Die Stimmung in der zusammengewürfelten Runde war weiterhin von Misstrauen und Unsicherheit, was die Gegenüber betraf, geprägt, und so wollte sich kein richtiges Gespräch einstellen - außer einigen oberflächlichen Vorstellungsworten schien jeder vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein und damit, den Fremden nicht zu viel von sich preiszugeben. Nachdem auch Belendes Antwort auf Mugins Frage nicht mehr hergegeben hatte als das, was sie ohnehin schon wussten, entschloss man sich schließlich, das Etablissement zu verlassen und zunächst zum Lager der Karawane zurückzukehren, um Ameiko Bericht zu erstatten. Jehanna schloss sich den anderen dreien wie beauftragt an, ohne jedoch die genauen Hintergründe zu kennen, wegen denen diese Asvig Langmuskel suchten; und die anderen machten bisher auch keine Anstalten, sie darin einzuweihen.
Auf dem Weg zurück ins Knochenviertel hingen alle vier Gefährten vornehmlich ihren eigenen Gedanken nach. Garridan und Mugin waren vor allem unsicher, was Ameiko zu ihrer neuen Gefährtin sagen würde. War es ein Fehler, sie mit ins Lager zu nehmen? Schließlich wussten sie nichts von Jehanna außer einer kurzen Demonstration ihrer Kräfte und einer Empfehlung Belendes, von der sie ebenfalls nicht wussten, inwieweit sie ihr trauen konnten. Doch die Entscheidung war gefallen, und irgendwie mussten sie ja auf ihrer Suche vorankommen.
Als sie sich dem Lager näherten, war es das Eidolon, das als erstes spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und Mugin über ihre mentale Verbindung warnte. Mit erhöhter Aufmerksamkeit gingen die vier weiter ... und sahen nach wenigen Metern die Leiche einer der Karawanenwachen in einem Stapel Stoffe liegen!
Nun gab es kein Halten mehr, und das Eidolon rannte, vom den vier Gefährten dicht gefolgt, in das Lager hinein. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ allen den Atem stocken - auch Jehanna, die noch nicht hier gewesen war. Denn es war auf den ersten Blick ersichtlich, dass hier ein Überfall stattgefunden hatte. Mehrere leblose Körper lagen verstreut umher, einzelne Zelte waren umgeworfen, und Garridan und Mugin befürchteten schon, keine lebende Seele mehr vorzufinden, als plötzlich Koya in ihr Blickfeld kam, die tief über einen Koloss gebeugt war, der niemand anderer als Gorog sein konnte.
Als sie Schritte hörte, hob sie erschrocken den Kopf, doch ihre Miene hellte sich etwas auf, als sie Garridan und den Gnom erkannte. Dennoch glitzerten Tränen in ihren Augen und die Stimme der sonst so hart erscheinenden Seherin war brüchig, als sie die Ankommenden ansprach: "Sie kamen so schnell, plötzlich waren sie überall. Sandru und Shalelu haben Ameiko in Sicherheit gebracht. Gorog und Shuo haben sie hier aufgehalten, so gut es ging. Und Cliff hat das Siegel beschützt."
Erst jetzt erkannte Garridan die deutlich kleinere Gestalt des jungen Landsmannes von Arashi neben dem Halbork liegen, und bemerkten auch, dass einige der Leichen offenbar den Angreifern gehörten. Von Cliff jedoch war keine Spur zu sehen.
"Sie haben lange durchgehalten, aber irgendwann waren ihre Kräfte am Ende. Cliff hat sich gewehrt wie ein Löwe und war nicht vom Siegel zu treffen - dann haben sie ihn einfach in einen Sack gesteckt und mitgenommen. Die beiden hier sind übel verletzt, aber leben noch - ich kümmere mich um sie. Versucht, Cliff und das Siegel zurückzuholen! Sie sind gerade erst geflohen, können noch nicht weit sein. Dorthin sind sie gelaufen!"
Koya zeigte in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren, und sofort machten sich die drei Menschen, der Gnom und das Eidolon auf den Weg. Sie handelten instinktiv, auch wenn sie niemanden hier kannten, denn für alle war klar: Jetzt war nicht die Zeit für Fragen.
