringt Lîf auf – nicht so sehr, weil er jede ihrer Bemerkungen kontert. Es ist die gutmütig-nachsichtige Art, mit der er ihr begegnet, wie er es wohl bei einem kleinen Kind tun würde, das mit seinen Fäustchen wütend gegen seine Beine trommelt. Ihr Zorn wächst langsam aber sicher an, und sie merkt, wie ihr die Röte in die Wangen steigt, während er immer noch mehr amüsiert als angegriffen wirkt. "Ich achte den Bund, den wir im Namen der Großen Mutter geschlossen haben" schnappt sie, um nur ja nicht zuzugeben, dass ihre Zuneigung zu Tristan sich allmählich nicht einmal mehr vor den Augen der anderen leugnen lässt. Es wurmt sie ungemein, dass keines ihrer Worte den Jarl zu treffen scheint. Während Tristan sie in Schutz nimmt, wenn auch nicht in seiner gewohnt wortgewandten Art, starrt sie schmollend zu Boden. In ihrer Heimat werden ja weiß Göttin die Weiber von den Männern oftmals auch nicht als Gleichwertige behandelt, aber wie sie hier auf eine Stufe mit unreifen Kindern gestellt zu werden scheinen..! Auf die Bemerkung mit dem Ross, das zugeritten werden soll, schnaubt sie wütend und wirft dem Jarl einen Blick zu, der ihn erdolchen könnte. In diesem Moment muss sie sich ernstlich beherrschen, um ihn nicht mit Fingernägeln und Zähnen anzugehen!

Leider demonstriert der Übeltäter mit dem gewaltigen Schlag auf Tristans Schulter, der sogar ihren Mann in die Knie gegen lässt, dass die körperlichen Kräfteverhältnisse sie tatsächlich mehr oder minder in die Position eines Kindes rücken. Sie würde sich nur lächerlich machen, griffe sie ihn an. Wahrscheinlich könnte sie ihm allenfalls einen einzigen Kratzer verpassen, wenn sie ihn überraschte. Und wer kann schon wissen, was ihr dann droht. Strafe? Oder, noch viel schlimmer für sie, Spott? Wieder kämpft der Rotschopf gegen die Wut an, als sie fühlt, wie ihre Hand gedrückt wird, und langsam ausatmet. Ihrem Tristan zuliebe, um ihn nicht bloßzustellen, will sie ihre Wildheit einstweilen bezähmen. Doch Kraft kostet es, viel Kraft, so brodelt die heiße Flamme in ihrem Bauch. Und sie schießt noch einmal in die Höhe, da der Jarl ihren spitzen Vorwurf ins Gegenteil verkehrt. Lîf beißt sich auf die Zunge und glaubt an der Wut fast zu ersticken, als ihr von unerwarteter Seite Hilfe geleistet wird: Ein paar Weiber haben sich im allgemeinen Streben zu den Feuern der Gerichtsstätte etwas näher an die kleine Dreiergruppe heranbegeben, hat doch die dröhnende Stimme des Jarls zumindest seinen Teil der Unterhaltung für die nähere Umgebung recht gut hörbar gemacht. Sie sind natürlich schon neugierig, wie sich das junge Weib des Skalden gegen den Jarl schlägt. Für ihre spitze Zunge ist sie ja mittlerweile bekannt.

Und die junge drudkvinde hat ihnen mit ihren wütenden Ausfällen ein so schönes Schauspiel geboten, dass trotz Lîfs unkluger, abweisender Art eine gewisse Sympathie für sie aufgekommen zu sein scheint. Immerhin geht es hier um den uralten Streit Weib gegen Mann. So kommt es, dass einige, kichernd und tuschelnd, eher auf der Seite ihrer Geschlechtsgenossin sind. Und bei der letzten Bemerkung des Jarls tritt die dicke Merle, das vierschrötig wirkende Weib eines Jarlsöer Zimmermannes, ein wenig aus der Gruppe hervor. Sie kräht in Richtung des Jarls: "Nun hört euch nur den an..! Der will nuckeln und würd' doch Milch nicht mal mit dem Hinterteil ansehen! Aber vielleicht kommt er ja zu mir, denn mich hat letzthin die Göttin gesegnet: Ich geb' nur noch Bier!" Sie hebt ihren mächtigen Busen auf einer Seite mit der Hand an und reckt ihn dem Jarl entgegen. Unter dem kreischenden Gelächter der anderen Weiber schrillt sie: "Jaaaa, das wär' doch genau das richtige für dich, mein Liebling, was? Komm mich doch mal besuchen!" Dann haben die anderen Weiber sie wieder eingeholt und johlen wild. Lîf ist völlig perplex und begreift erst mit einiger Verzögerung, wie sich Merle die Sitten der Inselleute zunutze gemacht hat: Gerade weil die Weiber hier als kaum mündig angesehen werden, wird der Jarl den derben Scherz wohl ungesühnt lassen müssen, will er ihn nicht noch aufbauschen. Er hat weitaus mehr Ruf zu verlieren als die dicke Zimmermannsfrau. Ein wenig versöhnt, aber auch beschämt, dass ihr in ihrer blinden Wut keine so wirksame Attacke eingefallen ist, weist sie Tristan auf Gertrud und Sigrid hin – auch, um das schadenfrohe Grinsen vor dem Jarl zu verbergen, das sich auf ihre Lippen stiehlt.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #70 am: 21.10.2017, 21:14:24 »
Tristan atmet auf, als man sich der Thingstätte nähert. Wenn er geahnt hätte, dass der Jarl seine Lîf derart reizen würde, hätte er sie nicht gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Wie wütend sie schon wieder ausschaut! Das geht aber auch einfach viel zu leicht und zu schnell bei ihr. Sie muss dringend lernen, ihren Zorn wenn schon nicht zu unterdrücken, so doch wenigstens zu verbergen. Man kann ihr die Gedanken ja fast an der mal schmollenden, mal wutentbrannten Miene Wort für Wort ablesen![1]

