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Autor Thema: Das Disenthing  (Gelesen 44536 mal)

Beschreibung: Kapitel 1

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Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #75 am: 19.11.2017, 11:23:45 »
Lîfs Gesicht wirkt in diesem Moment wohl alles andere als intelligent. Doch Gertruds Antwort, so naheliegend sie ist, verblüfft den Rotschopf gar zu sehr. Ein Weib – als Gebrauchsgegenstand wie ein Werkzeug, eine Schüssel oder ein Webstuhl..?! Ungläubig schüttelt sie den Kopf, bis die Reden, die weiter vorn geschwungen werden, ihr schließlich keine Wahl mehr lassen, als einzusehen: Dieser Kerl namens Thorstein will sein eigenes Weib tatsächlich behandelt wissen wie eine Sache oder eine Stute oder Kuh in seinem Stall! Sie schnaubt nochmals empört, verfolgt den Fortgang der Verhandlung aber eingedenk ihres Schwurs schweigend. Nur gelegentlich stößt sie ihre Nachbarin an und wispert: "Das ist doch unglaublich, so ein Halunke!" oder: "Da schafft er's nicht, ihren Hunger selbst zu stillen, und dann will er auch noch einen Verlust anmelden, weil sie sich anderswo einen Mann sucht!", wenn es sie gerade gegen ihn mitreißt. Das Verhalten der beiden Ehebrecher allerdings lässt sie wiederum flüstern: "Die zwei schämen sich nicht mal – wenn ich ihr Mann wär', ich würde den lüsternen Bock ordentlich verprügeln, und auf ihrem Hinterteil würd' ich ein halb' Dutzend Ruten zerschlagen!" Offenkundig schwankt sie in ihren Sympathien – oder eher in ihrer Antipathie – mal auf die eine, mal auf die andere Seite.

Letztlich aber sagt sie sich, dass in ihren Augen alle drei Strafe verdienten. Immer klarer wird der jungen Frau, dass sie die Menschen hier noch immer nicht recht versteht. Lîfs Eltern haben ihre Tochter in dem Glauben erzogen, dass die Sittsamkeit eine wichtige Tugend sei, und diese drei zerren hier ihre intimen Angelegenheiten vor ein öffentliches Gericht, um sich quasi noch ihrer jeweiligen Wollust zu brüsten! Die Große Mutter segnet die Verbindung zwischen Mann und Weib. Fruchtbarkeit, Kindersegen und die Lust, die beide einander bereiten können, sind Ihr Segen. Doch das heißt nicht, es wäre im Sinne der Göttin, wenn die Männer sich wie lüsterne Ziegenböcke gebärden oder die Weiber sich wie rollige Katzen aufführen. "Wie können Sie nur..!" lautet ihr abschließendes Urteil, das allerdings außer Gertrud und Sigrid niemand hört. Lîfs einziger Trost ist, dass dieser groteske Streit auch die anderen eher zu irritieren scheint. Nein, solche Schamlosigkeit..! Dabei war sie selbst nie ein Kind von Traurigkeit, hat gern mit den jungen Kerlen harmlos geschäkert, die sie rund um den elterlichen Hof traf. Jetzt allerdings, als Weib eines Mannes, wäre für sie nicht mehr angemessen, was man jungen, ledigen Mädchen und Burschen noch nachsehen mag. Und erst recht nicht für gestandene Eheleute wie jene beiden dort vorn und den sauberen Herrn Vetter Thorsteins!

Neugierig reckt die junge Frau den Hals, als Tristan sich zu Wort meldet (und sie schaut dabei unauffällig nach, ob die Weiber rundum auch alle mitbekommen, dass ihr Mann da spricht – jawohl, der ihre! Ihr Tristan ist es, dem nun alle lauschen, merkt nur gut auf!). Gespannt wie wohl alle wartet sie auf die Lösung, die er vorzuschlagen hat, und Lîf hat zusätzlich die Befriedigung, jenen leisen, bewundernden Glanz in den Augen der nächststehenden Weiber zu sehen. Ja, ihr Tristan ist ein schöner Mann, aber nicht nur das: Er ist auch sehr weise, und sein Rat offenkundig hoch angesehen. Das lässt den Rotschopf stolz das Kinn recken, während er vorn spricht. Ein wenig konsterniert hört sie dann aber, was er schließlich vorschlägt. Um sie herum wird es schlagartig ruhig. Dann beginnen die Männer lautstark zu protestieren. Die Weiber dagegen stecken die Köpfe zusammen und tuscheln erregt. "Unerhört!""Undenkbar!""Da könnt' ja jede..!""Ja, selbst ich, denkt euch, ich könnt' meinem Alten zum Trotz jederzeit..." So in etwa verlaufen die hastig gewisperten Unterhaltungen, und in etwa bei dem letzten Punkt verstummen sie dann auch alle wieder, während die Weiber sich gegenseitig anstarren und jede in Gedanken für sich durchgeht, was das für sie persönlich hieße.

Und als sich Tristan plötzlich an die Weiber wendet, um sie nach ihrer Meinung zu fragen, fallen die Antworten ganz und gar nicht so einmütig aus, wie es ihre Männer wohl gerne sähen: Alle schreien durcheinander – die einen verdammen eine derartige Idee ganz und gar, andere halten ihr einiges zugute, während verschiedenes ihrer Meinung nach aber auch gegen sie spricht. Wieder andere – vor allem jüngere Weiber – stimmen dem Skalden gar zu. Ganz und gar recht habe er, und von ihnen käme keine auf den Gedanken, da am Ende gar selbst... aber nein, woher denn! Braucht ein Weib, das tagtäglich seine liebe Müh und Not hat, alle Pflichten im Haus, auf dem Gut, beim Nachwuchs, bei der Aufsicht über Knechte und Mägde zu erfüllen, braucht ein solches Weib noch ständig einen Reiter im Sattel, um müde geritten zu werden wie eine feurige Stute? Wirklich nicht, nein! Tristans eigenes Weib, obwohl unter den jüngeren, beteiligt sich allerdings nicht an dem Geschrei. Sie wirkt nun wieder sehr jung und fast ein wenig verloren inmitten der eifrig streitenden Weiber.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #76 am: 20.11.2017, 20:44:30 »
Die Reaktion an den Weiberfeuern ist nun nicht ganz so, wie Tristan erwartet hätte. So viel Uneinigkeit! Das gibt's bei den Männern nicht, zumindest an der Geschlechterfront, da hält man zusammen. Aber die Weiber...! Und richtig zugehört haben sie auch mal wieder nicht, wie man an dem Kommentar von—das müsste Snorris Weib Jessa sein, wenn Tristan sich nicht völlig irrt—sieht: "...meinem Alten zum Trotz jederzeit...", das eben nicht! Sondern nur mit dessen Einverständnis, so wie es ja umgekehrt bei den Männern ist: nur mit dem Einverständnis ihres ersten Eheweibes können sie mit ihrer fridla eine Zweitehe eingehen...

An dieser Stelle setzt Tristan dann auch an und versucht die Sachlage zu klären, nämlich dass, wollte man seinem Vorschlag folgen, den Weibern nur dasselbe Recht zustünde wie ihren Ehemännern.

"Heißen unsere Weiber nicht 'freie Frauen', so wie wir uns 'freie Männer nennen, und sind wir nicht alle stolz auf unsere Freiheit, die es nur hier bei uns auf den Inseln gibt? Sollte das Wort 'frei' dann nicht auch für Mann und Weib dasselbe bedeuten?" so fragt der Gesetzessprecher in die Runde.

Den Tumult vermögen seine vernünftigen Worte indes nicht zu beruhigen. Ein wenig redet er wohl auch an seinem Publikum vorbei, denn für die meisten ist dies nun gerade kein Thema, bei dem die Vernunft den Ton angibt—oder den Weibern gerne gleiches Recht zugestanden wird. Dabei scheint Thorstein die Lösung sogar zu gefallen. "Ja, du hast recht, damit wäre alles auf einen Schlag geregelt!" ruft er, als er endlich begreift, was der Skalde vorschlägt und warum.

Doch aus den Reihen der Männer, die zu entscheiden haben, kommt nur vereinzelt zustimmendes Klopfen, es überwiegt das Murren und Protestieren.[1]

Tristan nimmt einen letzten Anlauf, indem er noch einmal darauf hinweist, wie selten der geschilderte Fall sei, dass die Gesetze dafür eben nicht geschaffen seien, man aber trotzdem eine Lösung finden müsse, wofür ein neues Gesetz sich nicht lohne, weshalb das Gericht eben ein schon bestehendes mit ein wenig Schläue auf den vorliegenden Ausnahmefall ausweiten müsse...

Doch nein. Die Sorge der Männer, ihre Weiber könnten, wenn man ihnen in dieser Hinsicht die Tür auch nur einen winzigen Spalt öffnen täte, völlig wild werden und bald mit jedem ins Heu springen, der zufällig daherläuft, ist zu groß. Tristan schüttelt ebenso verzweifelt wie verständnislos den Kopf.

Wie kann man so wenig Vertrauen zu seinem Weib haben, fragt er sich still, so an ihrem Verstand zweifeln, ihrer Sittsamkeit, ihrem Stolz, ihrer Ehre...? Das halbe Jahr, wenn ihre Männer auf See sind, können die Weiber tun und lassen, was sie wollen, man würd's doch nie erfahren, also bitte, ein wenig mehr sollte man ihnen schon zutrauen...!

"Du siehst, Thorstein", reißt Jarl Gisle das Ruder wieder an sich, "ein solches Durcheinander ist bei uns nicht erwünscht. Gesetze, die weibliche Untreue ahnden, besitzen wir ausreichend, An sie müssen auch du und deine Rike und dein Vetter Björn sich halten. Also sag, ob Du die Scheidung oder den Holmgang wünschst oder zieh deine Klage zurück und gib' Ruh'."

Ein paarmal setzt Thorstein noch zu einem Protest an, dann denkt er grimmig nach, und seine Miene wird immer grimmiger dabei, bis er schließlich wütend ausstößt: "Na schön, dann wird's halt ein Holmgang!"[2]

Während der Jarl und die meisten Männer zufrieden nicken, auf ihre Schilde klopfen und teils erleichtert aufseufzen, weil dieses sinnlose Tauziehen endlich ein Ende hat, kreuzt Lîfs Blick sich mit dem ihres Mannes. Er schaut ernst, enttäuscht, frustriert.

Ein Holmgang wird's also. Das Wann und Wo und mit welchen Waffen ist schnell ausgehandelt: zum Ende des heutigen Gerichtes, denn zuvor gebe es ja noch einen zweiten Fall zu verhandeln, vor welchem der Gesetzessprecher ihnen allen dazu noch die nötigen Details zum Erbrecht in Erinnerung zu rufen habe.

Die Wahl der Waffen: Axt und Schild.
 1. Tristan diplomacy = 11 vs. 20, misslungen.
 2. Ausgang 2, mit gewürfelten 58%.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #77 am: 21.11.2017, 13:40:33 »
Lîf verfolgt den Fortgang mit sehr gemischten Gefühlen. Sie sieht, wie die Uneinigkeit der Weiber die Männer grinsen lässt, sich gegenseitig in die Seiten stoßen, gemurmelte Bemerkungen austauschen. Wie könnte ein derart kopfloser Haufen von Hühnern ihnen jemals ebenbürtig sein..! Ja, sie kann die Gedanken von den Gesichtern ablesen, und es ärgert sie gewaltig, dass ihre Geschlechtsgenossinnen ein so uneiniges Bild abgeben. Dabei wäre es doch gerade jetzt darauf angekommen, den Mannsleuten zu zeigen, wie vernünftig die Weiber sein können, wenn es nur darauf ankommt! Aber sie, als Fremde, noch zudem eine der Jüngsten, die noch nicht einmal Kinder vorzeigen könnte, welche ihren Status heben würden, hat hier leider allzu wenig zu sagen. Wenn sie nur mit der Autorität einer echten, vollen drudkvinde sprechen könnte..!

Mit schwerem Herzen muss sie zusehen, wie Tristan seine Beredsamkeit aufbietet, ohne noch großen Erfolg zu haben. Und es ist nicht nur, dass sie stolz gewesen wäre, wenn alle ihrem Mann gefolgt wären, nein: Es tut ihr auch weh, wie er so vergeblich gegen die Halsstarrigkeit dieser Leute ankämpft wie gegen den Wind... Beschämt senkt sie den Kopf, als sie sich daran erinnert, wie oft sie ihm schon halsstarrig die Zustimmung verweigert hat, in vielen kleinen Dingen des Alltags – aus purem Stolz, wegen der gefühlten Beleidigung, von ihm und seinen Kumpanen gegen ihren Willen entführt worden zu sein. Er hat es wohl nicht leicht gehabt mit ihr...

Diejenigen unter den Weibern, die für Tristans Vorschlag reden, können sich nicht durchsetzen gegen die zumeist älteren, welche von einem Wechsel in den Traditionen nichts hören wollen. Sie haben nicht dieselben Rechte gehabt wie ihre Männer, warum soll es da den jungen Weibern besser gehen? Das scheint ihre trotzige Haltung zu sein, die sie hinter sittlichen Bedenken, althergebrachten Gesetzen und dem angeblichen Willen der Göttin verstecken, so kommt es ihr vor. Statt sich mit den jüngeren eins zu sein, wenn schon einmal ein Mannsbild zu ihren Gunsten spricht, missgönnen sie lieber anderen, was für sie selbst keine große Bedeutung mehr hätte. Sie seufzt leise und lässt den Kopf hängen. Armer Tristan... jetzt stünde sie gern an seiner Seite und drückte ihm die Hand, damit er weiß, dass sie ihn... dass sie ihn liebt, jawohl! Verstohlen wischt sie sich über die feuchten Augen, während sie vorgibt, ihr Kopftuch zu richten. Dann schaut sie wieder auf.

