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Autor Thema: Die Zeit der Rache  (Gelesen 40136 mal)

Beschreibung: Eine klare Winternacht in Edo

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Hikomotō Mai

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Die Zeit der Rache
« Antwort #75 am: 15.12.2018, 20:16:52 »
Verwirrt schaute sie Mai um: "Haben wir es geschafft?", fragte sie mit schwacher Stimme. Es dauerte einige Augenblicke bis sie den Tempel erkannte. Erst dann wurde sie der Stimmen des Priesters und die der Soldaten draußen. Mühsam versucht sie sich aufzurichten und stöhnt vor dem dröhnenden Schmerz in ihrem Kopf.

Taris

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Die Zeit der Rache
« Antwort #76 am: 04.01.2019, 18:26:04 »
Der Priester reagierte nicht, sondern intonierte weiter die Worte zur Beschwörung des Geistes des verstorbenen Fürsten. Es dauerte nicht lange bis das schmerzverzerrte Gesicht in den Flammen und dem Rauch des Feuers, welches der alte Mann entfacht hatte, auftauchte. Erst jetzt wandte sich der Priester den beiden überlebenden Attentätern zu. Er setzte an, die beiden aufzufordern, ihrem Lehnsherren den Kopf des schändlichen Zauberers darzubieten, musste aber mitten im Satz abbrechen, weil es laut an der versperrten Tür des Tempels klopfte. Von draußen drangen laute Stimmen herein. Unzweifelhaft waren es die Männer des Kaisers, die die geflohenen Mörder suchten und ihnen bis hierher gefolgt waren. Ein Entkommen gab es nicht. Mai und Dokai hatten zwar getan, was die Ehre verlangte, aber es war doch gegen das Gesetz und auf Gnade brauchen sie nicht zu hoffen. „Fahrt fort“, rief Dokai dem Priester zu, während er sich von innen gegen die Tür stemmte, um die Wachen zumindest noch eine Weile am Eindringen zu hindern. Der alte Priester nickte und wandte sich der Witwe von Fürst Nishio zu. „Nun, Herrin, es ist an der Zeit. Ihr habt eurer Vorhaben fast vollendet. Zeigt euren Mann, dass ihr denjenigen zur Rechenschaft gezogen habt, der ihn ins Unglück stürzte.“ Hikomoto Mai tat wie ihr geheißen. Sie nahm den Kopf ihres Feindes aus dem mitgeführten Beutel und trat an das Feuer heran. Etwa einen Meter davor blieb sie stehen, ergriff das abgeschlagene Haupt mit beiden Händen und hielt es dann direkt vor die lodernden Flammen. Es dauerte nur einen kurzen Moment bis das geisterhafte Antlitz ihres Gatten bemerkte, was geschehen war. Die Gesichtszüge entspannten sich beinahe augenblicklich. Wo eben noch Qual und Schmerz über das eigene unverdiente Schicksal waren, traten nun eine ersichtliche Entspannung und Beruhigung. Der Witwe kam es für einen Moment sogar so vor, als würde ihr das Geistergesicht anerkennend zunicken. Binnen weniger Sekunden verblasste es bis es schließlich ganz verschwunden war. Mai schleuderte den Schädel, den sie bis dahin nach wie vor den Händen gehalten hatte, augenblicklich beiseite. „Es ist vollbracht“, sagte der Priester nun. „Ihr habt euer Vorhaben abgeschlossen. Ich glaube, dass der Geist eures Mannes nun Frieden hat. Was ihr für ihn getan habt, hätten in diesen Zeiten nicht viele versucht und noch weniger hätten damit Erfolg gehabt. Er kann sich glücklich schätzen, solch eine Frau und solche Gefolgsleute gehabt zu haben.“ Dann wandte sich der Mann ab. Allen war bewusst, was nun folgen würde.

Als es die kaiserlichen Wachen nach einigen Minuten gelang, die Tür des Tempels zu durchbrechen, fanden sie nur den Priester noch lebend vor. Mai, Dokai und Matsukura lebten aber noch viele Jahrzehnte später als leuchtende Vorbilder für den Ehrenkodex der Samuraikaste in unzähligen Geschichten weiter. Die Erzählung, wie sich die Fürstenwitwe mit zwei Getreuen an dem Mann gerecht hatte, der sie verunglimpft und ihren Mann in den Tod getrieben hatte, wurde oft herangezogen, um die Bedeutung und die Konsequenzen von bedingungsloser Pflichterfüllung zu verdeutlichen. Die drei Attentäter hatten zwar das Gesetz gebrochen und dies mit ihrem eigenen Leben bezahlt, aber sie hatten auch ihre Ehre wiederhergestellt und sich damit die Anerkennung ihrer Mitmenschen verdient.

 

Taris

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Die Zeit der Rache
« Antwort #77 am: 04.01.2019, 18:26:22 »
ENDE

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