Zum Beispiel, dass sie es gar nicht erträgt, wenn sich jemand über sie amüsiert oder ihre Worte nicht richtig ernst nimmt oder, in der letzten Steigerung, sie gar wie ein Kind behandelt. Nun ist ihr Benehmen ja bisweilen auch noch sehr kindisch und Tristan sieht wohl, warum der Jarl meint, ihr da ein wenig auf den Zahn fühlen zu müssen. Sie ist nun einmal Esjas einzige Schülerin und damit ziemlich sicher die zukünftige drudkvinde von Jarlsö. (Esjas leibliche Tochter ertrank nämlich vor dreieinhalb Jahren, die Enkelin aber ist ganze fünf Jahre alt und man weiß noch nicht, ob sie sich überhaupt für diese Aufgabe eignet.) Er sieht also sehr wohl ein, dass viel an seiner Lîf hängt. So, wie sie sich jetzt benimmt, darf eine drudkvinde sich nicht aufführen, etwa wie unüberlegt sie daherredet in aller Öffentlichkeit. Und sich später dann wundert, dass, bloß weil sie die Sache inzwischen längst vergessen hat, die Leute sich noch daran erinnern. Tristan will also gar nicht leugnen, dass sein Weib noch einen Haufen zu lernen hat und sich damit auch noch eilen sollte, denn allzu viele Winter wird Esja nicht mehr überstehen, aber bei Gaja, etwas Zeit muss man seiner Lîf schon geben, um sich einzufinden! Und überhaupt ist es ja wohl seine Aufgabe als ihr Gatte, dafür zu sorgen, dass sie sich einfügt und zurechtfindet. Er allein, oder allenfalls noch Esja, darf sie ermahnen. Was mischt der Jarl sich da ein? Entgegen seiner Worte traut er es Tristan also offenbar nicht zu, das Temperament des eigenen Weibes gezügelt zu bekommen. Oder mahnt es zumindest an: Tu du's nur recht bald, sonst kümmere ich mich darum!

Bin ich vielleicht doch zu nachsichtig mit ihr, zu geduldig? nagt das Gewissen an ihm. Aber ich meine halt, derlei Einsichten muss ein jeder selbst gewinnen, die entsprechenden Lektionen selbst lernen, und sie ist ja auch noch sehr jung, sie wird das alles wohl schon noch erkennen. Willens ist sie ja, bemühen tut sie sich ganz arg, was will man mehr? Vor allem aber meine ich, dass man sie, indem man sie wie ein Kind behandelt, gewiss nicht dazu bringt, sich erwachsener zu benehmen. Bei mir hat man damals ja auch nicht lange herumüberlegt, ob ich denn überhaupt zum Gesetzessprecher tauge mit meinen nicht ganz siebzehn Jahren, sondern der Olav war tot, also musste ich es sein. Jemand, der auf diese Weise ins Wasser gestoßen wird, lernt das Schwimmen rasch! Esja jedenfalls scheint nicht daran zu zweifeln, dass Lîf mit der Aufgabe wachsen wird, warum sollte ich es da oder Gisle?