Und hält den Atem an. Ein Holmgang?! Das heißt Blutvergießen, heißt mehr Leid, heißt vielleicht gar einen Toten – sie weiß ja nicht, wie streng die Sitten hierzulande sind. Unter den Bauern in ihrer Heimat wäre keiner auf die Idee gekommen, um einer solchen Sache wie der Ehre willen Gesundheit oder Leben aufs Spiel zu setzen. Eine deftige Prügelei, das ja, doch Waffen..?! Entsetzt starrt sie zu Tristan, während ihre Lippen leise Worte formen: "Gnädige Göttin – das ist es doch nicht wert!" Gertrud oder Sigrid allenfalls mögen sie gehört haben. Lîf hat jedoch nur Augen für Tristan und seine Reaktion auf diesen Ausgang der Sache.

Sie ringt die Hände und wünscht sich nun noch mehr als zuvor, sie verfügte über das Ansehen und den Einfluss einer Weisen Frau. Einhalt würde sie dem gebieten, die Mannsleute daran erinnern, dass die Göttin zwar Herrin über die Natur ist, in der der Tod ebenso zum ewigen Kreislauf gehört wie die Geburt – doch dass es nicht Ihr Wille ist, zu sehen, wie Ihre Kinder sich gegenseitig erschlagen! Sie macht einen halben Schritt nach vorn, als wolle sie zu ihrem Mann eilen, erinnert sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass sie dort bei ihm im Moment nichts zu suchen hat und ihm wohl mehr schaden als nutzen würde. Ihr heißes Blut bezwingen, nachdenken, wie sie vielleicht irgendetwas tun kann, das muss sie!

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #78 am: 28.11.2017, 20:16:59 »
Kaum ist der Holmgang beschlossen, zerrt Thorstein sein schimpfendes Weib davon. Ja, jetzt auf einmal ist Rike gar nicht mehr still, sondern flucht und fleht und keift in einem fort. Vorhaltungen macht sie ihrem Thorstein: warum hat er die Sache nur vor Gericht gezerrt? Sie habe ihn ja gleich gewarnt! Wolle er tatsächlich mit Björn...? Einen Holmgang...? Das kann er doch nicht ernst meinen! Da hätte er den Vetter doch besser gleich daheim erschlagen. Gerade das wollte er aber doch nicht, warum hat er sich nun also dazu verleiten lassen?—"Ha!" hält Thorsten dagegen, "du hast bloß Angst um Deinen fridleif!"—Nein, um beide Männer sorge sie sich gleichermaßen, einen werde es ja gewiss erwischen, also verliere sie auf jeden Fall einen geliebten Menschen. Und er selbst? Ganz schrecklich vermissen werde er den Vetter, wenn er ihn heute abend erschlüge! Es sei doch alles gut so gewesen, wie es war, aber nein, er musste die Sache ja unbedingt vor das Thinggericht zerren. Das Thinggericht! "Was geht es denn die Leute an, wie wir uns daheim in unseren Betten arrangieren?" hört Lîf sie noch keifen, dann sind die beiden außer Hörweite.

Auf der Thingstätte atmet alles auf—außer Tristan. Mit einem Blick vergewissert er sich beim Jarl, dass er nun wieder an der Reihe ist, und auf das entsprechende Nicken hin wendet er sich abermals den Weiberfeuern zu. Ein wenig blass scheint er Lîf, die Lippen schmal verkniffen, doch findet er sich rasch in seinen Vortrag ein und ist bald wieder ganz die neutrale Stimme des Gesetzes.

"Jetzt zum Erbrecht. Die Witwen bitte besonders aufmerken und auch die Töchter, denen der Vater jüngst starb." Und zu den Männern hinüber: "Gleiches gilt für die Witwer und die Söhne. Und für jeden, der sich sonst noch Hoffnungen auf eine Erbschaft macht!" Doch während der folgenden Rede hat er mehr das Augenmerk auf die Frauen, denn auf die Männer, vor allem auf die vier, die seinem Ruf folgend nach vorne drängen und ihm besonders genau zuhören.

"Wenn es heißt, ein Eheweib sei nicht die Erbin ihres Mannes, so lasst euch davon erst einmal nicht erschrecken, das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Die Sache mit der Erberei ist ein wenig kompliziert, weil da so viele Interessen—oder soll ich sagen: Interessenten!—zusammenkommen. Nun ist es so, dass sich das Hab und Gut eines Mannes grundsätzlich aus drei Teilen zusammensetzt: dem, was er bereits von den Eltern erbte, das nennt sich Allod, dazu das, was er selbst erwarb, und zwar vor seiner Ehe, drittens nämlich das Teil, welches die Ehegatten gemeinsam erwirtschaftet haben. Wie das Allod vererbt wird ist dabei besonders streng geregelt, für alle gleich, da kann der Einzelne nicht dran drehen. Das Allod—was in den allermeisten Fällen den Hof und einen Großteil des Landes umfasst— geht an den ältesten Sohn, fertig. Die weiteren Söhne bekommen das, was der Vater ihnen zuvor zubestimmt hat, was aber nicht vom Allod gehen darf, oder, hat er nicht vorgesorgt, so mögen sie sich den väterlichen Anteil des Zugewinns teilen, also brüderlich im wahrsten Wortsinn. Dieser väterliche Anteil umfasst alles, was der Vater vor der Ehe allein erwarb, und die Hälfte dessen, was er mit dem Eheweib gemeinsam erwirtschaftete. Was ist mit den Töchtern? Die verheirateten haben ja jeglichen Erbanspruch auf das elterliche Hab und Gut aufgegeben, als sie ihren Brautschatz empfingen; die noch unverheirateten stehen von nun an unter der Vormundschaft des ältesten Bruders, dem damit also auch die Aufgabe zukommt, sie anständig zu vermählen. Auch um seine Mutter hat er sich zu kümmern, in diesem Fall muss sie sich also keine Sorgen machen.

Nun kommen wir zu dem Fall, dass ein Mann kinderlos stirbt oder nur Töchter hinterlässt. Nun wendet sich der Blick auf seine Brüder. Gibt es unter ihnen einen, der noch keinen Hof besitzt? Hat der Verstorbene den seinen von den Eltern geerbt? In diesem Fall erbt der Bruder das Allod, also den elterlichen Hof, und übernimmt auch die Vormundschaft für die unverheirateten Nichten, für deren anständige Verheiratung er zu sorgen hat.

Der Witwe des Verstorbenen steht in beiden Fällen ihr Ehepfand zu, welches ich bereits erwähnte, bestehend aus: ihrem Brautschatz, also dem, was ihr Vater mit dem Gatten im Ehevertrag als Witwenerbe ausgehandelt hat, der Heimsteuer, also was der Vater der Tochter mit in die Ehe gegeben hat, und der Morgengabe, was da sind die Geschenke, die der Gatte seinem Weib am Morgen nach der Hochzeitsnacht überreichte. Das heißt also, ich sehe bestürzte Blicke: Nein, es steht euch nicht jeglicher Schmuck zu, den euer Gatte euch irgendwann einmal überreicht hat und den ihr so viele Jahre mit Stolz getragen habt. Dieser zählt erst einmal zur Gesamterbmasse, und ob euch davon etwas zusteht, muss erst noch berechnet werden. An dieser Stelle höre ich oft den Zuruf: Ja, aber... aber... wenn der Schmuck, den ich am Leibe trage, nicht mir gehören soll, wie steht's dann mit meinen Kleidern, wie? Gehören die auch zur 'Gesamterbmasse'? Natürlich nicht. Aber der Schmuck, ausgenommen die Morgengabe, und das habt ihr ja eigentlich stets gewusst, war niemals Geschenk, sondern ein Symbol für euren Stand, eure soliden finanziellen Verhältnisse. Nach außen eure Zahlungsfähigkeit beweisen sollte der Schmuck, in all euren Geschäften als Pfand dienen, in schlechten Zeiten als Notgroschen. So, nach diesen strengen Worten die gute Nachricht: von allem, was während eure Ehe erwirtschaftet oder erworben wurde—Land ist dabei die einzige Ausnahme!—steht euch die Hälfte zu.

Außerdem, stirbt der Mann auf Fahrt, erhält sie von seinen Fahrtenbrüdern den Anteil an der Beute, der ihm zugestanden wäre, zu ihrem Erbgut dazu. Das Eheweib, wohlgemerkt, ganz und gar unabhängig von der Existenz anderer Erben. Niemand außer ihr hat Anspruch hierherauf.

So, nun sind wir fast am Ende. Lasst mich nur rasch noch einige Sonderfälle erwähnen.

Nun kann es nämlich sein, der Verstorbene hat Schulden hinterlassen. Diese können die Gläubiger zurückverlangen, allerdings nicht vom Allod und nicht vom Ehepfand; auf den Zugewinn aber, dem ehelichen wie dem vorehelichen, darauf dürfen Gläubiger Ansprüche erheben.

Oder aber eine Ehe ist kinderlos geblieben und der Verstorbene hat auch keine Brüder. In diesem Fall erbt das Eheweib allein.

Ist zwar ein Sohn vorhanden, dieser aber noch kein Mann, so erbt der Sohn trotzdem, aber die Mutter verwaltet ihm alles, bis er das Mannesalter erreicht.

Eine Möglichkeit der Witwe, ihr Los zu verbessern, will ich noch erwähnen. Sie kann einen der Brüder ihres Mannes heiraten. Dieser erbt dann, so er selbst keinen Hof besitzt, das Allod, ob er nun der nächstälteste Bruder ist oder der jüngste von sieben. Im Fall, dass der Verstorbene Schulden gemacht hat, gehen diese allerdings in seine Verantwortung über, doch die Gläubiger dürfen sie nicht sofort verlangen, sondern müssen ihm eine angemessene Zeit gewähren, die Summe aufzubringen.

So, ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Hat jemand noch Fragen?"


Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #79 am: 29.11.2017, 11:07:44 »
Während Rike lautstark zetert, herrscht an den Weiberfeuern eher beklommenes Schweigen. Ein Holmgang... es weiß eine jede, was das bedeutet: Einer der beiden Männer wird nicht überleben. Da reicht die Vorstellung, es könnte der eigene Mann sein, um jede Sensationslust im Keim zu ersticken und kein heiteres Geschnatter aufkommen zu lassen, wie es sonst der Fall wäre, wenn man bei einem Thing ein wichtiges Schauspiel geboten bekommt. Die Weiber wechseln Blicke untereinander und beginnen Thorsteins bessere Hälfte zu bedauern, die eine mehr, die andere weniger. Auch Lîf musste schwer schlucken, als ihr alle Konsequenzen der Entscheidung klar wurden. Traurig schüttelt sie den Kopf. Wäre doch wenigstens einer der drei vernünftiger gewesen und hätte nachgegeben! Ein Verzicht hätte womöglich ein Leben gerettet.

Die junge Frau wirkt ein wenig blass. Mit den rauen Sitten der Inselbewohner kann sie ja vielleicht noch irgendwann ihren Frieden machen, was ihre eigene Entführung angeht – man ist hier eben noch in sehr alten Traditionen verwurzelt. Doch dass Blut fließen muss, weil ein Mann dem Weib eines anderen beigewohnt hat... das kann doch nicht der Wille der Großen Mutter sein! Die Göttin gebiert und liebt alles Lebende. Es ist ein Frevel wider Sie, ein Leben so leichtfertig auszulöschen. Denn worum geht es letztlich? Um den verletzten Stolz zweier Hähne, die sich vor derselben Henne aufplustern! Und, womöglich, auch um den albernen Stolz der Henne. Bitter schürzt die junge drudkvinde die Lippen und hadert damit, dass niemand auf sie hört. Ja, wäre sie schon von der alten Esja vor Zeugen mit höheren Weihen geehrt worden, sie hätte vielleicht ihr Wort in die Waagschale werfen können, um Tristan zu unterstützen. Doch so...

Sie unterdrückt ein Seufzen, als sie erkennt, dass auch sein Gesicht von Blässe überzogen ist, wohingegen die anderen hauptsächlich froh scheinen, dass das öffentliche Gezerre um Bettgeschichten vorüber ist und es nicht an ihr eigenes Leben (oder, aus Sicht der Weiber, an das des eigenen Mannes) geht. Fast erleichtert wendet sich alles dem Skalden zu, als er wieder vorzutragen beginnt. An Lîf allerdings zieht seine Rede nun vorüber, denn immer wieder wandern ihre Gedanken zurück zu Thorstein, Rike und ihrem fridleif. In ihrem Kopf wirbeln Mitgefühl, Empörung, hilflose Enttäuschung, Ratlosigkeit durcheinander und lassen einfach zu wenig Platz für die nüchtern erklärten Gesetze, die sie ohnehin nicht betreffen, wie sie meint. Dann irgendwann kommt Tristan zu einem Ende und sieht sich nach Zuhörern um, die noch Fragen haben. Doch bis auf zwei oder drei, die sich kurz noch einmal versichern, ob sie gewisse, für sie interessante Passagen richtig verstanden haben, scheinen alle zufrieden.

Gerade will sie sich an den einsetzenden leisen Gesprächen unter den Weibern beteiligen, als sie ihren Namen hört, der halblaut die Runde unter den Nächststehenden macht. Sie reckt, ihren Nachbarinnen gleich, den Hals, um mehr zu erkennen. Endlich fühlt sie sich am Ärmel gezogen, und Ulla, ein hochgewachsenes Weib mit derben Gesichtszügen, raunt ihr zu: "Die drudkvinde hat eine Magd nach dir geschickt. Sie will dich sehen, also lauf rasch, Mädel!" Erstaunt sieht sie sich noch einmal zu ihrem Mann um, fühlt die neugierigen Blicke der Weiber auf sich ruhen, sogar einige Männer stirnrunzelnd Ausschau halten, was wohl diesen Hühnerhaufen schon wieder in solche Unruhe versetzt haben mag – und tut wie ihr geheißen, um möglichst schnell wieder aus dem Mittelpunkt des Interesses zu rücken.