Solitaire hatte an einer nicht allzu belebten Ecke des Knochenviertels ein kleines Zelt aufgestellt, in dem sie gerade saß und einem Seemann aus Cheliax die Karten legte. Der Mann hatte ein Gesicht, das sie frappierend an eine Ratte erinnerte, und auch sonst war er ihr zutiefst unsympathisch, doch er hatte bezahlt, und so ließ sie sich ihre persönliche Antipathie nicht anmerken. Sie hätte sicherlich mehr Kunden anlocken können, hätte sie sich einen der belebteren Plätze ausgesucht; doch einerseits war es nicht unbedingt das Gold, was sie antrieb - sie hatte nicht das Ziel, mit ihrer Kunst reich zu werden - andererseits bot ein etwas abgeschiedenerer Platz auch eine okkultere Atmosphäre: Wie sollte man in die richtige Stimmung kommen, wenn draußen ein Marktschreier versuchte, den anderen zu übertönen?
Doch just in diesem Moment wurde auch an diesem Platz ihre Konzentration gestört, denn wie aus heiterem Himmel begann draußen eine glockenhelle Stimme wie am Spieß um Hilfe zu rufen. Geschockt über diese Störung benötigte Solitaire einen Augenblick, um aus ihrer Trance zu kommen, und fand sich dann bereits allein im Zelt zurückgelassen. Das Rattengesicht hatte offenbar das Weite gesucht, bevor er in irgendwelche Kämpfe hineingezogen werden konnte, die ihn nichts angingen. "Passt." dachte die Halbelfin, die sich durch das feige Verhalten in ihrer vorgefertigten Meinung bestätigt sah. Selbst schritt sie jedoch an den Zeltausgang und spähte nach draußen:
In der Straße waren mehrere vermummte Gestalten aufgetaucht, von denen einer eine Art Sack zu tragen schien, der jedoch hin- und herzuckte, und aus dem auch die Schreie zu kommen schienen. Sie zählte vier Personen, doch zu ihrem Erstaunen musste sie bemerken, dass die wenigen Passanten, statt zur Hilfe zu eilen, anscheinend alle bemerkt hatten, dass sie etwas Wichtiges zu erledigen hatten: Die Straße schien fast leer gefegt zu sein.
Doch konnte sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, ebenfalls untätig zu bleiben? Oder durfte sie hoffen, dass sich andere ihr anschließen würden, wenn sie einschritt?
Rumar Endan kehrte gerade von seiner morgendlichen Visite durch die ärmsten Straßen des Knochenviertels zurück - eine Tätigkeit, die ihn jeden Tag erneut mental und emotional auszehrte. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das schlimmste Leid zu lindern, doch tagein, tagaus die Armut, Krankheiten und das Elend aus nächster Nähe mitzuerleben, war immer wieder eine Erfahrung, von der er sich erst erholen musste. Ein einzelner Mann war nun einmal nicht in der Lage, alles Leid zu lindern, so sehr er sich auch mühte.
Hier war er kurz vor seiner Unterkunft in der Nähe der Handelskarawanen, und das Elend lag bereits ein Stück hinter ihm, auch wenn es immer noch nachwirkte. Er freute sich auf ein bescheidenes Mahl, um seine Lebensgeister wieder zu stärken, als er hinter sich schnelle Schritte hörte und einen Moment später von mehreren Gestalten überholt wird, von denen einer etwas schweres zu tragen schien. "Halunken" schoss es ihm sofort durch den Kopf, und nur einen Augenblick später wurde er scheinbar bestätigt, als eine Stimme begann, um Hilfe zu rufen. Hoffnungsvoll blickte er sich um, denn sicher würden einige der Passanten zu Hilfe eilen - doch zu seinem Entsetzen sah er sich umgeben von Feiglingen. Denn wo er auch hinsah, jeder schien nur damit beschäftigt zu sein, die Beine in die Hand zu nehmen. Sogar gegenüber von den Schurken sprintete ein Mann aus einem kleinen Wahrsagerzelt.
Wenn das der Zustand der menschlichen Gesellschaft geworden war ...