Nur zwei Dinge sollte er wohl doch einmal ansprechen. Erstens nämlich auf den Denkfehler hinweisen, der ihr unterläuft, wenn sie das Leben und die Sitten auf den Inseln immer damit vergleicht, wie es ihr daheim im Kreise ihrer Familie erging. Äpfen und Birnen! So wie bei ihr daheim müsse es in ganz Fersland zugehen, scheint sie zu meinen oder vielmehr denkt sie wohl, so würde es ihr in ganz Fersland ergehen, weil die Leute dort viel freundlicher und gescheiter und was nicht alle seien als hier auf den Inseln. Die Fremden vergleicht sie also mit der Familie und anderen vertrauten Gesichtern. Dabei hätte sie es in Fersland, auf sich selbst gestellt unter Fremden, auch nicht leichter als hier. Da würde ein Mann in Gisles Position auch erst einmal nichts auf ihre Meinung geben, da müsste sie sich auch erst einmal beweisen. Zweitens, so herzensgut seine Lîf ist, sie teilt dennoch die Welt allzu rasch ihren Vorurteilen nach auf: so und so sind bei ihr die Männer, bloß weil einer sich gerade so benimmt, die Weiber aber, die sind so und so, weil sie es so halten würde und sie ist ja eines, also muss sie es wissen. Statt den einzelnen Menschen zu sehen, ihn erst einmal zu beobachten und kennenzulernen, meint sie gleich zu durchschauen, was für eine "Sorte" er sei. Wenn sie jemanden aber gleich von Anfang an in einem bestimmte Licht betrachtet, wird sie alles, was er tut, auf diese Weise deuten und sich in ihrem ersten Urteil stets bestätigt sehen. Nein, also das muss sie sich wirklich abgewöhnen, bevor sie drudkvinde wird, das geht wirklich nicht, dass sie immer zu den Weibern hält und den Männern alles zutraut, oder vielmehr nichts rechtes. Das denkt sie nicht wirklich, so ahnt er wohl, aber eine drudkvinde, die so daherredet, könnte doch argen Unfrieden stiften.

Das beweist ihm auch gleich, kaum dass er dies gedacht hat, der Spott des Zimmermannsweibes.

"Oh weh, Merle, glaubst du wirklich, dass die Göttin es als Segen gemeint hat?" entgegnet Tristan ihr laut, keinen Weiberspott fürchtend, oder zumindest weniger als den Zorn des Jarls. "Deinen Morten wirst du von jetzt an keine Stund' nüchtern erleben und deine ganze Arbeit wird wohl liegen bleiben, weil er gar nicht mehr ablassen wird von dir. Bei Gaja, ich will gar nicht wissen, was du angestellt hast, dass die Göttin zu solchen Mitteln greifen muss, um dich wieder auf den rechten Weg zu bringen!"

Dann bleibt ihm gerade noch Zeit, sich zu seinem Weib vorzubeugen und ihr hastig einen Rat zuzuraunen—"Lass dich nicht so einfach von Gisle oder von irgendwem reizen! Die wollen doch nur austesten, wie du reagierst. Was du für eine bist, die ihnen hier so plötzlich als zukünftige drudkvinde vorgesetzt wurde. Mancher will sich vielleicht auch nur seinen Spaß mit mir machen, indem er mein Weib triezt, aber du musst nicht meinen, dass das bös' gemeint wäre. Es wird auch bald vorüber gehen, wenn dich erst alle kennen und du dazugehörst."

Dann drückt er ihr noch einen flüchtigen Kuss auf und eilt dem Jarl hinterher, der soeben bei den Bautasteinen anlangt, just an der Stelle, wo er am Vormittag den Gesetzesvortrag eröffnete. Zwei Männer mittleren Alters warten bereits dort—sie erkennt Thorstein, welcher beim Spiel am Morgen Alberichs Bruder Flake mimte—und eine nur wenig jüngere, aber noch recht ansprechend aussehendes Weib—angetan in ihrem besten Kleid, schätzt Lîf—mit dicken braunen Zöpfen, die ihr, obwohl unterm Schal eingeklemmt, bis zur Brust herunterreichen. Ihre Miene ist recht verdrossen. Angst scheint sie nicht zu haben, oder will sich bloß keine anmerken lassen. Während Lîf sie so beobachtet, zupft sie sich wohl ein paarmal an den Zöpfen.
 1. Mit einem erstaunlichen Sense Motive = 20 kann Tristan seiner Lîf die im vorausgehenden Beitrag beschriebenen Gedanken recht genau ansehen.
« Letzte Änderung: 23.10.2017, 21:33:09 von Tristan »

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #71 am: 22.10.2017, 13:28:06 »
Lîf fühlt sich einmal mehr beschämt, als Tristan Merle schlagfertig antwortet und darauf von den Weibern ebenso wieherndes Gelächter erntet. Die Gespräche hier springen so rasch hin und her zwischen direkten, ja, fast schon groben Worten einerseits und dann wiederum Scherzen und Augenzwinkern andererseits! Sie kommt gar nicht so rasch mit, zu merken, wer nun gerade in vollem Ernst spricht und wer im Scherz... Ihr schwant so langsam, dass die Inselleute bei all ihrem Verzicht auf feine Sitten doch mehr Seiten haben als nur die der grölenden Barbaren, die sie bisher in ihnen sah. Sie fühlt ihre Wangen rot glühen, als sie den Blick senkt und sich auf die Lippen beißt. Ihr Mann hat ihr mit seinen Worten klar gemacht, wie kurzsichtig sie sich verhält – und es ärgert sie noch mehr, dass sie die Schuld dafür nur bei sich selbst suchen kann. Wie sehr wünscht sie sich, als vollwertig, als erwachsen akzeptiert zu sein, trotz ihrer gerade mal siebzehn Sommer. Immerhin haben andere Weiber in diesem Alter schon ihr erstes Kind, sind Hausfrau, Mutter, Herrin über die Schlüssel ihres Mannes, über Mägde und Knechte. Prüfen also will sie der Jarl..! Und sie hat es nicht gesehen, hat sich gereizt auf seine Worte geworfen, während er sie mit gutmütigem Spott hat wüten lassen wie ein unreifes Kind! Ohrfeigen könnte sie sich!