Die Magd, kaum älter als Lîf selbst, in einem einfachen Wollkleid mit einer groben Schürze und einem ungefärbten Kopftuch um den kahlgeschorenen Schädel, winkt ihr. "Die Herrin Esja hat befohlen, dass du zu ihr kommst, junge Herrin" wispert sie leise, und Lîf nickt, bemüht, ihre Verwirrung und Unsicherheit zu verbergen. Was mag die Alte von ihr wollen, das so wichtig ist? Warten jedenfalls lässt man die Weise Frau nicht. Daher eilen die beiden jungen Frauen in Richtung der Hütte, in der die Greisin während des Things untergekommen ist. Im Gehen dreht sich Lîf noch einmal um und hält nach Tristan Ausschau.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #80 am: 11.12.2017, 20:24:51 »
Wie Lîf also dem Ruf ihrer Lehrmeisterin folgt und sich auf den Weg zurück zu den Langhäusern, oder vielmehr der abseits stehenden Priesterhütte, macht, befindet Tristan sich gerade mittendrin in weiteren Erklärungen, welche Möglichkeiten eine junge Witwe noch so alles offenstünden im Fall, dass sie doch die Alleinerbin sei oder aber das Erbe für ihren noch sehr kleinen Sohn zu verwalten habe. Für beide zählte er die Vor- und Nachteile einer neuen Ehe wie auch einer Friedelehe auf. Seine Stimme begann schon in der Ferne zu verschwinden, da vernahm Lîf noch, sehr zu ihrer Überraschung, dass die Fridelehe tatsächlich Vorteile für die junge Witwe haben kann. Bislang dachte sie, das hätten die Männer sich bloß ganz fein für sich so zurecht gelegt, damit sie in möglichst vielen Betten liegen dürften. Doch wenn sie ihrem Mann glauben will, so gab es für die Fridelehe recht praktische Gründe. (Gab es so etwas eigentlich bei ihr daheim? Sie jedenfalls hat noch nie davon gehört.) Gelingt es nämlich einer jungen Witwe nicht, einen neuen Mann zu finden, steht es ihr frei, sich einen fridleif nehmen und auf diese Weise doch noch, und zwar ohne Ehrverlust, zu Kindern kommen, zu einem Erben für ihr Hab und Gut, zu Familie, die im Alter für sie sorgt. (Das war Lîf auch noch nicht so bewusst gewesen: wie hoch heutzutage auf den Inseln der Frauenüberschuss ist, wegen der verfluchten Raubfahrten und den dabei erlittenen Verlusten.) Eine Witwe mit kleinem Kind dagegen wird vielleicht diese Art der Zweitehe vorziehen, um die Erbdinge für das Kind aus erster Ehe nicht durcheinander zu bringen.

"Pass auf!" reißt die Magd[1] Lîf aus ihren Gedanken. Dann eilt sie Lîf den Rest des Weges schweigend voraus und weist, an der Heilerhütte angekommen, mit einer Hand auf den Eingang, während sie selbst im Stall verschwindet.

Lîf tritt ein. Esja erwartet sie bereits.[2]

"Komm rein, Kind, und mach schnell die Tür zu. Und dann setz dich zu mir und erzähl: wie hast du bisher dein erstes Disenthing erlebt?"


 1. Kjersti, aus Ingla. Lîf kennt sie nicht. Es sind ja nur DREI Mägde hier auf Wodland mit dabei, zwei davon ehemalige Heilerinnenschwestern Lîfs—aber Kjersti eben nicht.
 2. Nachfolgend Esjas aktuelles Facebook-Profilbild, sprich: so sah sie vor etwa zwanzig Jahren aus.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #81 am: 12.12.2017, 11:03:58 »
Als die Magd sie anspricht, taucht Lîf unvermittelt wieder aus ihren Gedanken auf. Verwirrt und ein wenig fahrig bedankt sie sich bei Kjersti – wohl ein wenig herzlicher, als es gegenüber einer Leibeigenen üblich ist. Dann beeilt sie sich, in die Hütte zu treten und die Tür hinter sich zu schließen. Ehrerbietig nähert sie sich der Alten und neigt den Kopf vor ihr. "Danke, mor." Dann setzt sie sich wie geheißen neben Esja, nimmt ihr Kopftuch ab, wärmt sich die Hände am Feuer und überlegt. "Es ist alles sehr aufregend, aber auch verwirrend" gibt sie schließlich zu. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle die Gesetze verstanden habe, die Tristan uns erklärte. Wie kann er sich das alles nur merken, mor?" Der Blick des Rotschopfs ruht mit einer kindlich anmutenden Verwunderung auf der alten drudkvinde. Lîf hat für den Moment ihre übliche Reserviertheit, die fühlbare Bemühtheit um ein neutrales Gesicht bei jeder Erwähnung ihres ehemaligen Herrn und jetzigen Mannes, vergessen. "Er hat den jungen Mannsleuten erzählt, was ihre Rechte und Pflichten sind und worauf sie achten müssen, aber auch uns Weibern. Und sogar als ein Streit zwischen zwei Verwandten ausbrach, da wusste er auch Rat..!"

Dann sieht sie auf ihre Hände, die nunmehr in ihrem Schoß liegen und am rauen Stoff ihrer Schürze herumspielen. "Aber gehört haben sie nicht auf ihn..." murmelt sie leise. "Nun werden sie sich schlagen – ein Holmgang!" Einige feuerrote Strähnen fallen ihr über die Augen, als sie sich zu Esja dreht und dabei den Kopf in aufflammendem Ärger herumwirft. "Warum tun sie das, mor?" fragt sie heftig. "Vorhin, da ist mir klargeworden, dass es hier an Mannsleuten mangelt. So viele bleiben auf dem Meer zurück oder weil sie anderer Menschen Hab und Gut rauben wollten... wie können sie sich da auch noch untereinander bekriegen?!" Dumpf schaut sie in die Flammen und murmelt: "Wenn es erst einmal so weit ist, dass auf den Inseln nur noch Weiber, Kinder und Greise sind..." Sie lässt den Satz in der Luft hängen. Der Alten mit ihrer Erfahrung fällt es nicht schwer, zu erraten, was die junge Frau bewegt[1]: Es ist der bittere Gedanke, wie lange es wohl dauern wird, bis sie selbst eine Witwe ist, da Männer hier auf den Inseln so gefährlich leben. Lîf hat Angst um Tristan, auch wenn sie sich sicherlich lieber die Zunge abbeißen würde, als das zuzugeben. Noch jedenfalls. "Kannst du denn nichts dagegen tun? Auf dich müssen sie doch hören!" sagt sie schließlich zaghaft und gesteht: "Wenn ich könnte, ich würde es ihnen verbieten, im Namen der Großen Mutter."
 1. Mit einer gewürfelten 14 und einem angemessenen Weise Frau-Bonus :)

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #82 am: 23.12.2017, 23:05:01 »
Lîfs aufgeregtem Wortschwall lauschend, muss die alte Esja zunächst schmunzeln. "Wie er sich das alles merkt? Nicht anders als du dir all die Kräuter und Heilmittel merkst! Woran erkennt man dieses Kraut, mit was ist es leicht zu verwechseln, wann sucht man am besten danach und wo, macht man einen Tee daraus, einen Wickel, eine Salbe, und welche Menge ist heilend, welche giftig, welche gar tödlich, in frischem oder getrocknetem Zustand? Als drudkvinde wirst du dazu noch viel mehr als nur die Heilkunde lernen und behalten müssen: so viel nur in den Kopf hineingeht an Wissen über Gajas Leib, auf dem wir leben, über all ihre Kinder und Geschöpfe, ihre Geheimnisse, die sie nur mit wenigen teilt... Als Gesetzessprecher wie als weise Frau kommt man ohne gutes Gedächtnis nicht weit." Und wie man es von einer weisen Frau erwarten würde, hat sie auch einen Rat für Lîf: "Versuch also gar nicht erst, dir auch noch all die Rechtsbelange oder die Historie merken zu wollen, etwa deinem Mann zuliebe. Du wirst genug daran zu tun haben, dir die Dinge zu merken, die für deine Aufgabe wichtig sind!"

Dann hört sie erst einmal weiter zu. Mal hebt sich eine Augenbraue—wegen des Holmgangs selbst oder Lîfs schäumender Wut darob?—mal lächelt sie still in sich hinein, vielleicht aus Freude über die Zuneigung zum Gatten, welche Lîf in ihren Worten eingesteht. Und vielleicht vermeint die Alte—oder wäre das schon zu viel erhofft?—in Lîfs entrüsteter Rede gar die ersten Anzeichen zu entdecken, dass die junge Frau sich auch den anderen Inselbewohnern nicht mehr gänzlich verschließt, dass sie im Herzen bereits einige Schritte auf diese zugetan hat, auch wenn prompt der rügende Hinweis auf die Raubfahrten folgt. Ihr Schlussappell aber lässt die Alte aufseufzen.

"Verbieten? Wie, den Männern das Kämpfen? Den Weibern ihren Ungehorsam? Beiden den Sprung in fremde Betten? Wenn verbieten etwas nutzen täte, bräuchten wir kein Thinggericht! Überhaupt, mit direkten Verboten erreicht man gar nichts, bei den Männern schon mal gar nicht, aber auch bei den Weibern erweckt dies am ehesten ihren Widersinn, und wenn sie sich auch dem Scheine nach zunächst fügen. Nein, da muss man schlau sein, geduldig, gerade als Frau! Hat dir deine Mutter das nicht beigebracht? Dass man behutsam einwirken muss, in kleinen Schritten, auf eine Weise, dass die Männer dein eigentliches Ziel gar nicht erahnen, auf das du zwar nicht geradewegs, wohl aber unbeirrbar zustrebst? Am einfachsten wird die Sache, wenn sie zum Schluss gar meinen, es sei ihre eigene Idee, auf die sie da kommen! Aber nein, auch eine drudkvinde kann den Männern nichts verbieten. Gerichtssachen entscheiden nun einmal sie."

Darauf wird die Alte still und scheint nachzudenken, weshalb Lîf sich nicht getraut, sie in ihren Gedanken zu stören. Vielleicht streift ihr Blick dabei durch die Hütte auf der Suche nach der kleinen Robbe, die sie am Vortag gerettet hat? Tatsächlich, aus dem Verschlag neben der Tür lugt ein neugieriges Köpfchen um die Ecke; ein zweites folgt—Bard oder Aasa—und gleich ein drittes. Eine kleine Rangelei lässt sich darüber nicht vermeiden, wenn drei dasselbe wollen. Schließlich lugen nur noch zwei Köpfe um die Ecke, der dritte aber über das Brett hinweg: offenbar ist einer der Lunde auf die Robbe geklettert, um so weit hinaufzureichen. Jedenfalls scheinen die drei sich prächtig zu verstehen.

"Aber ich sehe, dass ich dich nicht einen Moment zu früh dort weggerufen habe", fährt Esja schließlich fort. "Nicht auf Tristans Gesetze sollst du deinen Kopf verwenden, sondern auf Gajas, damit hast du genug zu tun. Außerdem habe ich mir schon gedacht, dass es dir allmählich zu viel wird mit der ganzen Streiterei vor Gericht. Du bist jemand, der sehr genaue Vorstellungen davon hat, wie das Leben geordnet sein sollte, wie alles besser und gerechter sein könnte, und willst wohl gerne das deine dazu tun, damit es so kommt! Aber weder können wir als Heilerin die Leute vor Leid und Verletzungen schützen, noch als Weise Frau davor, dass sie Dummheiten begehen. Zum einen ist das nicht unsere Aufgabe, an der wir schon genug zu tun haben, zum anderen sind wir nicht allwissend. Dummheiten begehen wir selbst gerade so gern wie andere Leute, meinst du nicht auch?"

Doch sie lässt Lîf gar keine Zeit zur Antwort. "Was würdest du den Männern denn gerne verbieten, wenn du erst ihre drudkvinde bist: die Raubfahrten? Ja, glaubst du, die machen wir ohne Not? Die Inseln sind karg, so karg wie das Festland es nur ganz weit im Norden ist. Ein kalter Strom geht hier im Meer vorbei, aus Nordnordost, an der südlichen Ostküste Albions streift er entlang, Wodland liegt mittendrin, aber auch Jarlsö und die anderen Inseln hat der harsche Gesell noch fest in seinem Griff. Unsere Sommer sind kurz, das Wetter nass, die Felder steinig, und Höfe hat es schon mal gar nicht genug für all die jungen Männer, die ein Auskommen bräuchten. Und die letzten Jahre waren besonders kalt. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da sind die Männer nicht jedes Jahr los, sondern jedes dritte oder fünfte. Aber Tristan, dein Mann, hat es gar nicht anders erlebt, als dass er jedes Jahr losmuss, so lange geht das schon so! Jahr für Jahr verhallen unsere Bitten an die Große Mutter, sie möchte uns doch einen milderen Sommer schenken, ungehört... Ich glaube, wenn sie es könnte, würde sie es uns erhören, denn so viel Bitten kann sie nicht kalt lassen! Manchmal frage ich mich, ob sie auch so bitter friert im Winter..."

Ein Schauer schüttelt die Alte, die mit ihren Gedanken etwas abgedriftet zu sein scheint.

"Aber weshalb ich dich eigentlich gerufen habe: möchtest du noch ein wenig über die Reise zu deinen Ahninnen sprechen? Hast du noch Fragen zu dem, was deine Großmutter und die anderen zwei dir erzählten und ich hernach? Das war alles wohl sehr viel auf einmal, aber inzwischen hast du bestimmt noch ein wenig darüber nachgedacht, was das alles bedeuten könnte."

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #83 am: 25.12.2017, 13:39:01 »
Obwohl es dem impulsiven Rotschopf schwerfällt, hört Lîf der Alten doch aufmerksam zu. Viel Weisheit und Erfahrung sprechen aus Esjas Worten, gepaart mit der Gelassenheit, die selbige bringen. Ein Punkt, in dem sie noch weit von der alten drudkvinde entfernt ist. "Ich sehe ja ein, dass du recht hast, Mor" seufzt sie schließlich. "Aber es ist so schwer, das zu akzeptieren. Glaubst du denn, das könnte mir gelingen?" Unschlüssig spielt sie an ihrer roten Mähne herum. Sie glaubt nun, mit dem Wissen aus Esjas Lektionen, zu verstehen, dass es ihre eigene Mutter beim Vater genauso machte: Stets war allen völlig klar, dass er der Herr im Hause und auf dem Hof war, dem alle zu gehorchen hatten. Aber wenn sie es genau bedenkt, so hat es die Mutter doch recht oft dahin gebracht, dass er befahl, worum sie bat oder was sie – mit einem leisen Seufzen – manchmal wünschte. Wie hat sie das geschafft..?! "Dazu muss man gewiss sehr geduldig sein, und das fällt mir so schwer, Mor..!" gesteht Lîf schweren Herzens.

Während sie respektvoll schweigend darauf wartet, was die alte Frau ihr noch zu sagen hat, entdeckt sie die drei kleinen Begleiter Esjas und muss unwillkürlich lächeln. Ohne nachzudenken, wird sie wieder zum jungen Mädchen, beugt sich hinunter und versucht die drei herbeizulocken, indem sie auf ihren Schoß klopft und leise nach ihnen ruft. Wie sie ganz plötzlich in Zorn entflammen kann, so ist es ihr offenbar auch gegeben, ihre Sorgen vorübergehend zu vergessen und wieder so unbeschwert zu werden wie in ihren Kindertagen. Ihre Erinnerung versetzt sie zurück an den Tag, als die Mutter ihr erlaubt hat, ein kleines Lamm selbst zu versorgen. Wie schrecklich war der Tag, an dem es davonlief und der Vater loszog, vom Geheul der Tochter entnervt, um die Überreste des Tiers zu finden, von Wölfen gerissen! Freude und Schmerz, beide durchlebt sie in wenigen Momenten noch einmal, und so intensiv wie nur wenige Menschen.

Erst Esjas Stimme holt Lîf wieder zurück ins Hier und Jetzt. Mit ihren Worten beschreibt die drudkvinde recht gut, was in der jungen Frau vorgeht, wenn sie an die Versammlung und die Streitereien dort denkt. Auf Esjas Fragen, was sie denn wohl tun würde, hätte sie die Macht, öffnet sie schon ihren Mund, doch die Alte überfährt sie, noch ehe sie antworten kann. Betroffen blickt sie zu Boden und murmelt schließlich: "Vielleicht könnten sie ja Handel treiben oder sich auf den Höfen des Festlands verdingen..?" Dass die Böden hier nicht fruchtbar sind, weiß sie als Bauerntochter sehr gut. Dennoch widerstrebt ihr die kriegerische Art der Inselleute, sich ihren Lebensunterhalt zu verschaffen. "Ich meine, wenn sie die Menschen nicht angreifen würden, dann würde man nach und nach lernen, ihnen zu vertrauen, und... und es würden nicht mehr so viele junge Männer sterben und Weiber zu Witwen werden." Sie klingt alles andere als überzeugt, aber sie kann einfach nicht zugeben, dass die Raubfahrten unumgänglich sein sollen. Es muss doch eine andere Lösung geben – eine, mit der alle in Frieden leben können, wie es der Wunsch der Großen Mutter ist!

Angesteckt von Esjas düsteren Gedanken, fragt sie sehr zaghaft: "Glaubst du, dass der Winter machtvoller ist als Sie..?" Die Vorstellung ist entmutigend, aber die Argumentation der Alten bestechend: Wie kann eine Mutter ihre Kinder leiden lassen – es sei denn, ihr seien die Hände gebunden? Die junge Frau schluckt und nagt an ihrer Unterlippe. Und wieder ruft Esja sie mit ihren Fragen zurück in die Realität. "Oh ja!" sagt sie rasch. "Ich habe viel darüber nachgedacht, und noch immer frage ich mich, was es bedeutet, dass ich den kleinen Kerl dort gefunden habe." Sie weist auf die Robbe, mit einem weichen Lächeln, aber auch einem Seufzen. "Auch über Tristan habe ich nachgedacht. Über ihn... und mich" sagt sie zögerlich. "Ich glaube, du hast recht: Er ist ein guter Mann, trotz allem. Und ich glaube, es ist der Wunsch der Großen Mutter, dass wir beide, er und ich..." Mit einem leisen Erröten verstummt sie und schaut zur Seite. Sie kann nicht recht leugnen, dass es nicht das Gefühl einer heiligen Pflicht allein ist, das sie zu ihrer Einsicht treibt. Beileibe nicht...

So dauert es eine ganze Weile, ehe sie wieder anhebt: "Mor? Du hast gesagt, dass die Ulmentöchter sanftmütig seien, dass sie trösten und versöhnen. Ich möchte der Großen Mutter so gern gehorchen, aber ich habe Angst, dass es mir nicht gelingt." Verlegen blickt sie Esja an. Der Alten muss nach Lîfs bisheriger Lehrzeit bei ihr ebenso klar sein, wie wild und aufbrausend der Rotschopf sein kann. "Es ist nicht so, dass ich es mit Absicht tu', aber manchmal, da reißt mich der Zorn einfach mit, auch wenn's mir hernach noch so leid tut." Dieses Geständnis fällt ihr aus zwei Gründen besonders schwer: Erstens ist Esja der erste Mensch, dem sie ihre Schwäche offen eingesteht. Und zweitens erinnerte sie sich an die Mahnungen ihrer Eltern, die sich auch schon darin einig waren, wie schlecht ihr Jähzorn und ihre sprunghafte Art einem jungen Mädchen ansteht. "Bitte, Mor, erzähl mir mehr von den Dryaden! Ich möchte von meinem Erbe wissen, damit ich meinen Weg erkennen kann."

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #84 am: 29.12.2017, 22:10:29 »
"Ungeduldig ist die Jugend", erklärt die Alte, worauf sie nachsichtig lächelt. "Bis du mein Alter erreicht hast, wirst du schon ein wenig Geduld gelernt haben. Obwohl, ich kenne auch ungeduldige Alte. Und solche, die jung schon geduldig waren, dein Tristan zum Beispiel. Für gleichgültig, gefühllos haben ihn viele zu Anfang gehalten, andere für abwesend oder einfältig, dabei hat er es vielmehr schlau gemacht: indem er uns alle nämlich ganz genau beobachtete, sich selbst in allem zurückhaltend, bis er wusste, wie hier bei uns die Regeln sind, und in diese hat er sich dann eingefügt, reibungsloser als so mancher, der auf den Inseln geboren ist. Ja, so viel Geduld und Umsicht ist selten. Kind, du schaust zweifelnd. Hältst du sein Vorgehen nicht für umsichtig? Etwa für unterwürfig, charakterlos, weich, formbar, wechselhaft? Ah, aber er hat nicht in allem nachgegeben. In einer Sache blieb er fest, über all die Jahre hin, trotzdem man ihn von allen Seiten bedrängte... zum Weib wolle er nur eine, deren Stimme er gerne höre. Das war die einzige Begründung, die er je gab, stell dir nur vor! Damit erntete er natürlich reichlich gut gemeinte Ermahnungen und einiges an Hohn, aber er blieb stur. Und auch in anderen Dingen, vor allem in Gesetzesfragen, lässt er sich nicht so leicht beirren oder von irgendwem etwas einreden, wie du selbst erlebt hast. Also ich bleibe dabei, dass es Geduld und Umsicht sind, die ihn von so vielen anderen Männern unterscheiden. Alles, was er tut, hat er sich normalerweise gut überlegt."

Darauf schweigt die Alte, vielleicht um Lîf Zeit zu geben, ihre Worte aufzunehmen und zu bedenken, doch diese lässt sich von den Kaprizen der drei putzigen Tiere ablenken. Ihr Versuch, die drei anzulocken[1], hat immerhin den Erfolg, dass der von ihr gerettete kleine Kerl eifrig losrobben will, womit er den Lund, der zwecks besseren Ausguckpostens auf ihn geklettert war, hintenüberpurzeln lässt, was wiederum dazu führt, dass der zweite Lund, gewiss das Weibchen, aufgeregt im Verschlag verschwindet, wohl um zu schauen, wie's dem anderen geht, was diesem offenbar gar nicht passt, denn es folgt ein lautes Gekäbbel. Darüber vergisst auch die Robbe ihre Absicht und wendet sich lieber den beiden gefiederten Gefährten zu, in deren Gezänk gleich miteinstimmend, auch wenn Lîf sich einbilden will, dass das ungeschickte Kerlchen mit seinen energisch fordernden Gluckslauten die beiden Vögel zu Ordnung und Versöhnung aufruft.

Da ihre Schülerin also offenbar nicht über den Gatten sprechen möchte, greift Esja das Thema von Verboten und deren äußerst fragliche Wirksamkeit auf. Lîfs darauffolgender Vorschlag, die jungen Inselmänner könnten sich doch auf den Höfen des Festlandes verdingen, kommtiert Esja dagegen mit einem verächtlichen Schnaufen. "Wie, als Knechte? Das wird einem freien Mann nicht einfallen! Und mehr als einen Hungerlohn würde ihm auch keiner dafür bieten. Handel? Mit was, Robbenfellen, Räucherfisch, Werkzeug aus Walbein? Oder verdingen als Söldner in fernen Kriegen? Da wäre der Sold kärger als die Beute, und die Heimkehr noch unsicherer. Und bereit, die Inselheimat ganz aufzugeben und zu versuchen, am Festland Fuß zu fassen—ganz so verzweifelt sind wir noch nicht. Die Freiheit, Lîf, wiegt manche Not auf. Die Gemeinschaft, die wir hier haben, jeder freie Mann und jedes freie Weib gleichgestellt, nur die Tüchtigkeit zählt und der Charakter—vor keinem hohen Herren wird gebuckelt, alles wichtige entscheiden wir zusammen. Wie anders ist das in Albion, auf dem Festland gar!"

"Machtvoller?" sinniert sie auf Lîfs Frage hin. "Die Winterkälte? Nun, es heißt ja, Zu Beginn war das Eis...[2] Was war zuerst da, Gaja oder die Kälte oder gab es beide schon immer? Jedenfalls hat Gaja erst die Wärme und das Leben erschaffen, hat beides der Kälte und der Ödnis, dem Nichts, dem Tod abgerungen. Dieser Kampf, vor Urzeiten begonnen, währt heute noch an. Es ist ein immerwährendes Ringen. Mal haben Gaja und das Leben die Oberhand, dann wieder der Tod und die Wintergeister. In diesen argen Zeiten ist es besonders wichtig, dass alle Kinder Gajas, alle Diener des Lebens, der Großen Mutter zur Seite stehen und für das Leben kämpfen."

Lîfs Ängste, vonwegen ob sie wohl die nötige Charakterstärke besäße, kann die alte drudkvinde dieser nicht ganz nehmen, vielmehr liegt während der folgenden Erklärungen ein mahnender Ton in ihren Worten, als wolle sie sagen: Nun, ein wenig bemühen musst du dich schon darum; niemand hat je behauptet, dass es einfach würde: "Die Ulme, ja, die will trösten und schlichten, die ihren beschützen. Selbstlos ist die Ulme, maßvoll, sparsam, alles teilt sie gerecht, niemals käme sie auf den Gedanken, von einem anderen zu nehmen, was dieser dringend braucht, gar etwas zu rauben—undenkbar! Wann fühlt eine Ulme sich so richtig wohl? Wenn sie eine ganze Schar um sich herum versammelt hat, Familie, Freunde, Gäste, die eigene glücklich lachende Brut. Unermüdlich umsorgt sie alle, hilft jedem, spendet Kraft. Was ihr aber gegen jeden Sinn geht, was sie auch einmal aus der Haut fahren lassen kann, dass man sie kaum wieder erkennt, ist Ungerechtigkeit. Die nämlich geht ihr gegen jeden Sinn. Überhaupt, wenn es darum geht, die Ihren zu verteidigen, zeigt sie auf einmal Krallen und Zähne! Du siehst, auch eine Ulme ist nicht immer sanft und gelassen. Und bei dir steckt nun ja auch noch der Satyr darin, das ist zum einen ein lebensfroher, verspielter Geselle, der gewiss auch niemandem etwas Böses will, aber ach, ein wenig gedankenlos ist er schon, zu sehr auf sich bezogen, und ganz im Augenblick gefangen, das Hier und Jetzt genießend! An die Folgen dessen, was er da gerade tut, denkt er selten, oder an die Hintergründe! Im Leben fliegt ihm vieles zu, weil er so offen und fröhlich daherkommt, dass ihm kaum einer das Herz verwehren kann. Wie ansteckend ist seine kindliche Begeisterung, wie wohl räkelt es sich im sonnigen Schein seiner Aufmerksamkeit, was wärmen seine lieben Worte die Seele! Ist es da ein Wunder, dass man ihm kaum etwas ausschlagen kann, das er haben möchte? Ach, und wie gerne nimmt er all die Gaben an, welche die Leute ihm anbieten, von sich aus oder auf sein Bitten hin, und er denkt gar nicht darüber nach, ob es diese später nicht arg reuen wird, ihm so viel geschenkt zu haben, vielleicht gar mehr, als sie eigentlich hätten entbehren können. Selbst, wenn er sieht, wie sie darüber Scherereien bekommen, sieht er die Schuld nicht bei sich. Freiwillig hat das Mädchen ihre Unschuld hergegeben, lieb und zärtlich war er zu ihr, gejauchzt hat sie vor Glück! Die anderen sind das Problem, die das liebe Ding nun schief ansehen! Richtig zornig kann er werden, wenn man ihm seinen Spaß verbieten will oder ihn zu mehr Umsicht mahnt. Sieht er aber doch einmal einen Fehler ein, so plagt sein Gewissen ihn nicht lang. Und dann zieht der Satyr auch schon weiter und denkt sowieso nicht mehr zurück, der vergessliche Gesell!