Und noch mehr tut ihr weh, dass sie das Gefühl hat, ihren Tristan damit blamiert zu haben. Der Skalde, seht nur: Er hat sich mit einem halben Kind vermählt, das sich nicht zu beherrschen weiß! So werden sie wohl über ihn reden. Schuldbewusst sucht sie seine Hand, um sie leicht zu drücken. "Es tut mir leid" wispert sie ihm zu, während sie sich der Thingstätte nähern. "Ich will mich bessern, wirklich!" kann sie ihm gerade noch leise versichern, ehe er sie noch einmal küsst und dann dem Jarl folgt. Lîf bleibt allein zurück und fühlt sich, als starrten alle sie an. Nicht einmal feindselig, eher mit demselben sanften Spott, den der Jarl zeigte – und das tut der stolzen jungen Frau noch mehr weh, als es offene Ablehnung könnte. Doch das Feuer in ihr, das ihr so oft zum Nachteil gereicht, wenn sie ihre Zunge nicht im Zaum halten kann, es hilft ihr diesmal. Entschlossen schiebt sie den Unterkiefer vor und schwört sich stumm: Sie wird Tristan keine Schande mehr machen, wird sich den Respekt aller verdienen, bis niemand mehr auf den Gedanken kommt, sie zu necken! Er wird zufrieden mit ihr sein und überall mit Stolz von seinem Weib sprechen können. Und auch Esja soll niemals sagen müssen, sie habe sich bei der Wahl ihrer Schülerin geirrt! Stark wird sie sein, stark und geduldig!

Mit einer energischen Geste zieht sie ihr Kopftuch straff – das bunte mit den kurzen Fransen, ihr bestes – richtet es über dem flammend roten Haar, zupft noch einmal an den schönen Fibeln, die ihre Schürze halten, und legt die letzten Schritte hoch aufgerichtet und – wie sie hofft – würdevoll zurück. Dann tritt sie zu Gertrud und Sigrid, nickt den beiden Weibern zu und bleibt neben ihnen stehen. "Gayas Segen mit euch" sagt sie leise. Dabei bemüht sich die junge drudkvinde um ein freundliches Lächeln, trotzdem sie, ganz nach ihrer Art, noch immer recht aufgewühlt von ihrem heftigen Gefühlsausbruch ist.
« Letzte Änderung: 11.11.2017, 19:44:33 von Lîf »

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #72 am: 10.11.2017, 21:47:51 »
Kurz nachdem Tristan seinen Posten an Gisles Seite eingenommen hat, ruft dieser auch schon den Beginn der Verhandlung aus und erbittet sich von allen Anwesenden Ruhe, Aufmerksamkeit und kühle Köpfe. Die Männer versammeln sich in einem Halbrund vor dem Jarl und den beiden Streitparteien, die Frauen bilden Grüppchen zu beiden Seiten. Und dann geht's auch schon los. Unumwunden kommt der Jarl zur Sache: Thorstein, ein guter Mann von Seeholm, seit über zwanzig Jahren verheiratet mit Rike, einem tüchtigen Weib, klagt gegen seinen Vetter Björn, weil dieser besagter Rike mehrmals und einvernehmlich beigelegen habe. Thorstein habe die beiden zwar nicht mit eigenen Augen beim Akt erwischt, doch sowohl Rike als auch Björn seien geständig.

"Und deshalb landet die Sache hier vor Gericht", sagt der Jarl. "Rat wurde zuvor keiner gesucht, aber ich hoffe doch, dass die Beteiligten vor diesem Schritt alles unternommen haben, um die Sache unter sich zu klären. So etwas betrifft ja doch außer dem Ehepaar immer noch eine Vielzahl an Leuten, womit ich jetzt nicht nur die drei bald erwachsenen Kinder meine, sondern alle Menschen um das Paar herum. Eine solche Trennung kann ein ganzes Dorf durcheinanderbringen. Und auch für den Besitz ist es nicht gut, auseinandergerissen zu werden. Thorstein, Du bist dir doch im Klaren, wie tüchtig deine Rike ist, in welchem Maße du es ihr zu verdanken hast, dass du heute so gut dastehst? Von dem Zugewinn, den sie erwirtschaftet hat, wird ihr bei einer Scheidung ein guter Teil zustehen, bedenke dies wohl! Sagt also beide, und geht zuvor in euch: seid ihr euch auch ganz gewiss, dass eine Versöhnung nicht in Frage kommt?"

Darauf tritt Thorstein vor und kratzt sich am Kopf. "Scheidung? Wovon redest du, Jarl? Darum geht es hier doch gar nicht."

"Wie, um was denn dann? Aber du sagtest doch, dein Vetter habe mit deiner Rike...?"

"Ja, das hat er wohl, wie er dir bestätigen wird, wenn du ihn fragst, und die Rike auch, wobei man bei ihr vielleicht den Gürtel rausholen muss, bis sie's eingesteht. Und schließlich habe ich's ja auch mit eigenen Augen gesehen, wie er mit ihr in die Haseln ist. Das ist's wohl, was du falsch verstanden hast. Zugeschaut habe ich, unbemerkt, bis die beiden mit ihrem Werke fertig waren. Dann bin nach Hause gegangen und habe mir überlegt, was zu tun sei. Nur ein Hitzkopf rächt sich auf der Stelle, denn das tut selten gut. Besser, man bedenkt die Dinge zunächst mit kühlem Verstand, überlegt sich geduldig einen Plan und führt diesen dann aus."

Zustimmendes Gemurmel hebt sich aus der Menge, einige Männer klopfen mit dem Knauf ihrer Waffe auf ihren Schild. Der Jarl schaut noch immer recht erstaunt—verdattert wäre nun wirklich nicht die passende Beschreibung für einen solch wichtigen Mann, auch wenn Lîf genau dies denkt—und ringt sich dann doch auch ein: "Ja, das war sehr löblich von dir" ab, um gleich darauf zu fordern: "Aber jetzt sag' schon: wenn es dir nicht um Scheidung geht, worum dann? Einen Holmgang mit dem Vetter? Wahrlich, das hättet ihr zwei doch untereinander ausmachen können, ohne uns alle da hereinzuziehen!"

"Nein, auch keinen Holmgang. Ich verklage meinen Vetter auf Gebrauchsdiebstahl."

Nach diesen Worten ist Gisle nicht mehr der einzige, der verdattert blickt. Vielmehr ist er derjenige, der sich gerade wieder einkriegt, denn man kann nur eine gewisse Zeit lang am Stück verdattert blicken. Während die Umstehenden also mit offenen Mündern gaffen, ungläubig schnauben oder die Köpfe schütteln, vereinzelt auch lachen, hat Gisle sich wieder im Griff.

"Gebrauchsdiebstahl", wiederholt er. "Thorstein, wie denkst du dir das? Dein Weib ist doch kein Vieh."

"Ja, aber..."

"Nimmt dein Vetter sie vielleicht zu Zeiten in Beschlag, wo du sie dringend bräuchtest?"

"Nein, die beiden schauen schon immer, dass sie zu Zeiten zusammenfinden, in denen sie mich anderweitig beschäftigt wähnen."

"Hält Björn etwa deine Rike so sehr von der Arbeit ab, dass eure Geschäfte leiden?"

"Unsere Geschäfte, leiden? Nein, die hat Rike fest im Griff. Ein so fleißiges Weib wie sie findet man auf den drei Inseln nicht wieder!"

"Nutzt der Vetter dein Weib also ab? Ist sie durch seinen Nutzen zu erschöpft, um es dir abends noch zu besorgen?"

"Wie? Nein, ach was. Meine Rike mag es so oft, da kommt man gar nicht nach. Am liebsten jeden Tag oder gleich mehrmals. Damit hat sie mich in den vergangenen zwanzig Jahren abgenutzt."

Johlendes Gelächter, diesmal besonders laut von den Weibergruppen. Rike selbst hebt das Kinn ein wenig an und schaut halb stolz, halb trotzig.

"Vorsicht, damit gibst du ihr gerade einen Scheidungsgrund!" warnt der Jarl den abgenutzten Ehemann.

"Ja, jetzt komme mir doch nicht schon wieder mit Scheidung, Jarl! Ich sag' dir doch, wir wollen uns nicht scheiden lassen, weder ich noch meine Rike, da steht sie, frag' sie selbst! Aber es kann auch nicht sein, dass der Björn sich da einfach so an dem bedienen kann, was mir gehört. Dafür schuldet er mir was."

"Thorstein, jetzt sieh du es doch ein! Du kannst dein Weib nicht für Geld an einen anderen Mann verleihen als wäre sie ein Ochse oder Gaul! Wo kämen wir denn da hin? Scheidung oder Holmgang, etwas anderes kann das Gericht dir nicht als Lösung anbieten, außer, du ziehst die Klage ganz einfach zurück und ihr macht die Sache doch unter euch aus."

Doch natürlich sieht Thorstein es nicht ein und hebt vielmehr an zu einer Erklärung, warum der Vetter ihm ja wohl für die Rike sogar viel mehr Pacht schulden täte als für einen bloßen Ackergaul, eben weil ein Weib—und seine Rike erst recht!—so viel mehr wert sei als ein dummes Stück Vieh.