Ja, das sind schon zwei ganz verschiedene Herzen, die du da in einer Brust vereinst. Dass sie nicht immer im Einklang schlagen, will ich gerne glauben. Wenigstens sind beide Kinder des Waldes und des Tags, sodass sie sich doch in den meisten Dingen miteinander versöhnen lassen sollten."


Kinder des Waldes und des Tags. Bei diesen Andeutungen wird Lîfs Miene fragend, auch wenn sie ihre Bitte nicht zu wiederholen wagt. Hoffentlich fährt Esja von selbst fort und diesmal in die richtige Richtung! Zumindest scheint die alte drudkvinde sich für eine lange Erzählung einzurichten, so wie die sich die Felldecke um ihre Schultern zieht, eine Weile lang mit entrücktem Blick ins Feuer starrt, um sich endlich aufseufzend gegen die Wand zurückzulehnen.

"Viele Wesen werden die ersten Kinder Gajas genannt. Die Elben etwa nennen sich selbst so und manche von ihnen meinen wohl, dieser Titel besage, dass sie auch von allen die besten seien. Nun, zunächst heißt es doch erst einmal, dass man vor allen andere da war, und während die Elben, soweit sich noch feststellen lässt, tatsächlich lange vor uns Menschen da waren, womöglich auch noch vor den Zwergen, so gibt es die Feen doch noch viel länger. Waren sie die ersten? Wer weiß das schon. Sie behaupten es von sich, aber das heißt nicht viel, wie man an den Elben sieht. Auf ein Feenwort darf man sich nämlich ebensowenig blind verlassen wie auf ein Elben- oder Menschenwort. Im Gegenteil, behaupte ich gar: noch viel genauer muss man es abwägen. Zum einen sind die Feen listige Kreaturen, die gerne zu Tricks und Täuschung greifen, viel lieber als zur offenen Konfrontation, zum anderen sind sie uns so fremd in ihrem Denken, ihrer Logik, ihrem Wesen, dass wir also ihre Worte zusätzlich noch ganz anders deuten, als sie gemeint sind."

Ein wenig anstrengend ist schon, der Alten zuzuhören, die sich immer wieder in Umwegen zu verlieren scheint, doch allmählich erkennt Lîf, dass auf diesen Umwegen viel Wissen verborgen liegt, welches für den weiteren Weg notwendig oder zumindest hilfreich ist. So scheint ihr die Frage, wer denn nun der erste war, die Elben oder die Feen, völlig nebensächlich, ja, uninteressant, doch dann zeigt die Alte genau daran, dass man den Feen nicht so einfach aufs Wort glauben darf, obwohl sie doch so viel älter und weiser sind, so viel mehr erlebt haben und gewiss ganz furchtbar viel von der Welt wissen, mehr als man selbst...

Auch Lîf setzt sich also zurecht und macht sich auf einen langen Vortrag gefasst.[3]
 1. Tierempathie = 11
 2. s. Tristans Erzählung
 3. So, an dieser Stelle unterbreche ich nur noch einmal, obwohl es sich eigentlich nicht zur Unterbrechung anbietet (und ich zu Lîfs eigentlichen Frage noch gar nicht gekommen bin), aber der Post ist schon lang genug und der Vortrag wird bestimmt noch einmal genauso lang. Vielleicht hat Lîf ja auch noch den ein oder anderen Kommentar zu Esjas bisherigen Erläuterungen und Behauptungen...

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #85 am: 31.12.2017, 11:35:07 »
Was sie da über ihren Mann erfährt, ist der jungen Lîf neu. "Deren Stimme er gerne hörte..?" murmelt sie leise. Gewiss, wie die meisten jungen Weiber besitzt auch sie eine schöne Stimme, kann singen – doch an Tristans zauberische Kunst reicht sie bei weitem nicht heran, und sie mag auch nicht recht glauben, dass die Worte der Alten so direkt zu verstehen sind. "Und da hat er mich gewählt?" Fast klingt sie ein wenig ungläubig, als sie nachdenklich ihre Stirn runzelt. Sie hatte zunächst angenommen, er habe sie als seine Beute beansprucht, weil er mit ihr tun wollte, was die Männer nun einmal mit den Weibern tun, und weil sie ihm gefiel. Mehr als genug seiner Kameraden stand ebendiese Absicht sehr deutlich in den Augen, damals, als sie Lîf und ihre Freundinnen raubten. Doch später stellte sich heraus, dass Tristan anders ist, und sie glaubte, er habe sie einfach als Dienstmagd begehrt, um für ihn zu arbeiten, vielleicht auch, um sie als Tochter des Festlands zu erniedrigen. Auch das erwies sich als falsch, musste sie in seinem Haus doch keine anderen Arbeiten verrichten als auf dem Hof ihrer Eltern, ihr langes Haar durfte sie behalten, und geschlagen hat er sie auch nicht. Ratlos geworden, machte sie sich irgendwann keine Gedanken mehr darum, was ihn wirklich dazu trieb, sie zu sich zu nehmen und ihr schließlich gar die Freiheit zu schenken.

Und nun hört sie eine solch seltsame Begründung. Sie... das Weib, dessen Stimme er gern hört..?! "Hat es etwas mit seinem und meinem Erbe zu tun, Mor?" fragt sie die alte Frau. "Hört er es an meiner Stimme?" Sind sie, meint Lîf mit anderen Worten, füreinander bestimmt, und er weiß es im Gegensatz zu ihr bereits? Der Gedanke lässt ihr Herz heftiger klopfen, und ihre Wangen röten sich leicht. Auf ihre Frage sieht sie sogleich verlegen zu Boden. Klang das etwa zu impulsiv – zu hoffnungsvoll? Denn wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst ist, kann sie nicht leugnen, dass es eine hochwillkommene Fügung wäre: Ihre Gefühle für den gutaussehenden Mann mit der Zauberstimme eingestehen zu können, ohne ihre stolzen Worte zurücknehmen zu müssen, nach denen er sie raubte und sie ihm niemals ohne Zwang zu willen sein würde. Denn wenn es der Wille der Großen Mutter wäre, gehorchte Lîf ja nur Ihr, was keine Schwäche, sondern vielmehr Glaubensstärke zeigte. Und es wäre sehr leicht zu leugnen, dass sie ihm die Entführung innerlich schon verziehen hat und sich zu ihm hingezogen fühlt, sich einzureden, es sei die lenkende Hand der Göttin, die Lîfs Herz in einem höheren Interesse rührte, ihr sanftere Gefühle einhauchte anstelle des trotzigen Aufbegehrens. Doch wäre dann nicht zu befürchten, dass die alte Esja mit ihrer Erfahrung sie durchschaut?

Das Bewusstsein nagt an ihr, dass sie den Kampf gegen ihre Liebe so oder so verlieren wird, auch wenn sie weiterhin auf ihrem Trotz beharrt. Und das fällt dem stolzen jungen Weib sehr schwer... Da helfen auch die possierlichen Tiere nicht, die vor ihr ein Schauspiel aufführen, das sie an einem anderen Tag zum Lachen reizen würde. Und auch ihre Ideen, wie sich die Männer der Inseln den Lebensunterhalt für sich, ihre Weiber und Kinder auf friedliche Art verdienen könnten, fallen auf wenig fruchtbaren Boden. "Freiheit," seufzt sie leise, "da haben die Mannsbilder leicht reden..." Ja, die Männer wollen ihren Nacken vor niemandem beugen – sie fahren übers Meer, erkennen keinen Herrn über sich an und tun, wie ihnen beliebt! Aber gibt es im Leben der Weiber Platz für solchen Stolz, selbst für die hier auf den Inseln? Wer zuhause bleiben muss, um die Kinder zu hüten, die Vorräte und Leibeigenen, um den Haushalt zu besorgen und bange auf die Rückkehr der Männer zu warten – ist der meine unverletzt, ist er's nicht, oder gar tot? – dem wäre es wohl eher ein Gewinn, auf diese Angst verzichten zu können und den Mann auf dem Feld zu wissen statt im Kampf. Denn die Herrin mag in Abwesenheit ihres Gemahls befehlen, doch ihren Alltag bestimmt dieselbe Arbeit wie den einer Magd. Die Weiber auf dem Festland leben nicht so viel anders als die auf den Inseln. Nur haben sie nicht ständig Angst um ihre Männer, solange die nicht in den Krieg ziehen müssen. Und wenn ihre Mannsleute die Arbeit von Knechten verrichten, so sind sie doch auch Männer mit Ehre. Welche Seite ist da glücklicher zu nennen?

Indes, sie glaubt zu hören, dass Esja es ähnlich sieht wie die Männer auf den Inseln. Schweigend hört sie daher die Worte der Alten an, bis die zum Erbe der Ulme und des Satyrs kommt. "Ja, ganz genau so ist es, so fühle ich manchmal" nickt sie verblüfft über die treffende Schilderung ihres Seelenlebens. Als Esja sich schließlich den Elben und Feen zuwendet, kommt Lîf näher und setzt sich zu ihren Füßen wie eine Enkeltochter zur Großmutter. Vergessen sind wiederum ihre Sorgen und Ängste, als sie mit leuchtenden Augen zuhört. Ja, von den Wesen des Waldes hat sie schon immer gern gehört! Zwar erzählt Esja recht umständlich, doch das junge Weib bettelt mehr als einmal: "Erzähl mir mehr, Mor!" und legt ihre Hände auf die Knie der Alten. Ist es das Blut der unbeschwerten Satyrn? In Lîfs Augen brennt ein heller Schein, wie man ihn sonst nur bei begeisterten Kindern sieht. Man glaubt ihr anzusehen, wie die Dinge vor ihren Augen vorüberziehen, von welchen die Alte berichtet. Als sie merkt, dass die Erzählung länger wären wird, rückt sie näher an Esja heran, legt einige Falten ihres Kleids um die Beine der drudkvinde, die ja bei alten Leuten ewig kalt sind, stützt ihr Kinn auf die Hände und lächelt erwartungsvoll zu ihr hinauf.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #86 am: 01.01.2018, 19:38:45 »
"Warum er dich gewählt hat und was er in deiner Stimme hört, das musst du ihn schon selbst fragen", erwidert Esja. "Die erwähnten Worte lassen sich nicht unbedingt auf dich beziehen, wenn er sie vor einigen Jahren sprach und vorsätzlich zu dem Zweck, dass man ihn danach mit heiratswilligen Töchtern in Ruhe lasse. So wie ich es damals verstanden habe, erträgt er das Geschnatter der meisten Weiber einfach nicht und wollte sich keine in sein Heim holen, die ihm den ganzen Tag einfältig die Ohren vollquatscht, mit Tratsch über die Nachbarn oder mit Lästereien den Frieden stört, ohne dass ein gescheites Wort ihrem Mund entschlüpft, oder schlimmer noch eine, die mit nichts je zufrieden ist und deshalb pausenlos stichelt, schimpft oder zankt[1]. Ich versuche mir gerade Egils Inga an Tristans Seite vorzustellen oder Sigrids Tochter Helga... kannst du es? Selbst ein liebes Ding wie Elske würde ihn nicht glücklich machen können oder er sie, da bin ich mir sicher. Dazu ist das Mädchen doch zu schlicht von Gemüt, zu schwerfällig in ihrem Denken, zu begrenzt in ihrem Horizont. Wie pries dein Tristan dich stolz auf eurer Hochzeitsfeier? 'Mein schönes, kluges Weib!' Ja, ich glaube, er hat wirklich all die Jahre auf eine gewartet, die nicht nur hübsch und lieb ist, sondern ihm auch an geistiger Wendigkeit ebenbürtig."

Damit hat die alte Esja ihrer Schülerin natürlich die schöne Theorie von der lenkenden Hand der Göttin, mit der sich alles erklären ließe, gründlich ausgetrieben.