Tristan steht derweil ein wenig abseits, einen Schritt hinter dem Jarl und zu dessen rechten Seite, und hat das ganze Hin und Her aufmerksam verfolgt, dabei ohne jegliche Gemütsbekundung. Also weder hat er zustimmend geklopft noch verdattert geguckt noch gelacht oder geschnaubt. Hier und da hat er wohl die Stirn gerunzelt und gerade jetzt vertieft sich sein Stirnrunzeln, als denke er angestrengt nach.

"Nein, also wirklich, Thorstein!" platzt da der Jarl. "Jetzt gib' halt Ruhe! Dafür ist ein Gericht nun wirklich nicht da!"

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #73 am: 11.11.2017, 19:47:26 »
Lîf, die sich zu Gertrud und Sigrid gesellt hat, verschränkt die Arme vor der Brust, indem sie fröstelnd die Hände unter die Schürze steckt. Während rundum die Wölkchen weißen Dampfs von den Mündern der Zuschauer aufsteigen, verfolgt auch der Rotschopf die beginnende Verhandlung mit sichtlicher Neugier. Eingedenk der gerade erst erhaltenen Lektion tut sie aber den stummen Schwur, sich keinesfalls von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen und das Thing irgendwie zu stören. Immerhin hat man ihr die Ehre zugestanden, diesem wichtigen Treffen beizuwohnen, und nicht nur ihre, auch Tristans Ehre stünde auf dem Spiel, sollte sie sich hier einen öffentlichen Fehlgriff leisten. Ihre Gedanken schweifen zurück zu dem kleinen Hof ihrer Eltern, und sie beginnt zum ersten Mal in ihrem Leben zu ahnen, wie sie die beiden mit ihrer Eigensinnigkeit geplagt haben muss. Dabei liebt Lîf ihre Eltern von ganzem Herzen. Nur die Selbstbeherrschung, die war schon immer ein Problem für sie, und ihr Dickschädel. Heute aber soll es ihr nicht mehr passieren, dass sie sich vorschnell erregt!

Als der Jarl bereit ist, den ersten Fall zu hören – und direkt neben ihm, am Platz des wichtigsten Mannes nach ihm, ihr Tristan, wie sie stolz bemerkt – reckt sie sich unwillkürlich etwas, um die Streithähne genauer zu sehen, die vor Gisle treten. Der Fall wird geschildert, und Lîf geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die beiden Männer sich um das Weib des einen streiten, dass der gehörnte Ehemann Scheidung und Genugtuung fordern wird. Nichts ganz außergewöhnliches, von solchen Vorkommnissen hat man wohl überall in der Welt schon gehört. Kaum ist jedoch das Anliegen Thorsteins heraus, runzelt sie verwirrt die Stirn. "Was meint er damit, Gebrauchsdiebstahl?" wispert sie ihren Nachbarinnen zu, in Rechtsfragen nicht erfahren genug, um die genaue Bedeutung dieser Anklage zu erahnen. Die allgemeine Reaktion scheint ihr doch darauf hinzudeuten, dass sie recht ungewöhnlich sein muss. Und nachdem die Fragen des Jarls, der sich rückversichert, ihre Augen geöffnet haben, steht auch sie mit offenem Mund da.

Das kann doch wohl nicht wahr sein..! Ihre Blicke wandern zwischen den Männern hin und her, bleiben endlich auf Rike haften. Welche Miene macht das Weib, um das es da letztlich geht? Ist sie beschämt, beleidigt..?[1] Dass ein Mädchen, das als Weib eines Mannes aus dem Haus geht, natürlich eine Arbeitskraft im Haus und auf dem Hof darstellt, ist klar. Ihre alte Familie verliert diese Arbeitskraft, ihr Mann gewinnt sie. Aber dass man sie darum in Geld aufwiegen will wie eine leibeigene Magd, die man kauft oder verkauft... das verschlägt Lîf dann doch die Sprache. "Das kann dieser Kerl doch nicht ernst meinen" murmelt sie kopfschüttelnd, gefühlsmäßig gegen Thorstein eingenommen, der sein eigenes Weib so herabwürdigt. Andererseits kann sie sich aber auch nicht recht mit Rike und ihrem Geliebten anfreunden, denn diese beiden haben immerhin den Mann gehörnt, dem Rike durch einen von der Göttin gesegneten Bund zugehört. Wo käme man hin, sprängen Männlein und Weiblein bei jeder Gelegenheit den eignen Gelüsten folgend gemeinsam ins Heu, wild durcheinander? Die Treue ist eine Tugend, welche der Großen Mutter heilig ist.

Unwillkürlich schaut Lîf zu ihrem eigenen Mann, um in dessen Miene zu lesen, was er wohl zu dieser eigenartigen Klage meint[2]. Der Jarl jedenfalls scheint mit ihr einer Meinung zu sein, dass Thorstein vielleicht das Recht zur Klage haben mag – aber nicht zu eben dieser, die er vorgebracht hat.
 1. Motiv erkennen mit einem Ergebnis von 14
 2. Dabei gehe ich davon aus, dass sie, anhand deiner Beschreibung, aus dieser Entfernung gar nichts erkennen kann. Falls doch, würde ich den obigen Wurf vielleicht gerade mit zählen

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #74 am: 16.11.2017, 19:33:06 »
"Na, Gebrauchsdiebstahl", antwortet Gertrud bereitwillig. "Wenn der Nachbar sich ohne zu fragen dein Werkzeug, Wagen oder Boot ausleiht oder den Ochsen oder das Pferd und damit Arbeit verrichtet, und dir fehlt es in der Zeit und du kannst die deine nicht verrichten, oder aber er bringt die Sachen in einem schlechterem Zustand zurück, als er sie vorfand. In beiden Fällen schuldet er dir einen Ausgleich für die Abnutzung oder deine Ausfälle."

Gleichzeitig klärt auch der weitere Wortwechsel zwischen Jarl und Kläger, was damit gemeint ist, oder vielmehr: was normalerweise darunter verstanden wird. Thorstein scheint das ganz anders zu sehen.

"Jetzt hört mir auf, Björn und mich zu einem Holmgang drängen zu wollen", protestiert er gerade. "Wollt ihr unbedingt, dass ich meinen Vetter erschlage? So würde der Kampf nämlich ausgehen, schließlich hat er unser beider Lebtag lang noch kein Raufen gegen mich gewonnen und das wird heute nicht besser sein, wo er seit drei Jahren nicht mehr mit auf Fahrt kommt wegen der kaputten Schulter, den Arm kann er kaum heben! Und zweitens, wenn er nicht mehr wäre, täte Rike sich am Ende bloß mit einem anderen einlassen, na ich danke auch schön! Bei Björn bleibt die Sache wenigstens in der Familie und ich weiß, woran ich bin!"

Nur noch vereinzelt können die Zuhörer sich hier ein Lachen abringen, die meisten scheinen das müßige Hin und Her inzwischen doch leid zu sein. Rike, auf der Lîfs beobachtender Blick liegt, steht fast wie unbeteiligt da und verzieht keine Miene. Lîf wird nicht schlau aus ihr. Stünde sie selbst dort vorn—hätte also ihr Tristan sie vors Gericht gezerrt—und müsste sich solche Dinge anhören, sie bliebe gewiss nicht derart ruhig! Aber ihr könnte es ja auch gar nicht erst passieren, wegen so etwas vor Gericht gezerrt zu werden, weil sie ihren Mann niemals mit einem anderen hintergehen würde. So kann sie die eine Seite kaum besser verstehen als die andere.

Jarl Gisle, der sich immer sichtlicher zusammenreißen muss, appelliert schließlich an den Vetter selbst, von Thorsteins Weib abzulassen, doch dieser wirft sich in die Brust: "Es haben doch alle gehört, was Thorstein sagte: lieber ist's ihm, sein Weib geht mit mir in die Haseln als mit sonst einem Dahergelaufenen. Und das geschähe ja wohl, wenn ich damit aufhörte, ob freiwillig oder weil der Vetter mich erschlägt."

Ein entsprechender Appell an Rike lässt diese energisch verkünden, dass sie als lebendige Frau auch lebendige Wärme spüren wolle, denn "Kalt und allein lieg' ich noch früh genug in meinem Grab!" Dann solle sie sich halt vom Thorstein scheiden lassen und den Björn ehelichen, fordert der Jarl, doch da ist sie sich mit ihrem Mann einig: Nein, eine Scheidung käme nicht in Frage. Man habe sich in allen anderen Dingen das Leben gut eingerichtet und auch den Kindern wolle man das nicht antun und überhaupt. Worauf auch Björn, ungefragt, einwirft: Wie, was, auf Dauer? Ne, auf Dauer wolle er kein Weib im Haus haben, die ihm alles durcheinander brächte und nach ihren Vorstellungen umräumen wolle und auch über ihn bestimmen, ihm etwa sein Bier am Abend verbieten, wo käme man denn da hin! Aber für den Beischlaf zahlen, ha, soweit käme es noch! "Warum sollte ich für etwas bezahlen, das bereitwillig hergegeben wird und dazu dem anderen genauso viel nützt wie mir!"

Der Jarl rauft sich die Haare (zumindest in Lîfs Vorstellung, in echt steht er lediglich ganz kurz davor) und in der Menge mehrt sich das Murren, das Tuscheln und Füßescharren. Die Aufmerksamkeit lässt nach.

Da tritt Tristan vor und erbittet das Wort, welches der Jarl um nur allzugerne gewährt.

"Mir scheint doch, Thorstein", wendet Tristan sich an den Kläger, "dass du mit der Situation, wie sie ist, eigentlich ganz zufrieden bist—lass mich ausreden!—genau wie dein Vetter und dein Weib. Da stellt sich mir nur noch die Frage: geht es dir bei deiner Klage um Geld oder ums Prinzip? Wenn es dir ums Geld geht, kann das Gericht dir nicht helfen, denn es gibt kein Gesetz, das hier etwas vorsähe. Geht's dir aber um's Prinzip, dass, wie du sagst, dein Vetter sich nicht einfach nehmen solle, was dein ist, dann wüsst' ich eine Lösung vorzuschlagen. Also?"