"Wobei", fügt die drudkvinde hinzu, mit dem Zeigefinger nachdenklich auf ihre Unterlippe klopfend, "vielleicht hast du auch recht und es steckt mehr dahinter, dass er dich und keine andere haben wollte. Ein andermal erklärte er mir nämlich, für ihn besäße alles um ihn herum eine eigene Melodie: jeder Mensch, jedes Tier, jeder Baum, jeder Strauch, die Wellen, der Wind, der einzelne Sonnenstrahl. Ist das die Sängerseele, die aus ihm spricht, oder sein Feenerbe? Dazu müsste man zunächst wissen, ob er's wörtlich gemeint hat oder nur als schwelgende Umschreibung. Auch das fragst du ihn besser selbst."

~~~

Als Lîf sich zu ihren Füßen setzt wie ein kleines Kind zur Großmutter, lächelt die alte Esja, sagt aber nichts dazu.

"Gut, nun also zu den Dryaden", hebt sie lieber sogleich mit ihren Erklärungen an. "Kinder des Waldes und des Tags sind sie, und damit du das verstehst, muss ich dir die Feenwesen rasch noch in ihrer Gesamtheit vorstellen. Weit über hundert verschiedene Arten gibt es, vielleicht gar zwei- oder dreihundert, und sie sind sehr unterschiedlich, teils zerstritten. Ob nun Gajas erste Kinder oder nicht, jedenfalls sind sie ihre eifrigsten Diener. Überall in Dalaran gibt es sie. Versteckt vor uns Kurzlebigen wohnen sie an abgelegenen, stillen oder schwer erreichbaren Orten, im Einklang mit der Natur, die sie vor allzu frechen Eingriffen von uns oder anderen böswilligen Kreaturen schützen. Ganz unterschiedlicher Mittel und Strategien bedienen sie sich dabei, wie sie überhaupt ganz unterschiedliche und immer wieder überraschende Fähigkeiten besitzen. Anders als in den Sagen sind sie aber nicht unsterblich, weshalb sie uns auch die Kurzlebigen und nicht, wie in den Geschichten, Sterbliche nennen, weil sie selbst eben nur langlebig, aber nicht unsterblich sind. Ihre Lebensspanne misst sich in Jahrhunderten, bei einigen auch in Jahrtausenden. Die Zeit erleben sie daher ganz anders als wir, nehmen überhaupt die Welt mit ganz anderen Sinnen wahr. Das führt dazu, dass sie uns so schwer verstehen wie wir sie, und über den Weg trauen sie uns erst recht nicht. In den seltenen Fällen, da sie einem von uns Kurzlebigen ihre Anwesenheit offenbaren, hat man entweder etwas falsch gemacht oder sie brauchen unsere Hilfe. In beiden Fällen darf man froh sein, wenn man unbeschadet an Geist und Körper davonkommt und oft ist es so, dass derjenige sich hinterher an die Begegnung nicht mehr erinnert.

Die meisten Feen sind Einzelgänger oder leben in kleinen Gruppen, zu zweit, dritt, viert oder fünft; nur wenige Arten bilden größere Gemeinschaften wie wir es tun. Manche von ihnen ziehen rastlos umher, andere bewachen einzelne, besonders heilige Orte. Heilig, so nennen wir Menschen jene Orte, die von Feen bewacht werden, also drehen wir uns bei dieser Erklärung einmal im Kreis. Warum aber die Feen nun genau jenen Ort für wichtig halten, dass sie ihn bewachen, wissen wir nun einmal nicht. Vielleicht erzählen sie so etwas elbischen Druiden, die ihnen doch noch etwas näher stehen, uns menschlichen jedenfalls nicht.

Dass sich die einzelnen Arten sehr von einander unterscheiden, sagte ich ja schon. Die ganze Formenvielfalt der Natur findet man in ihnen wieder, dazu die verschiedensten Kräfte und Charaktereigenschaften. Noch viel mehr als wir sind sie von diesen geprägt. Ein Mensch kämpft bisweilen gegen seine Natur an und vollbringt mit schierer Willenskraft etwas, das gegen seinen Charakter ist, oder er beugt sich äußerem Druck, etwa dem seiner Familie oder der Gemeinschaft, oder er verändert sich im Laufe der Jahre unter all den verschiedenen Einflüssen, denen er ausgesetzt ist, all den gemachten Erfahrungen. Ein Feenwesen dagegen kann nicht aus seiner Haut. Jede Art hat ihre besonderen Charaktereigenschaften, die keiner ihrer Vertreter verleugnen kann. Nun sind sie nicht ganz ohne Individualität und wohl auch nicht völlig unwandelbar, denn das widerspräche Gajas grundlegendsten Prinzipien, aber diese Unterschiede und Veränderungen sind doch für das menschliche Erleben kaum erkennbar. Oh weh, das habe ich jetzt aber alles sehr umständlich ausgedrückt, wenn ich doch eigentlich nur hervorheben wollte: eine Fee kann niemals gegen ihre Natur handeln, unter keinem Zwang, keiner Drohung, und nicht einmal in der höchsten Not. Man könnte auch sagen, sie ist weniger frei in ihrem Willen als wir.

Kinder des Waldes nannte ich den Satyr und die Dryade, nun sind wir fast dort angelangt. Fünf Völker gibt es nämlich unter den Feen, genau wie unter uns Kurzlebigen. Was bei uns die Riesen, Zwerge, Menschen, Elben und die spurlos verschwundenen Akadier sind, welche zu Urzeiten auf Albion lebten, das sind bei den Feen das Hügelvölk, das Höhlenvolk, das Flussvolk, das Meervolk und das Waldvolk. Ersteres lebt auf den sanft gewellten Ebenen, unter Hügeln oder auf Inseln, die ja auch nichts anderes als Hügel sind, um die sich zufällig Wasser angesammelt hat; das zweite in den hohen Bergen oder dunklen Höhlen; das dritte an oder in den Flüssen, Bächen und Quellen, in See oder Teich, in tiefen Brunnen oder hinter Wasserfällen; das vierte auf, im oder unter dem Meer, in seinen tiefsten Tiefen, wo kein Sonnenstrahl hinreicht; das letzte schließlich lebt versteckt in den Wäldern.

Freiheitsliebend ist das Hügelvolk, es braucht den Blick in die Ferne, die Weite des Horizontes, den gräserduftenden Wind im Gesicht; schroff und unnahbar wie die Berge selbst ist das Höhlenvolk, genügsam, zäh und standhaft, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das Flussvolk dagegen ist heiter und verspielt, impulsiv bis zur Leichtsinnigkeit, frivol, leidenschaftlich, dabei sehr launenhaft; das Meervolk ist stürmisch und aufbrausend oder im Gegenteil kalt und gefühllos, je nachdem, ob es auf dem Meer oder in dessen Tiefen haust, in jedem Fall mächtig und uns im Denken und Fühlen von allen Feenwesen wohl am fremdesten, weil ihre Welt unter Wasser so ganz anders ist als die unsrige an Land. Das Waldvolk endlich fühlt sich den Pflanzen aufs engste verbunden, es teilt deren stille, geduldige Kraft, im Wechsel der Jahreszeiten wachsend und vergehend und doch auch den ärgsten Winter im Verborgenen überdauernd. Lauschige Plätze sind ihnen Heim oder laden zur Rast: stille Waldseen, verschlungene Pfade, sonnenwarme Lichtungen und tiefe Haine, knorrige alte Bäume, die von früher erzählen. Auf leisen Sohlen schleichen sie umher, ohne dass der Wanderer sie je bemerkt, schützen und wachen unentdeckt. Eine Unart haben sie allerdings auch, sie sind sehr neugierig. Kaum etwas lieben sie so sehr wie Geheimnisse, Rätsel, Tarn- oder Versteckspiele, Verkleidungen oder Masken. Und zu dieser letzten Sorte gehören die Dryaden und auch der Satyr.

Kinder des Tages seien sie beide, was meinte ich damit? Nun, es ist so, dass die Feen seit grauer Vorzeit zerstritten sind. Quer durch alle fünf Völker zieht sich der Graben und derart spinnefeind sind sich die beiden Seiten, dass man sich die Zeit und den Raum aufgeteilt hat, um sich leichter aus dem Weg gehen zu können. Die Tagfeen sind des tags unterwegs, bevorzugen den Sommer und warme oder sonnendurchflutete Orte, den Nachtfeen gehört die Nacht, der Winter mit seiner Kälte und alle finsteren Orte. Begegnungen der beiden sind auf die Zeit der Dämmerung und auf Orte des Zwielichts beschränkt. Und bevor es dir jetzt einfällt zu fragen: worum es in dem Streit damals ging, das weiß kein Mensch. Am Ende wissen die Feen es selbst nicht mehr. Das einzige, was man sich vorstellen könnte, dass sie sich vielleicht nicht über die Methoden einig wurden, mit denen man die Natur verteidigt: die Nachtfeen neigen zu direkten und drastischen, auch zu gnadenlosen und tödlichen, während die Tagfeen ihr Werk so unauffällig wie möglich verrichten. Eine Nachtfee würde einen Störenfried umbringen oder unter den eigenen Willen zwingen, eine Tagfee würde ihn weglocken oder ablenken, vielleicht gar umgarnen.

Das führt mich zu einem letzten Punkt, bevor ich dann endlich zu den Dryaden und ihren Bäumen kommen kann, nämlich vonwegen 'umgarnen'. Warum tun Feen das, uns Kurzlebige verführen? Nun, ganz einfach: weil sie uns zur Fortpflanzung brauchen. Fast alle Feenarten sind eingeschlechtlich—so sind alle Dryaden weiblich und alle Satyre männlich—und die Vertreter zweier verschiedener Arten können miteinander keinen Nachwuchs zeugen. Das geht nur mit uns Kurzlebigen. Eine Handvoll Arten gibt es wohl, die zwei Geschlechter besitzen, welche sich ganz normal miteinander paaren können, Selkies seien hier als Beispiel genannt oder auch Zentauren, welches dieselben sind, die nämlich auch größere Gemeinschaften bilden, so wie wir. Aber sie sind die große Ausnahme. Fast alle Feen sind auf uns Kurzlebige angewiesen. Du erinnerst dich an die Worte der ältesten Vorfahrin, die dir erschien, die Bitte, welche ihr geliebter Satyr an sie richtete? So wie die Ulme sich dreimal von demselben Mann, nämlich dem Vater deiner Vorfahrin, hätte begatten lassen und nur das dritte Kind für sich behielt, so bat er sie um das dritte Kind ihres Leibes, wenn es denn ein Sohn würde, was es ja tat. Beim Satyr und der Dryade ist es nämlich so, dass die ersten beiden Kinder eines kurzlebigen Partners von dessen Art sind, mit ein wenig Feenblut dreingemischt, und nur das dritte—mit demselben Partner gezeugt, wohlgemerkt!—von der eigenen. Bei anderen Feenarten gestaltet die Sache sich eher noch schwieriger, als leichter, weshalb es viel mehr Feenbälger als echten Feennachwuchs gibt, zumindest wenn man die Tagfeen betrachtet.

So, bevor ich nun aber wirklich zu den Dryaden und ihren Bäumen komme, möchte ich doch erst einmal hören, ob du zu all dem schon Fragen hast."

 1. So ähnlich hat Tristan es Lîf selbst gesagt, als sie ihn fragte, wie denn seine Mette gewesen sei, und er zur Antwort gab, dass sie in einem Punkt Lîf ähnlich gewesen sei: dass es ihm, im gemeinsamen Gespräch, tatsächlich interessierte, was sie sagte—anders als bei anderen Weibern und auch allgemein anderen Leuten (s. hier).
« Letzte Änderung: 02.01.2018, 20:33:34 von Tristan »

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #87 am: 03.01.2018, 19:55:35 »
Die Gefühle Lîfs streiten wider. Einerseits ist es natürlich eine herbe Enttäuschung, so klar gesagt zu bekommen, dass der – zugegebenermaßen etwas anmaßende – Traum vom Willen der Göttin, vom Schicksal als Mutter eines ganz besonderen Kindes, eben nur ein Traum ist. Wie stolz wäre sie gewesen, hätte sie den Eltern sagen können: "Vater! Mutter! Seht her: Dass ich geraubt wurde, geschah nur aus höheren Gründen, weil mir eine wichtige Rolle zugedacht ist." Das nun vor ihren Augen zur Fantasie eines eingebildeten Mädchens degradiert zu sehen, schmerzt. Doch auf der anderen Seite enthalten die Worte Esjas auch etwas Tröstliches: Sie, ausgerechnet sie soll es sein, auf die Tristan gewartet und um deretwillen er andere Weiber verschmäht hat! Schön hat er sie genannt: Ja, das ist wahr, so sagte er. Und welches Weib würde solche Worte nicht gern gören? Und klug... Eine plötzliche Röte überzieht die Wangen des Rotschopfs. Der Mann mit der Zauberstimme war der Erste, dem es einfiel, es so zu nennen. Die Eltern und viele andere von den umliegenden Gehöften nannten sie vorlaut. Dickköpfig, rechthaberisch. Einem jungen Weib unangemessen, töricht. Griesgrämig, kratzbürstig wie eine Wildkatze und dergleichen mehr. Und auch wenn es halb im Scherz gewesen sein mag, hat es ihr Selbstvertrauen nicht gerade gestärkt.

Tristans Worte, die die Alte ihr wieder ins Gedächtnis ruft, tun da wohl wie Balsam. Und dann deutet ihre Lehrmeisterin gar noch an, er könne womöglich doch mehr damit gemeint haben... "Das werde ich gewiss tun, Mor: Ich frage ihn" nickt sie eifrig. Darauf hört sie den Erzählungen Esjas über die Dryaden zu und fühlt sich tatsächlich in die Zeit zurückversetzt, in der sie noch klein war. Gebannt hängt sie an den Lippen der alten Frau, den Mund ganz leicht geöffnet, die Augen groß und rund. Sie ist sichtlich fasziniert. "So ist das also" oder ähnliches murmelt sie dann und wann. Als die alte drudkvinde eine Pause einlegt, nagt Lîf an ihrer Unterlippe und schaut vor sich hin. Schließlich sieht sie wieder auf und fragt: "Mor, wenn sie so viel mehr durch ihre Geburt bestimmt sind als wir, dann stehen sie vielleicht zwischen uns, den Menschen und Elben und allen meine ich, und den Dingen der Natur wie Tieren, Bäumen oder Blitzen. Sie haben ja von beiden etwas in sich." Nachdenklich spielt sie an ihren langen Zöpfen herum. "Die Dryaden und Satyre gehören zum Waldvolk" wiederholt sie leise. Verlegen grinst sie: "Ich bin wohl manches Mal auch ein klein wenig neugierig – dann hab ich das sicher daher."
   
Sehr interessiert wird sie, als sie davon hört, wie besonders die Tagfeen gern Menschenkinder verführen. Einiges aus ihrer Traumvision klärt sich mit einem Mal, und sie nickt stumm vor sich hin. Schließlich errötet sie etwas tiefer, druckst ein wenig herum und meint vorsichtig: "Ist es denn auch bei den besonderen Nachkommen der Feen so, dass stets im dritten Kind das Erbe sich fortsetzt, wenn sie beieinander liegen?" Mit einem verschämten Husten starrt sie auf ihre angezogenen Knie. Nicht dass drei Kinder eine besonders große Anzahl wären, die sie erschreckte. Aber sie muss sich doch erst an den Gedanken gewöhnen, dass sie womöglich mit Tristan, all ihren gegenteiligen Schwüren und Verwünschungen zum Trotz... und das nicht nur einmal, sondern drei, ja vielleicht gar viele Male...

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #88 am: 07.01.2018, 18:19:59 »
"Ja, sie als Naturgewalten zu verstehen ist vielleicht das klügste", pflichtet Esja ihrer Schülerin bei[1]. "Damit unterschätzt man ihre Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit nicht so leicht und wappnet sich hoffentlich gegen die Versuchung, ihnen menschliche Denkweisen, Motivationen und Gefühle anzudichten. Denn egal wie sehr manche von ihnen uns rein äußerlich ähneln, oder auch in einigen Verhaltensweisen, oberflächlich betrachtet, sie sind doch ganz anders als wir. Sie denken anders, fühlen anders, handeln anders. Das darf man niemals vergessen, wenn man einem der Naturkinder begegnet, damit erspart man sich einiges. Es käme ja auch niemand auf die Idee, sich einer Flutwelle in den Weg zu stellen oder mit einem Sturm verhandeln zu wollen, er möge sich doch bitte beruhigen, oder einen hungrigen Bären bitten, ob er einen nicht doch verschonen könnte, man brächte ihm dafür gerne am nächsten Tag ein Schaf vorbei. Mit einer Fee lässt sich ebensowenig räsonieren, man versucht es besser gar nicht erst."

Als Lîf sich dann errötend erkundigt, ob sich bei den Nachkommen der Feen deren Erbe auch jeweils erst beim dritten Spross zeige, traut die junge Frau sich erst nach einer geraumen Weile zu ihrer Lehrmeisterin, die gewiss über die so ungeschickt versteckte eigentliche Frage schmunzeln muss, aufzublicken. Doch Esja schaut ernst.[2]

"Natürlich machst du dir derlei Gedanken, Kind. Jedes junge Mädchen, welches erfährt, dass sie nicht ganz Mensch ist, dass eine zweite Seele in ihrem Herzen sitzt—so anders, fremd, vielleicht gefährlich—sorgt sich auch gleich um die eigene Brut. In vielen Dingen kann ich dich da beruhigen, aber ich will auch nichts beschönigen. Erst einmal: unser Feenerbe wird in jedem unserer Kinder weitergetragen. Wie sich dieses in ihnen manifestiert, wie ausgeprägt also etwa das Talent, die Naturliebe, wie stark das Feenblut ihre Persönlichkeit bestimmt, lässt sich genausowenig vorhersagen wie bei allen anderen Eigenschaften, die sie von uns übernehmen. Wird dein erstes, zweites oder drittes Kind rotes Haar besitzen? So stark sein wie du? So ungeduldig? So fröhlich? So hilfsbereit? Zum zweiten haben wir Menschen stets die Wahl, was wir aus unseren angeborenen Talenten machen. Von allein wird niemand zur drudkvinde, das erfordert eine bewusste Entscheidung und eine lange, mühsame Ausbildung.

Halt, das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, Menschen haben stets die Wahl, aber wir Baumtöchter und –söhne haben eine freiere als andere Feensprösse. Uns fällt es recht leicht, das Erbe zu ignorieren, wenn uns niemand draufstößt oder wir uns ihm verwehren. So wie eine Dryade ganz im Inneren ihres Baumes verschwinden kann, dass der menschliche Betrachter nichts als einen gewöhnlichen Baum vor sich sieht, genau so kann auch ihr Erbe für immer unentdeckt im Inneren eines Menschen schlummern oder den Mitgliedern einer langen Blutlinie, bis endlich einer von ihnen auf einen geeigneten Lehrmeister stößt oder seinerseits einen ausfindig macht, der ihm hilft, sein Erbe zu entwickeln. Ein Satyr als Vorfahr zeigt sich da schon deutlich ungenierter, drängt sich doch gern einmal von allein in den Vordergrund. Dass du mit einer Berührung einen Verletzten von der Schwelle des Todes zurückholen kannst, wie deine Mutter vor dir, dafür danke dem Satyr in deinem Blut, denn der ist gar nicht gern allein. So leicht er seine kurzlebigen Liebschaften verlässt, wenn ihm der Sinn nach neuen Abenteuern steht, so ist doch seine größte Angst, dass andere ihn verlassen, er gar allein zurückbleibt! Droht ihm also eine, ihn zu verlassen, so klammert er sich fest an sie—erst recht, wenn der Tod sie holen will! Du siehst, selbst dieser frech-frivole Kerl hat dir so manches Gute hinterlassen!

In Taglingen also, so heißt man die Nachtkommen einer Tagfee, wirkt das Feenerbe so wie nämlich diese selbst: versteckt, unauffällig, indirekt. Nachtlingen dagegen fällt es wesentlich schwerer, ihre Erbschaft zu verleugnen, die nun einmal mehr als die unsrige darauf drängt, hervorzubrechen. Nachtlinge entwickeln ihre Talente oft intuitiv, ohne dass ein Lehrmeister sie ihnen beibringen muss, oft sogar ohne bewusste Anstrengung ihrerseits. Nicht gegen ihren Willen, niemals das, aber es reicht schon der leiseste Wunsch, das leiseste Nachgeben, ein Hauch Neugier, und ihre wahre Natur gelangt an die Oberfläche. Oft sind sie auch äußerlich auffällig, etwa dass sie 'Wolfsaugen' besäßen oder einen ungewöhnlichen Hautton, grünliches Haar oder spitze Ohren, lange Finger mit je vier Gliedern oder dergleichen. Deshalb werden viele von ihnen, wenn nicht gar die meisten, von ihren Vätern nicht anerkannt, das heißt je nach Sitte, dass man sie aussetzt, erstickt oder ertränkt. Das ist einer der Gründe, warum es so viel mehr Taglinge als Nachtlinge gibt.

Kommen wir zu dir und Tristan. Ach Kind, deine Augen sind ja plötzlich schreckensweit! Warum, weil deine Kinder nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Feenblutlinien in sich vereinen werden? Dryade, Satyr und Sirene? Macht dir das Angst? Denkst du darüber nach, wie schwierig es sein wird, diese drei Naturen in einer Brust zu vereinen, sie mit einander zu versöhnen? Wovon noch dazu zwei Kinder des Waldes sind, eines vom Hügelvolk? Letzteres dazu mit ersteren beiden im Widerstreit wie Nacht und Tag? Nun, leicht wird das gewiss nicht, aber von allen dreien bekommt es ja auch Stärken mit auf den Weg, die ihm wohl dabei helfen werden. Du hast gerade erst erfahren, dass Du von Feen abstammst[3], es ist alles so neu, so eigenartig, so befremdlich, wohl auch furchteinflößend. Halte dir nur immer vor Augen, dass es etwas ganz natürliches ist. Gaja hat es so eingerichtet, dass die Feen uns brauchen und wir sie und die Mutter selbst braucht uns beide."


Esja lauschend, kehrt Lîf mit ihren Gedanken immer wieder zum Gatten zurück und zu der Geschichte, die er ihr vor gut drei Monden in der Hochzeitsnacht erzählte, deren Sinn und Wahrheit sich ihr erst jetzt offenbaren. Sie hatte es damals für ein hübsches Märchen gehalten! Als Esja ihre Rede beendet und erst einmal schweigend sinniert, versucht Lîf sich möglichst genau daran zu erinnern, was Tristan ihr über seinen Vorfahren erzählte, der angeblich mit einem Kind von einer Insel auf dem Loch Leskos zurückkehrte, der 'Insel der Schwestern' (von der seit Menschengedenken noch keiner je zurückgekehrt sei, mit oder ohne Kind), und an die Prophezeiung, welche die Feenmutter ihrem Menschensohn mit auf den Weg gegeben hat, die man seither an jede Generation weitergibt: dass ihre Linie fortbestehen solle, solange der Erstgeborene jeder Generation das Lied der Schwestern erlerne, bei einem Versäumnis aber werde sie enden. Dazu eine zweite Vorhersage: in drei mal drei Generationen werde ihrer Linie ein Kind entspringen, dem die Feenmutter einen kleinen Teil ihrer Kräfte vermachen wolle. Aus seiner Kehle nämlich solle ein Gesang entsteigen so schön, wie die Menschheit ihn noch nicht gehört habe. Mit seinem Sang bezaubern werde er die Menschen von Dalaran, sie an den Herzen rühren, sie ausrufen lassen: 'Bei Gaja! Dass es so etwas schönes auf Erden gibt!'[4]

So, Sirenen sind das also, die drei Schwestern auf ihrer Insel im Nebel, und Tristan ihr Nachfahre! Der prophezeite? Ist er, und nicht die Mutter, das Kind, von dem seine Feenvorfahrin sprach?

Und klang das, was meine drei Ahnenfrauen mir erklärten, nicht auch wie eine Prophezeiung? Wie waren ihre genauen Worte? 'Du bist die, von der verlangt wird, dass sie der Ulme Versprechen einlöst.
Du bist die Sonne, von der die Große Mutter will, dass sie dem Mond Kinder gebiert.
Du bist der Tag, dein Bezwinger die Nacht. Doch so wie am Abend er dich verschlingt, verschlingst am Morgen du ihn du ihn du ihn.'


Also hat doch Gaja ihre Hand im Spiel, dass Lîf ihrem Tristan über den Weg und in die Arme lief, hat die Große Mutter ihr doch eine wichtige Rolle zugedacht? Wie, dem Gatten ein Kind zu gebären, mehr nicht?

'Also eigentlich ganz einfach, wie du siehst: mach weiterhin brav die Beine breit und lass dein finsteres Kraut weg—mehr verlangt niemand von dir.
Das kann man so ausdrücken, ich tät's aber nicht. Zwei Geschlechter sollt ihr vereinen, du mit ihm, die sich vor langer Zeit stritten und nun nicht mehr zueinander finden. Erst war es der Zorn, der sie trennte, dann der Stolz, dann der Hass, zum Schluss war's einfach so.
Aber muss es so bleiben so bleiben so bleiben?'


"Wieviele Kinder du in die Welt setzen möchtest, ist deine Entscheidung", rettet Esja ihre Schülerin aus diesen unschönen Gedanken. "Ich beispielsweise habe mich mit einer Tochter begnügt, was sich im Nachhinein als zu wenig erwies. Hätte Tristan dich nicht nach Jarlsö geholt und zu seinem Weib gemacht, hätte ich keine Nachfolgerin gehabt. Wir hier auf den Inseln tun uns schwer, jede Generation und jede Insel—jedes Dorf kannst du gleich vergessen!—mit einer drudkvinde oder einem drudmand zu versorgen, geschweige denn, dass wir wie auf Albion richtige Zirkel bilden können. Anders als dort oder auch dem Festland lebt bei uns nämlich keine einzige Dryade, die unsere Linien auffrischen könnte. Das, was wir auf Jarlsö Wald nennen, ist halt doch nur ein winziges Wäldchen, zu klein, als dass es einer scheuen Baumfee ein sicheres Versteck verspräche. Lebten hier Elben, sähe die Lage vielleicht anders aus. In deren Nähe fühlen Dryaden sich nämlich deutlich wohler als in der Nähe von Menschen, von denen sie sich möglichst fernhalten. Das liegt daran, dass Elben die Natur wesentlich besser verstehen als die meisten Menschen, oder vielleicht ist's auch ihre Langlebigkeit, die den Feen das Gefühl einer entfernten Seelenverwandtschaft gibt, obwohl auch die Elben bei weitem kein Feenalter erreichen. Jedenfalls fällen sie nicht allerorts und massenweise Bäume, zwecks Feuerholzes, und schon gar nicht alte, ehrwürdige, magische. Einem Elben könnte eine Dryade offen begegnen, mit dem Finger zeigen und sagen: 'Den Baum da lasst ihr mir in Ruh' und den und den und diesen hier auch!' und sich darauf sicher sein, dass er und ein jeder der seinen einen großen Bogen um die Genannten machen wird. In Nähe einer Menschensiedlung aber muss eine Dryade stets Angst um ihren Baum haben und um ihre Setzlinge."

An dieser Stelle unterbricht Esja ihre Rede mit offensichtlicher Mühe. Sie hätte wohl gerne noch weiter über die Elben erzählt und warum diese besser mit den Dryaden auskommen. Stattdessen holt sie tief Luft und kehrt zu Lîfs Ausgangsfrage zurück.