"Ja, was, das habe ich doch schon gesagt: ums Prinzip! Er kann mir nicht einfach Hörner aufsetzen und meinen, das gibt kein Nachspiel! Soll ich mir in einer solchen Lage Untätigkeit nachreden lassen? Kommt nicht in Frage!"

"Wunderbar. Also, keiner will den Holmgang, keiner eine Scheidung, und Björn tät Rike auch gar nicht auf Dauer in seinem Haus haben wollen. Andererseits haben Rike und Björn nicht vor, voneinander abzulassen, und dir, Thorstein, ist es sogar lieber, du weißt deine Rike in den Armen des Vetters, als dass du fürchten müsstest, sie ließe sich mit wer-weiß-wem ein. Das heißt: keiner, nicht einmal du, will tatsächlich etwas ändern. Die 'Hörner' sind das einzige, was dich stört, und die Nachrede, wenn du sie untätig auf dir sitzen ließest. Jetzt sage ich aber: die Hörner, die kann man aus dem Weg räumen. Dazu müsstest du nur einer Fridelehe zwischen deinem Vetter und deinem Weib zustimmen. Damit hätte jeder von euch das, was er haben will, und rechtlich wäre auf einen Schlag alles geklärt."

Jetzt steht zur Abwechslung einmal Thorsteins Mund in sichtlicher Verdatterung offen. Dass Tristans Vorschlag offenbar aber von einiger Ungeheuerlichkeit ist, zeigt die Totenstille, die plötzlich herrscht—für einen kurzen Moment. Dann hagelt es Proteste. Fridelehe, das hieße doch nicht, dass ein Weib sich einen Liebhaber nehmen dürfe! Die sei doch nur für Männer gedacht, die ihre Lust am eigenen Weib nicht gestillt bekämen und sich dazu eine fridla nähmen, meist eine junge Witwe oder ein unverheiratetes Weib von weit über zwanzig, das bislang keinen Gatten abbekommen hätte, weil es auf den Inseln nun einmal mehr Frauen gäbe! Und so geht es eine ganze Weile. Tristan lässt sie Leute ausreden, dann kontert er ihre Einwände Punkt für Punkt: Es ginge doch genau darum, dass Rike ihre Lust nicht an einem Mann gestillt bekäme, und nähme sie sich den Björn als fridleif, so seien die Verhältnisse wenigstens ordentlich geregelt. Das Einverständnis des ersten Mannes habe sie ja offenbar—so wie der Mann, der sich eine fridla nehme, ja auch die Einwilligung seiner Erstfrau benötige—und alle rechtlichen Dinge wie Erbschaft, Unterstützung, und dergleichen mehr, seien damit auf einen Schlag geklärt.

"Mit einer Ausnahme", fügt Tristan an. "Sollte die Rike noch einmal Mutter werden—das Jüngste ist elf Jahre, nicht wahr? Also vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, aber auszuschließen ist es nicht—dann müsst ihr beide, Thorstein und Vetter Björn, zuvor vertraglich geklärt haben, wer sich für das Blag verantwortlich fühlt, wer von euch es anzuerkennen oder abzulehnen hat. Denn das darf nicht passieren, dass sich am Ende keiner dafür verantworten will. Also, was sagt ihr? Thorstein, du zuerst? Von deiner Zustimmung hinge es ab."

Doch Thorsteins Antwort wird übertönt von abermaligem Protest aus der Menge. So etwas könne man doch nicht einführen! Was für Vorbild setze das denn? Am Ende käme da jedes Eheweib an und will sich einen Liebhaber nehmen! Wo würde das hinführen! Derart unordentliche Verhältnisse... da täte ja bald keiner mehr durchschauen! Ha, da wisse man in kürzester Zeit ja gar nicht mehr, wessen Vaters die Kinder des eigenen Weibes seien!

"Nun, das weiß man auch heute schon nicht ganz so recht, nicht wahr?" hält Tristan ihnen entgegen. "Dazu muss man seinem Weib schon vertrauen. Und es bräuchte ja die Zustimmung des ersten Ehemannes, könnte gegen seinen Willen also niemals geschehen. Außerdem: habt ihr schon jemals von einem solchen Fall gehört? Also nicht nur vor Gericht, sondern ganz allgemein?" Dabei blickt er eine Gruppe von älteren Männern an, welche nach kurzem Zögern den Kopf schütteln. Einer versichert gar, nicht einmal sein Großvater hätte von einer solchen Sache erzählt. "Gut, also sind wir uns doch eigentlich einig, dass es ein sehr seltener Fall ist? Wie sehen das unsere Frauen?" Tristan blickt in Richtung der Weiberfeuer. "Hätte eine von euch es eilig, sich nach Rikes Beispiel einen fridleif anzulachen, weil ihr mit einem Mann nicht schon Arbeit genug habt?"

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