"Zu den Dryaden also. Dass sie in Bäumen leben, in einem der fünf mal fünf heiligen Arten, erzählte ich bereits gestern, auch dass zwölf von ihnen einem Kurzlebigen nur Töchter gebären, zwölf aber stets einen Sohn, während die Mistel macht, was sie will: mal wird's ein Sohn, mal eine Tochter, mal so recht keines von beidem, mal beides zugleich.

In einem Baum leben, wie muss man sich das vorstellen? Nun, die Dryaden verbringen nicht die ganze Zeit in ihrem Baum, das soll es nicht heißen. Sie können ihn jederzeit verlassen. Wenn sie zu ihm zurückkehren, verschmilzt ihr Körper mit ihrem Baum, vermischen sich seine Sinne mit den ihren, sein Empfinden mit dem ihren, und umgekehrt. Des einen Leben hängt von dem des anderen ab, so eng ist die Verbindung zwischen ihr und ihrem Baum. Fünfhunderfünfundfünzig Schritt und nicht einen mehr kann sie sich von ihm entfernen, ohne dass ihr furchtbar schlecht wird; fünf Tage getrennt von ihm und sie stirbt gewiss und er bald darauf. Du siehst, die Zahl fünf ist den Feen eine wichtige Zahl, genau wie bei uns, die zweitwichtigste aber ist, hier wie dort, die drei. Ein Zufall? Nein, uns sind diese Zahlen wichtig, weil sie den Feen wichtig sind, denn wir alle—also, Menschen mit unseren Kräften, die Gaja dienen—stammen von den Feen ab, genauer den Dryaden. Du als Ulmentochter stammst von einer Dryade ab, die in einer mächtigen alten Ulme lebte oder vielleicht dort noch lebt, denn eine Dryade wird so alt wie ihr Baum und ein Dryadenbaum etwas älter als ein Baum ohne Dryade. Ich dagegen bin eine Buchentochter, weil meine Vorfahrin in einer Buche lebte. Holundertochter, Lindentochter, Haseltochter, Lärchentochter... oder auch Eichensohn, Efeusohn, Fichtensohn, Eschensohn. Fünf mal fünf verschiedene Bäume gibt es—halt, nein, das sagte ich ja schon. Zwölf mit Töchtern... nein, das auch schon. Viele bleiben unentdeckt... das auch schon, herrje... die Kräfte müssen entwickelt werden, wozu man einen Lehrmeister braucht... davon war auch schon die Rede! Siehst du, das kommt davon, wenn man die Dinge nicht in der Reihe erzählt, in die sie gehören, sich von Zwischenfragen ablenken lässt, so wie Tristan sich in seiner Gesetzesrede von Elskes Frage hat ablenken lassen, dass er ganz durcheinander kam und seine Rede mit der Fridelehe enden musste statt, wie gewohnt, mit den Scheidungsgründen, wodurch der ganze Vortrag eine völlig andere Wirkung erzielte als sonst! So gingen die jungen Burschen mit geschwellter Brust davon, im Glauben, sie dürften sich alles herausnehmen, wie's ihnen gefällt, das Gesetz sei schon irgendwie auf ihrer Seite. Endet die Rede aber mit den Scheidungsgründen, von denen Mann wie Weib jeweils zwei zustehen, dann jagt dies den Burschen einen gehörigen Schrecken ein, der sie hoffentlich vor einigem Übermut wahrt... wie völlig anders schleichen sie sich dann vom Platz!"


Dies ist nun ein ungewöhnlich weiter Abweg, auf den Esja sich verirrt, und sie scheint von allein auch nicht so leicht auf den rechten Pfad zurückzufinden. Verblüfft blinzelnd hält sie daher inne und überlegt erst einmal, wo sie sein könnte, wie es sie dahin verschlug, in welche Richtung sie sich nun wenden müsse. Deutlich dunkler ist es in der Hütte geworden, fällt Lîf in der folgenden Stille auf. Nicht nur brennt das Feuer allmählich nieder, auch der Himmel, der sich lediglich in der geöffnete Dachluke über der Feuerstelle zeigt, eilt nächtlicher Schwärze entgegen. Esja blinzelt und reibt sich müde die Augen. Halb erwartet Lîf, nun hinausgeschickt zu werden, allenfalls mit dem Versprechen ausgestattet, dass Esja ihr morgen mehr erzähle, doch reißt sich die alte Heilerin noch einmal mit Macht zusammen und fährt fort, wenn auch nicht mehr so zusammenhängend und verständlich wie zuvor. Ihre Gedanken scheinen mal hierhin, mal dorthin zu springen.

Scheue, stille Wesen seien die Dryaden, die sich nach Möglichkeit versteckten, den nichts ahnenden Wanderer geschickt umleiteten. Auf den Geschlechtsakt ließen sie sich nur mit menschlichen oder elbischen Männern ein, niemals mit Zwergen, Riesen oder gar Kolkar. Weniger wählerisch seien sie, wenn es darum ginge, sich kurzlebige Helfer in der Nähe zu halten, welche, ihr gänzlich verfallen, alles für sie tun würden, vor allem natürlich sie bei ihrer Aufgabe unterstützen, mit roher Kampfkraft etwa, als zusätzliche Augen und Ohren, oder am Rande ihres Gebietes und darüber hinaus. Wie lange diese ihr dienen müssten, hinge normalerweise von der Schwere des Frevels ab, den sie selbst hatten begehen wollen, außer, die Dryade befände sich in einer derart bedrohten Lage, dass sie keinen ihrer Helfer entbehren könne und darum auch jenen, der sich seine Freiheit eigentlich schon verdient habe, noch nicht in diese entlassen könne. Von ihrem Baum—seltener als von Menschen oder Elben—ließen Dryaden sich auch bisweilen befruchten. In ihrem Haar wüchsen dann entsprechende Früchte heran, von der Art ihres Baumes, welche sie bis zur Reife und darüber hinaus, nämlich bis zur Keimung trüge. Dann suche sie für ihre Setzlinge günstige Standorte am äußersten Rand ihres Gebietes, oder wage sich gar kurzzeitig aus diesem heraus, und pflanze sie ein. Gingen die Setzlinge an und entwickelten sich zu jungen, kräftigen Bäumen, so seien sie die idealen Gefährten für ihre heranwachsende Tochter oder Töchter.

An dieser Stelle muss Esja wieder eine kurze Pause einlegen und zu Atem kommen. Nachtschwarz ist der Himmel inzwischen und draußen hört man erst vereinzelt, dann in Grüppchen, die Leute von der Thingstätte zu den Langhäusern zurückkehren. Einen letzten Punkt will Esja noch loswerden, nachdem sie eine ganze Weile stirnrunzelnd danach gesucht hat.

"Ach, genau. Auf dem Festland, wo du herkommst, nennt man unsereins genau wie auf Albion, nicht wahr? Druiden. Habe ich das schon so deutlich erwähnt? Dass alle Druiden von Dryaden abstammen? Falls du dich nun also fragst, ob die beiden Wörter, wenn sie einander schon so ähneln, auch etwas miteinander zu tun hätten. so kann ich dir dies leicht beantworten. Das Wort Druiden stammt ursprünglich aus der elbischen Sprache—auch wenn es dort und vor so vielen Jahrtausenden wohl noch etwas anders klang—und hieß tatsächlich nichts anderes als 'Dryadenkinder'. Als dann ein paar Jahrtausende später die ersten menschlichen Dryadenkinder auftauchten, wurden sie zunächst von den Elben ausgebildet und übernahmen auch deren Bezeichnung für sich. Die genaue Bedeutung ging verloren, wie sicherlich auch der ursprüngliche Klang, und deswegen heißt Druide für uns heute dasselbe, was wir auf den Inseln drudkvinde oder drudmand nennen: Weise Frau oder auch Weiser Mann."

Nachdem sie diesen wenig spektakulären Schlusspunkt gesetzt hat, sinkt die Alte erschöpft in sich zusammen und schließt die Augen.
 1. Das Värangsksche Wort für Fee, das Esja bislang auch benutzt hat, ist übrigens (en) huldre im Singular bzw. huldrer im Plural.
 2. Begriffsklärung zur Unterscheidung von echtem Feennachwuchs vs. solchem, die mehr von der Art des verwendeten Kurzlebigen sind:
echte Fee: Feenbrut, Feennachwuchs, Feenkind
Das braucht man eher selten, meistens sind die folgenden im Gespräch:
ein Teil Fee, ein oder x Teile Kurzlebiger, allgemein: Feenbalg; umschrieben: jemand mit Feenblut, Nachkomme einer Fee; ein Nachkomme, der seinem Erbe entsprechende übernatürliche Fähigkeiten manifestiert: Tagling bzw. Nachtling
Nachkommen von Dryaden: Baumtöchter/-söhne/-kinder; wenn ausgebildet auch: Druiden
Nachkommen von <Feenart>: <...>-spross, z.B. Satyrspross, Sirenenspross
 3. Oder hat die alten Heilerin in Fersland so etwas schon verlauten lassen? Wenn ja, dann wird sie sicherlich sehr davor gewarnt haben, so nahe der Bächländschen Grenze irgendetwas darüber verlauten zu lassen, dass man Druide sei/Baumtochter/magisch begabt/Feenspross...
 4. s. Tristans HG, "IV Das junge Glück", ab 5. Absatz.
« Letzte Änderung: 08.01.2018, 13:03:42 von Tristan »

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #89 am: 08.01.2018, 12:09:14 »
Während sie staunend den Worten Esjas lauscht, hat Lîf begonnen, der alten Frau nach Art einer guten Tochter die eiskalten Waden zu massieren und zu reiben, ist wohl zwischendurch auch ein-, zweimal aufgestanden, um ihr ein wenig heiße Brühe vom Feuer oder eine weitere warme Decke zu holen. So hat sie es schon für die Großmutter auf dem heimischen Hof getan, und so ist es Sitte bei ihren Leuten. Der Rotschopf, der hier außer Tristan keine Familie mehr besitzt, hat die alte drudkvinde unausgesprochen als die neue Großmutter akzeptiert. Und so versucht Lîf der Greisin all die kleinen Handreichungen zu machen, die einem alten Menschen das Leben erleichtern. Als es dunkel geworden ist, sitzt sie wieder zu Esjas Füßen, eine Decke um die eigenen schmalen Schultern geschlungen, und sieht mit einem tiefnachdenklichen Blick in die Flammen, die langsam aber sicher herunterbrennen. All das Gesagte schwirrt ihr durch den Kopf: Die Feen und ihre verschiedenartigen Nachkommen, die Dryaden, die Satyre und Sirenen mit ihren Eigenarten, Tristan und seine Herkunft – aber auch ihre Zuneigung zu ihm, der Wunsch nach Kindern, ihr immer wieder aufbegehrender Stolz, die Pflicht als Schülerin der Weisen Frau, ihre gemeinsame Zukunft mit dem Skalden, die Eltern und die Familie auf dem fernen Festland, das Leid und der Tod, die sie als Heilerin erlebt hat...

Sie lehnt ihre Wange gegen Esjas Knie und seufzt tief: "Es gibt so viel zu wissen in der Welt, und ich weiß so wenig, Mor!" Einer ihrer dicken, schweren Zöpfe gleitet wiederholt durch ihre schlanken Finger, sie streichelt die roten Locken geistesabwesend, während sie erklärt: "Ich möchte meine Pflicht erfüllen, Gayas Willen gehorchen und den Menschen gutes tun. Ich fühle, dass Sie mir so zu handeln befiehlt. Aber ich wünsche mir auch, glücklich zu sein – mit Tristan. Und meine Eltern wiederzusehen. Ich wünsche mir viele Kinder, gesunde, lachende Kinder, die zu meinen Füßen spielen... Und wenn ich ein altes Weib bin, möchte ich wissen, dass ich ihnen eine gute Mutter war. Ich möchte sehen, wie sie ihren Weg machen, wie meine Söhne kluge, angesehene Männer im Rat werden und meine Töchter tüchtige Weiber, deren Vorratskammern immer wohl gefüllt sind und auf die die Nachbarinnen neidisch schauen." Langsam wickelt sie den Zopf um ihr Handgelenk, fährt mit dem Daumen über das bunt gefärbte Band, das eingeflochten ist – in Farben, die mit ihrem roten Haar und dem Kopftuch wirkungsvoll kontrastieren, im ewigen Bemühen, die anderen jungen Weiber in einem freundschaftlichen Wettstreit um die Bestgekleidete auszustechen.

Irgendwann hebt sie den Kopf, schaut zu Esja auf und gesteht: "Ich frage mich, ob es mir überhaupt möglich ist, beides zu sein – eine gute Dienerin der Großen Mutter und ein glückliches Weib." Indem sie den Kopf schräg legt und die Stirn runzelt, die Lippen schürzt und ihren Zopf plötzlich loslässt, scheint ihr ein Gedanke zu kommen. Dann fragt sie eifrig, ohne an die Müdigkeit der Alten zu denken: "Mor, wie war das eigentlich, als du ein junges Weib warst? Hat die Große Mutter zu dir gesprochen? Wusstest du in deinem Herzen, was Sie von dir erwartet? Und was sagte dein Vater dazu? Hattest du auch einen Liebsten? War er ein schöner Mann, so wie Tristan?" Sie überschüttet ihre Lehrmeisterin ganz plötzlich mit ihren Fragen, als ihr klar wird, dass sie nicht die Einzige und schon gar nicht die Erste ist, die vor dem Dilemma steht, hin- und hergerissen zu sein zwischen Pflicht und Sehnsucht und den widersprüchlichen Seelen in ihrer Brust. Sie wird erneut für Momente zu einem sorglosen jungen Mädchen, als sie kichernd nachbohrt: "Sag schon: War er groß und kräftig gewachsen? Hat er dich entführt, oder bat sein Vater den deinen um dich? War er sanft zu dir? War er auch so leidenschaftlich, wenn er zu dir unter die Felle..." Sie stockt, scheint zu realisieren, dass sie sich ein wenig vergaloppiert und ziemlich viel von sich enthüllt hat, und verstummt verlegen. Lîfs Wangen laufen tiefrot an.

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